Alle Beiträge von EmilHinterstoisser
Denken und Lieben
Es waren einst zwei Brüder, die hießen Ben und Ken. Sie entstammten der Künstlerdynastie Lieden. Ben und Ken teilten sich alles im Leben, und so beschlossen sie, auch ihren Familiennamen Lieden zu teilen. Ben übernahm Lie und Ken Den. Mit ihrem künstlerischen Talent zogen sie gemeinsam durch die Lande, und obwohl sie aus dem Norden Deutschlands stammten, waren sie vor allem im süddeutschen Sprachraum sehr beliebt. Im süddeutschen Sprachraum wird in der Alltagssprache der Familienname oft vor den Vornamen gesetzt, und so nannten sich die beiden zwecks besserer Vermarktung bald Lie Ben und Den Ken, schließlich ohne Leerzeichen Lieben und Denken.
Eines Nachts – sie waren wieder unterwegs und ruhten nach ihrem Auftritt im Hotel – hatte Ken einen Traum: Er bestand aus einem riesengroßen Kopf. Er hatte keinen Körper mehr, nur mehr einen riesengroßen Kopf. Unerträgliche Gedanken quälten seinen riesengroßen Kopf, und Ben schenkte ihm in dieser Unerträglichkeit eine riesengroße Mütze für seinen riesengroßen Kopf.
Am nächsten Morgen erzählte Ken Ben von seinem Traum, und Ben sagte: Dieser Traum macht Sinn. Deine Disziplin ist das Denken, meine das Lieben. Du denkst, also bist du, ich liebe, also bin ich. Du bist Denken, ich bin Lieben. Nach diesen Worten von Ben schwoll Kens Kopf an und wurde größer und größer und verschlang seinen Körper und machte sich daran, seine ganze Umgebung zu verschlingen. Mit unbändiger Kraft rollte der Riesenkopf über alles hinweg. Es schien sogar, als rollte er gnadenlos über Bens Liebe hinweg, aus Zorn über Bens Aussagen, die so hochnäsig und arrogant daherkamen für den verzweifelt denkenden Riesenkopf, doch wenn man aufmerksam schaute, mit Liebe sozusagen, sah man, dass sich Bens Körper mit einer unglaublichen Elastizität um Kens Kopf schlängelte, und so rollten und schlangen sich die beiden dahin, und am Ende sagten alle Beobachter einhellig, das sei der bisher beste Auftritt der Brüder gewesen, mündend in der Feststellung: Denken und Lieben, das sind zwei große Künstler!
Laubatio
eine Baumbegegnung im Herbst
Bäume, besonders die laubtragenden unter ihnen, sind sehr empfindsame Wesen. Sie registrieren, wenn Menschen freundlich zu ihnen sind. Da sie jedoch nicht sprechen können, gibt es von ihnen kein Lob, sondern Laub.
Im Herbst, wenn sie Bilanz ziehen über all die freundlichen Menschen, die an ihnen im Lauf des Jahres vorbeigezogen sind, halten sie, mangels Sprechvermögen, keine Laudatio, sondern eine Laubatio.
Ich kam in diesen Tagen zu dieser Ehre, als ich unter einer sich gelb färbenden Buche stand. Im leichten Wind ließ sie ein paar Blätter auf mich fallen, und ich sagte zu mir: Schön, dass ich das erleben darf, korrigierte mich aber sofort und sagte: Schön, dass ich das erlauben darf!
Hotel von hinten
Im Goldenen Land
Im Buchenwald
Im Buchenwald
dachte ich
an Buchenwald:
Der Großvater,
der Schuss der hallt.
Ich musst es tun,
sagt er,
sonst wäre ich
selbst gestorben,
und wusste nicht,
dass ich
durch den Schuss
selbst
gestorben bin.
Abgründe tun sich auf,
Verzweiflung, bittre Not.
Die Buchen stehen da,
schaun gütig auf die Welt,
sie suchen keine Schuld,
sie fürchten nicht den Tod.
Auszug aus dem deutschen Bildwörterbuch: Siedlungsformen
Am Gattengatter
ein Beitrag zur Me-Too-Debatter
Der Gatte steht am Gatter,
singt eine öde Ode.
Die Gattin steht daneben,
langweilet sich zu Tode.
Sie sagt: Das ist mir eine Öde,
zu zweit ist sie genauso blöde.
Im weiten Weiler will ich weilen,
nicht in der Streusiedlung, der steilen.
Und geht vom steilen Gatter weg,
den Gatten schert das einen Dreck,
singt weiter seine öden Oden,
kratzt sich dabei am linken Hoden.
Die Gattin kratzt sich nun im Schritt.
Begatten nimmt einen halt mit.
