Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Valentinstag (ist vorbei)

Ich wusste, es war Valentinstag, aber ich hatte keine Lust auf rote Rosen, wahrscheinlich, weil ich sie niemandem schenken wollte. Ich wollte ins Musäum des Karl Valentin gehen, was ich dann aber auch nicht tat, denn am Valentinstag ins Valentin-Musäum gehen fand ich doof, fantasie- und humorlos, sodass ich nicht ins Valentin-Musäum ging. Stattdessen hörte ich das Lied Valentinstag ist vorbei, was mir passend erschien, denn wieso sollte ich mich genau am Valentinstag mit dem Valentinstag beschäftigen? Ich hörte zehn Mal das Lied Valentinstag ist vorbei, vielleicht sogar elf Mal, ich begann zu hören um 18:45 Uhr und hörte auf zu hören um 19:29 Uhr, also müsste ich das Lied zwölf Mal gehört haben, ich glaube aber, ich habe es nur elf Mal gehört, weil ich zwischen dem Hören in die Küche gegangen war, um ein Glas Wasser zu trinken, wo ich aus dem Fenster sah und eine Amsel vor jenigem sitzen sah und sie eine zeitlang betrachtete, also kann ich, bei eingehender Betrachung nicht nur der Amsel, sondern der Gesamtsituation im Hinblick auf den zeitlichen Aspekt, das Lied nur elf Mal und nicht zwölf Mal gehört haben, vielleicht habe ich es sogar nur zehn Mal gehört, je nachdem, wie lange ich die Amsel vor dem Fenster betrachtet habe, was ich mir jedoch nicht notiert, geschweige denn gemerkt habe.

Um 19:29 Uhr machte ich jedenfalls einen Schnitt und hörte auf, das Lied Valentinstag ist vorbei zu hören, und dann, nachdem ich zu hören aufgehört hatte und Stille im Raum war, kam mir die Idee, etwas über Leute zu schreiben, die 1929 geboren sind und überlegte, welche Leute ich kenne, die 1929 geboren sind, und mir fielen keine solchen Leute ein. Es könnte sein, dass ich solche Leute mal gekannt habe, dass sie aber mittlerweile gestorben sind, ja, das ist eine sehr wahrscheinliche Tatsache, und Tote, kennt man die noch, oder sind sie nicht nur aus dem Leben, sondern auch aus der Kenntnis entschwunden?

Mitten in diese Überlegungen hinein erinnerte ich mich, dass einst – damals zu meiner völligen Überraschung – Milan Kundera und Max von Sydow durch den Ort im Alpenvorland spazierten, in dem ich aufgewachsen bin. Es war noch Winter, als ich sie dahinspazieren sah am Fluss, aber der Frühling schien nahe, und Max sagte zu Milan: „Es ist schön hier, am Fluss mit dem Blick auf die Berge, im Licht der stärker werdenden Sonne. Da will ich gar nicht an den Tod denken, obwohl ich schon Schach mit ihm spielte.“ „Ja“, sagte Milan daraufhin, „der Spaziergang hier am Fluss entlang lässt mich die Schwere vergessen, die das Leben haben kann, und ich will dieses Gefühl Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins nennen.“ Milan Kundera und Max von Sydow sind 1929 geboren, also kenne ich zumindest zwei Menschen, die 1929 geboren sind, und nicht irgendwelche Menschen, sondern Milan Kundera und Max von Sydow! Mehr Worte will ich über diese Begegnung gar nicht verlieren, denn es ist nicht originell, über Personen zu schreiben in dem Jahr, in dem sie neunzig Jahre alt werden, genauso wie es nicht originell ist, am Valentinstag über Karl Valentin oder rote Rosen zu schreiben.

Ich lief damals aufgeregt nachhause, um meinen Eltern von meiner Begegnung mit Milan Kundera und Max von Sydow zu erzählen, denn es war eine wichtige Begegnung für mich, weil ich nach dieser Begegnung beschloss, entweder Schriftsteller oder Schauspieler oder beides zu werden. Als ich nachhause kam, stand mein Vater mit roten Rosen vor meiner Mutter. Meine Mutter kokettierte damit, sie entgegenzunehmen und sagte zu meinem Vater: „Gestern habe ich dich mit einer anderen gesehen. Wer war denn das?“ „Das war meine ehemalige Zukünftige“, sagte mein Vater, und ich glaube, diese Worte hatte ihm der Valentin in den Mund gelegt.

Valentinstag ist vorbei (10x hören oder öfter)
Milan Kundera
Max von Sydow

Professor Bernd Dachluke, die Rage, die Rasche und die Frankophilie

Professor Dr. Bernd Dachluke, nach dem die heute bei Dachausbauten so beliebte Dachluke benannt ist, war zu seinen Lebzeiten ein bedeutender Architekt. Außerdem war er ein Förderer der deutschen Kultur und der deutschen Sprache.

Bernd Dachluke

In den Tagen, in denen unsere Geschichte spielt, war Professor Dachlukes Frau Beatrix hochschwanger. Er dozierte gerade an der Universität und hielt einen Vortrag über das Hochhausprojekt, an dem er arbeitete. Er sagte, das geplante Hochhaus werde eine Rage von über hundert Metern haben. Da unterbrach ihn ein Student und stellte ihm zwei Fragen:

„Herr Professor: Haben Hochhäuser Emotionen, sodass sie in Rage kommen können? Wenn ja, kann man diese Emotionen tatsächlich in Metern ausdrücken, wie in ihrem Fall, eine Rage von über hundert Metern?“

„Ich spreche nicht von der Rage, Sie frankophiler Mensch! Die schreibt man zwar gleich, spricht sie aber anders aus“, antwortete der Professor, „nein, ich spreche vom architektonischen Begriff Rage, mit der das Hochhaus von der Erde in den Himmel ragen wird. Es wird der überragende Baukörper in dieser Stadt werden! Ach, was sage ich in dieser Stadt: in diesem Gau, in diesem Land!“

In diesem Moment betrat eine Sekretärin den Vortragssaal und bedeutete dem Professor mit ihren Blicken, dass er sofort kommen solle. Professor Dachluke wusste augenblicklich, was das zu bedeuten hatte, und es platzte aus ihm heraus: „Oh, zu meiner Beatrix kommt der Storch! Ich bin in Rasche!“

Da meldete sich der Student von eben wieder und sagte: „Herr Professor, ich bin verwirrt: Zuerst das emotionale Hochhaus, dem Sie seine Rage nicht zugestehen – und nun sind Sie selbst in Rage.“

Ach, hören Sie auf mit Ihren Wortklaubereien, junger Mann. Sie sind wohl ein Franzose, dem man das Deutschsein noch beibringen muss. Ich bin in Rasche! Es eilt! Ich muss sofort ins Krankenhaus!“ Und mit diesen Worten stürmte Professor Dachluke aus dem Saal.

Auf dem Weg ins Krankenhaus dachte er:
Also – wenn meine Frau Beatrix dieses Kind auf die Welt bringt, wird es sehr deutsch erzogen! Denn die deutsche Kultur muss gepflegt werden! Das habe ich gerade an meinen Studenten festgestellt, die zu stark den frankophilen Einflüssen unterliegen. Das soll bei meinem Kind nicht passieren!
Wie ich diese deutsche Erziehung am besten bewerkstellige, das werde ich mir in aller Ruhe beim Angeln überlegen: Petri Heil!

Künstlerische Reaktion auf Bernd Dachlukes Hochhaus, das tatsächlich gebaut wurde:

Kronendorne

Ich rede zu viel von meinem Gefängnis, sagt Vorderbrandner, so werde ich ihm nie entkommen. Ich halte mich an ihm fest. Der Kopf will Neues, das Herz hält an Altem fest, auch wenn es daran zugrunde geht. Ich sehe die Gefängnisse anderer, weil ich selbst in einem bin. Nur weil ich selbst in einem bin. Nur wer im Gefängnis ist, sehnt sich danach, frei zu sein. Wer nicht im Gefängnis ist, weiß gar nicht, dass er frei ist. Er ist einfach frei, ohne es zu wissen. Warum sollte er es wissen wollen? Warum sollte er es wissen müssen?