Sommeraufbäumen
Traumzeit
Dieser Mann beobachtet uns, sagte Josefine. Dieser Mann mit den dunklen langen Haaren und dem dunklen langen vollen Bart hatte eine Kurve um uns gemacht, dabei grüßend genickt und sich nahe von uns ins Gras gesetzt, zu nahe, wie Josefine fand, und nicht nur Josefine fand das, auch ich fand, dass er sich zu nahe zu uns ins Gras gesetzt hatte. Er saß nicht frontal zu uns, nein, ich würde sagen, er saß in einem Winkel von etwa fünfunddreißig Grad zu uns, doch wenn er seinen Kopf um fünfunddreißig Grad drehte, blickte er frontal zu uns, was er gerade tat, als ich zu ihm hinüberblickte, und so blickten wir uns kurz in die Augen, ehe er seinen Kopf drehte, in welche Richtung und um wieviel Grad weiß ich nicht mehr, jedenfalls drehte er ihn, um nicht mehr frontal zu uns zu blicken. Josefine hatte sich in der Zwischenzeit auf den Rücken gelegt und blickte zum Himmel, ich lag neben ihr und blickte auf ihren Körper, auf ihren Kopf, von dort auf ihren Hals, auf ihre Brust, auf ihren Bauch, ihre Arme und Hände, auf ihre Hüfte, auf ihre Beine und Füße, so als wollte ich mich überzeugen, dass sie es wirklich ist, als sie sagte: Ich möchte ein Vogel sein, worauf ich meinen Blick von ihren Füßen auf ihre Augen richtete, und bei diesem Blick in ihre Augen sah ich aus meinem Augenwinkel, dass der Mann, der uns beobachtete, seinen Kopf nun gerade zu seinem Körper ausgerichtet hatte, also um etwa fünfunddreißig Grad zu uns versetzt, seine Augen jedoch um diese etwa fünfunddreißig Grad zu uns gedreht hatte, und ich staunte, wieviele Drehungen der menschliche Körper imstande ist zu machen.
Was ist? fragte Josefine.
Er beobachtet uns. sagte ich.
Ich weiß. sagte Josefine.
Ich stand auf, ging zu ihm und sagte: Sie beobachten uns.
Ja, ich beobachte Sie, sagte er, und ich habe dabei Folgendes festgestellt…
Ihre Feststellungen interessieren mich gerade nicht, unterbrach ich ihn, ich komme gegebenenfalls später darauf zurück.
Ich ging zurück zu Josefine und legte mich wieder neben sie. Ich hatte das Gefühl, dass ich den Komplexitätsgrad der Beobachtungen nun verstand: Der Mann beobachtete uns, ich beobachtete ihn und Josefine, und Josefine fühlte sich beobachtet und beobachtete den Himmel und wollte ein Vogel sein, doch obwohl ihre Augen nur gen Himmel gerichtet waren, verriet ihr Blick, dass sie auch den Mann und mich beobachtete, durch ihre Haut, und die Härchen auf ihrer Haut stellten sich auf, so als wollte sie sagen: Kommt mir nicht zu nahe!
Aus meinem Augenwinkel sah ich, dass der Mann, der uns beobachtete, aufstand. Er machte wieder eine Kurve um uns und dann sagte er, nicht verbal, nein, nur in der Art, wie er blickte: Ich habe genug gesehen! Da lag ich also nun neben Josefine, und ich dachte, nun, wo der Mann nicht mehr da ist, der uns beobachtet hat, wird alles leichter sein, doch das Gegenteil war der Fall, alles war steif und schwer, meine Hand tapste hilflos Richtung Josefine, ohne sie zu erreichen. Mein Kopf sank ins Gras mit den Augen nach unten, während Josefine, die noch immer zum Himmel blickte, etwas sagte, das zwar sehr entfernt klang, das ich aber trotzdem verstand. Sie sagte, ihr sei kalt und sie habe Hunger nach etwas Warmem, Deftigem, und so gingen wir in die nahe Wirtschaft und bestellten zwei Würste, eine Wurst für jeden von uns, die zwischen uns auf einem Teller lagen, und Josefine aß zufrieden ihre Wurst und lächelte, während meine mir schon während dem Essen schwer im Magen lag, irgendetwas lag mir schwer im Magen, nicht nur die Wurst, vielleicht unsere Getrenntheit, ja, unsere Getrenntheit, obwohl wir uns so nah am Tisch saßen, tat sich eine Wand zwischen uns auf, und je kleiner ich die Wand machen wollte, desto größer wurde sie, eine dicke Wand aus Glas, durch die ich Josefine nur mehr undeutlich wahrnahm, und mich fröstelte und ich hörte Josefine noch sagen, dass es sie fröstelt, und dann war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob es Josefine war, die das gesagt hatte, alles war so fremd, und ich vermeinte, den bärtigen, dunkelhaarigen Mann am Nebentisch zu sehen wie er uns beobachtet und Josefine schämte sich, dass der Mann uns beobachtet, und in mir kam alles durcheinander, als es plötzlich von unten sehr warm wurde und es mich in die Höhe hob, nicht nur mich, auch Josefine, es hob uns über die Glaswand, und dort oben trafen wir uns, und ich wusste über alle meine Wünsche Bescheid und sie wurden wahr, und deshalb zweifle ich, ob es noch die Wahrheit war, die ich wahrnahm, oder nur ein schöner Traum.
Doch es gibt Aufzeichnungen zu diesen Begebenheiten, die ich Ihnen, lieber Leser, nicht vorenthalten möchte. Und seit diesen Begebenheiten glaube ich, dass jeder Traum wahrer ist als das, was ich oft versehentlich für die Wirklichkeit halte.
Aufzeichnung zu besagten Begebenheiten