Das Fatale: Ein gefangener Mann wie ich, sagt Vorderbrandner, verliebt sich nur in gefangene Frauen. Die Gefangenheit zieht mich magisch an, sagt Vorderbrandner. Je unfreier die Frau, desto mehr verfalle ich ihr. Je mehr bürgerliche Verklemmtheiten ich an ihr beobachte, desto mehr begehre ich sie. Desto mehr muss ich sie haben. Desto mehr träume ich von den lustvollen Gärten hinter diesen Verklemmtheiten. Aber diese Gärten sind zu fern, als dass ich sie jemals erreichen könnte. Weil ich sie nicht erreichen will. Weil ich mich in meinen eigenen Gärten verstecke und dabei verrückt werde bei meinem Kreisen um mich selbst.

Ich setze meine Kronendorne auf und höre ein Lied in meinem verklemmten Gefängnisgarten, als Ausdruck meiner unerfüllten Sehnsucht, als Ausdruck der Verklemmung, dem Gefängnis. Dieses Lied trägt meine Mischung aus Trauer, Zorn und Lust. Wenn ein Bild mehr aus tausend Worte sagt, sagt ein Lied mehr als zehntausend Worte:

Kronendorne

Oh oh  Oh oh  Oh oh  Oh oh

Du gehst mir durch Mark und Bein
Du gehst mir durch Mark und Bein
Du glaubst du bist ein Gemüse
Kommst niemals aus deinem Kühlschrank
Uuuh

G-G-G-Gurke
K-K-K-Kraut
B-B-B-Blumenkohl
Menschen auf dem Mars
Aprilregen
Oh oh  Oh oh

Du bist eine sterbende Rasse
Du bist eine sterbende Rasse
Einst warst du ein Inka
Jetzt bist du ein Cherokee
Uuuh

G-G-G-Gurke
K-K-K-Kraut
B-B-B-Blumenkohl
Menschen auf dem Mars
Aprilregen

Schlag zu! Schlag zu!

Au Huh Au Huh Au Huh Au Huh

Wart auf mich am blauen Horizont
Blauer Horizont für jeden
Warte auf mich an einem neuen Horizont
Neue Horizonte für jeden

Einmal will ich eins mit dir sein
Einmal will ich eins mit dir sein
uh uh uh uh uh

A-ah A-ah A-ah A-ah

Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Innen außen   zurück nach vor
oben unten   einmal rundherum
herum herum herum

Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Oben unten   innen außen
zurück nach vor   einmal rundherum

Nach unten  nach unten  nach unten  nach unten
Untenuntenuntenuntenuntenuntenuntenunten
Untenuntenuntenuntenuntenuntenuntenunten

Huuuhh

Dann nehme ich meine Kronendorne wieder ab. Ich kehre zu mir zurück, sagt Vorderbrandner, und mache mich daran, meine Freiheit zu erobern, abseits der verklemmten Schönheit. Schluss mit der fatalen Schwärmerei! Raus aus dem Gefängnisgarten! ICH BIN FREI, ALLES IST MÖGLICH!

Reiner Felix und die Erfindung des Referats

Es war einmal ein Mann, der hieß Reiner Felix. Sein älterer Bruder Heiner Felix, den alle Hefe nannten, nannte Reiner Felix Refe. Reiner und Heiner Felix hatten noch einen jüngeren Bruder namens Kleiner Felix, aber das nur nebenbei.

Reiner Felix stand oft an der Straße. Es war wie ein Hobby für ihn. Als er eines Tages wieder an der Straße stand, kam jemand vorbei und sagte: Ich möchte über die Straße gehen. Reiner Felix antwortete: Dann gehst du über die Straße! Kurz darauf kam jemand anderer vorbei und sagte: Ich möchte nicht über die Straße gehen. Reiner Felix antwortete: Dann gehst du nicht über die Straße! Reiner Felix hatte Spaß daran, den Leuten zu sagen, was sie tun sollen. Es gewöhnte es sich an, allen, die vorbeikamen, einen Rat zu geben.

Es kam auch der Lehrer vorbei, den alle Quälix nannten. Lehrer Quälix sah, wie Reiner Felix allen, die vorbeikamen, einen Rat gab. Toll, dachte sich Lehrer Quälix, wie der allen einen Rat gibt! Er ging zu Reiner Felix und fragte ihn, was für einen Rat er denn den meisten Leute gebe.
Den meisten sage ich, dass sie über die Straße gehen sollen oder dass sie nicht über die Straße gehen sollen, sagte Reiner Felix.
Toll! sagte Lehrer Quälix und meinte weiter: Könnten Sie mit mir in die Schule kommen und den Rat auch meinen Schülern geben?

Irritiert ging Reiner Felix mit Lehrer Quälix in die Schule. Dort stellte sich Lehrer Quälix vor die Klasse und sagte: Dieser Mann wird uns nun etwas sagen über das Überdiestraßegehen. Ach, guter Mann, wie heißen sie eigentlich? wandte er sich an Reiner Felix.
Reiner Felix, aber mein Bruder Heiner Felix, den alle Hefe nennen, nennt mich Refe.
Die Schüler lachten.
Lehrer Quälix unterband das Lachen, indem er laut zu Reiner Felix sagte: Gut, Refe, leg los!

Reiner Felix räusperte sich kurz, dann stieg er in seinen Vortrag ein:

Über das Überdiestraßegehen

Beim Überdiestraßegehen gibt es folgende Möglichkeiten: Entweder man geht über die Straße oder man geht nicht über die Straße. Man kann jedoch auch sowohl über die Straße gehen als auch nicht über die Straße gehen, indem man zunächst über die Straße geht, dann jedoch, wenn man auf der anderen Seite der Straße angelangt ist, nicht mehr über die Straße geht.

Danke Reiner Felix, danke Refe, danke! sagte Lehrer Quälix und applaudierte. Dann wandte er sich an die Schüler: Liebe Schüler, dieser Vortrag von Reiner Felix soll ein Vorbild für euch sein. Den Rat, den er uns darin gibt, will ich künftig auch in euren Vorträgen sehen!

Die Schüler hatten sich lediglich gemerkt, dass Reiner Felix von seinem Bruder Heiner Refe genannt wird, und nannten fortan die Vorträge, die sie bei Lehrer Quälix halten mussten Referat, also Rat nach Reiner Felix.

Reiner Felix (gespielt von Georg Stürzer) beim Referat

…Untermann…

Die Nächte voll quälender Unruhe. Jede Nacht der Fall ins Bodenlose. Oleg surft davon auf dem wilden Wasser, während ich in die schwarzen Fluten des Atlantiks stürze. Schweißgebadetes Aufwachen vor dem vermeintlichen Ertrinken.

Ich hatte mich aufgerappelt, aber ich stand in der Ecke wie ein Mauerblümchen. Völlig geschafft von diesen geträumten nächtlichen Abstürzen. Ich war kurz davor zu gehen. Da spürte ich die bewundernden Blicke von Jannick auf mir. Kokett blickte ich zu ihm auf. Wie schön, bewundert zu werden! Er näherte sich mir. Nein, komm mir nicht nahe! Nein, lass mich in Ruhe! – Doch! Komm her! Komm her! Ich lächelte ihn an. Er kam zu mir, ganz nah zu mir. Er gefiel mir. Mein Gott, er war jung! Noch keine zwanzig, oder gerade mal so. Jannick redete, aber ich nahm das nur undeutlich wahr. Ich wollte nur, dass er mich erlöst. Ja, Jannick, sei mein Erlöser!

Als er mich am nächsten Morgen verließ, war sein Rücken voller Kratzer, so fest hatte ich mich an ihn gekrallt. Ich hielt mich fest an ihm. Ja, durch Jannick würde dieses Fallen ins Bodenlose aufhören, dieses allnächtliche Ertrinken im Strudel meiner Gefühle. Wir trafen uns wieder und wieder und wieder. Jannick wurde mein neuer Oleg. Nein, Jannick ist nicht mein neuer Oleg! Bei Oleg taumelte ich. Bei Jannick stehe ich fest. Bei Jannick habe ich die Kontrolle. Ich habe die Reife. Ich habe das Geld. Ich habe die Macht. Er hat den Schwanz, über den ich herrsche.

Aber da ist die Geschichte mit Emil. Emil spricht von seiner Übermutter und davon, dass er ihretwegen kein normales Verhältnis zu Frauen aufbauen könne. Ich kann mit dem, was er sagt, nichts anfangen. Ich bin doch eine Frau, und er redet ganz normal mit mir, die ganzen Jahre, die wir uns mittlerweile schon kennen. Er verwirrt mich. Ich fühle mich bedroht. Er ist nämlich ein Mann. Ein gefährlicher Mann!

Mit Emil, das hat so angefangen: Ich fühlte mich sehr entspannt an jenem Abend. Ich war in die Sauna gegangen. Da saßen wir auf unseren Handtüchern und schwitzten, nur er und ich in der Kabine, und lächelten uns an. In der Dusche, im Ruheraum, im Gang: Unsere Blicke trafen sich immer wieder. Schließlich stieg ich wie eine Meerjungfrau vor ihm ins Warmwasserbecken und räkelte mich darin. Er kam zu mir, und ich sprach ihn an.
Künstlerin? fragte er.
Ja! sagte ich.
Künstler sind verlorene Seelen, sagte er. Wir sind zwei verlorene Seelen, die im Wasser schweben.
Wir zwei schwebten im Wasser. Freiheit! Er sagte, er werde nun ins Dampfbad gehen, und ich sagte: Ich auch! Im Dampfbad räkelte ich mich auf den Fliesen. Als ich das Dampfbad verlies, wurde mir klar, dass ich rausmuss aus dieser Nummer. Er aber passte mich in der Umkleide ab und fragte, ob wir nicht noch gemeinsam ins Café gehen nebenan. Ich zierte mich. Wir schlenderten vor die Tür. Er reizte mich. Mit seiner gelassenen Beharrlichkeit. Schließlich willigte ich ein. Ich kann mir diese Einwilligung nur so erklären: Wir waren jetzt angezogen. Die Nummer war nicht mehr so heiß wie in der Sauna, als wir beide nackt waren.

Ich merkte, wie er mich verliebt ansah, als wir am Tisch saßen. Ich merkte, wie toll er es fand, dass ich Künstlerin bin. Zwei verlorene Seelen, die sich gefunden haben. Mitten in seine Euphorie hinein erwähnte ich Jannick. Ich schob Jannick als Riegel zwischen uns. Jannick als Stoppschild gegenüber anderen Männern. Die meisten von ihnen ziehen sich dann zurück, wenn sie merken, dass nichts geht. Emil aber zog sich nicht zurück. Zwar meldete er sich wochenlang nicht. Dann aber plötzlich und unerwartet. Ich merkte, wie ich mich freute, dass er sich meldete. Wir trafen uns immer wieder, im Abstand von Wochen, manchmal im Abstand von Monaten. Halbe Nächte lang saßen wir beisammen und redeten und redeten. Er sagte, es wäre doch gut, dass wir beide einen Partner hätten, so wäre das ganze unbefangener, und ich versuchte ihm zu glauben, aber ich glaubte ihm nicht. Ich vermisste etwas bei unserem Gerede, eine Berührung, einen Kuss, aber gleichzeitig fürchtete ich mich davor, vor einer Berührung, vor einem Kuss. Ich hatte das Gefühl, eine Berührung, ein Kuss, könnte meine ganze Welt ins Wanken bringen.

An einem schönen Frühlingstag verabredeten wir uns im Park. Ich trug ein tiefes Dekolleté. Das wurde mir erst bewusst, als wir uns gegenüberstanden und er es betrachtete. Was will ich eigentlich von ihm? Was will er von mir? Wir setzten uns ins Gras. Dann streckte er sich und legte sich hin.
Leg dich doch auch hin! sagte er.
Nein, nein! sagte ich: Ich bleibe lieber sitzen!
Viel zu gefährlich, dachte ich, sich neben ihm ins Gras zu legen. Viel zu gefährlich mit ihm, alles, sowieso, dachte ich plötzlich. Wie hatte ich ihn nur so anmachen können damals in der Sauna!

Er lag im Gras und redete von den Blumen neben uns und dem Himmel über uns und plötzlich ertappte ich mich dabei, dass ich mich neben ihn ins Gras gelegt hatte.
Er schaute zum Himmel und sagte: Vera und ich haben uns getrennt. Ich will mein Leben endlich in meine eigenen Hände nehmen, und ich habe das Gefühl, dass ich das mit ihr nicht schaffe. Dann schaute er mich an und meinte: Durch dich, Liliane, habe ich gemerkt, dass ich, wenn ich eine Frau will, erst ein Mann sein muss.

Ich schreckte hoch. Jetzt brachen die Dämme, und die schwarzen Fluten über mich herein. Er redete weiter: Der erste Schritt in mein neues Leben ist, ehrlicher zu sein. Ehrlicher zu mir selbst. Ehrlicher zu anderen. Und deshalb, Liliane, sage ich dir jetzt, was ich gerade denke. Deshalb sage ich dir jetzt, dass ich dich berühren, dass ich dich küssen will.

Nein! Nein! Jetzt ging er zu weit! Was erlaubt er sich? Warum berührt und küsst er mich nicht einfach? Was labert er da herum? Männer sind Alphatiere, die sich nehmen was sie wollen und reden nicht davon. Nein! Nein! Ich will nicht, dass er mich berührt und küsst! Die schwarzen Fluten stürzten auf mich ein. Ich begann zu zittern. Oleg! Oleg! rief alles in mir. Ich liebe dich doch noch immer! Vater, du Schuft, so hilf mir doch! Jannick! Ja, Jannick, ich muss zu dir! Rette mich! Ich stand auf und rannte weg, ich rannte so schnell ich konnte. Die Wiese so grün und der Himmel so blau, doch um mich herum nur schwarze Fluten. Ein Schluchzen in mir, dass die ganze Umgebung erfasste und alles fortriss und ich konnte nicht anders und weinte und weinte und weinte…

Er und Sie (Einführung in ein postdramatisches Drama)

Zunächst sind zwei bittere Wahrheiten zu nennen, die Er Ihr nicht ersparen kann, wobei das nur Prämissen von Ihm sind, dass es sich um Wahrheiten handelt, die Sie nicht hören will: Sie hat an diesem Abend zuviel geredet und zuviel getrunken. Findet Er jedenfalls.

Sie hatten vor diesem Abend und auch danach kein Verhalten gezeigt, dass sie, um es traditionell auszudrücken, für andere als Paar erkennbar gemacht hätte, beziehungsweise, um es moderner auszudrücken, man konnte keine Intimitäten zwischen ihnen feststellen, man hatte so etwas nicht gesehen, einen Kuss oder eine sonstige Berührung, die man als intim bezeichnen könnte, und Er sagt, darauf angesprochen, dass diese Beobachtung der vollen Wahrheit entspricht, während Sie, darauf angesprochen, ein Lächeln zeigt, dass man als kokett bezeichnen könnte, und dieses Lächeln stellt natürlich die eben aufgestellte Wahrheit wieder in Frage.

Jedenfalls hat Sie, wie Er sagt, zuviel geredet an diesem Abend und dabei zuviel getrunken. Was zuerst geschah, das Reden oder das Trinken, könne er nicht mehr mit Sicherheit sagen, wahrscheinlich geschah es gleichzeitig und hat sich gegenseitig hochgeschaukelt. Sie hat dann geredet über die Rolle des klassischen Dramas im modernen Theater und sich dabei so verheddert, dass Sie in immer kürzeren Abständen zwischen ihrem Reden trank, was ihr Reden zugleich beschleunigte und entschleunigte, denn ihr Reden wurde schneller aber auch repetitiver, was es Ihm einerseits schwerer machte Ihr zu folgen, aber auch leichter, denn hatte Er etwas nicht verstanden, konnte Er sicher sein, dass Sie es nach drei, spätestens nach vier Sätzen wiederholen würde.

Bei ihrem Reden und Trinken und seinem Zuhören waren sie in fremden Räumlichkeiten, sodass der Gastgeber der Räumlichkeiten sie zu später Stunde – der Gastgeber sagt, es war eher zu früher als zu später Stunde, denn er meinte, Vogelgesang vor der Tür gehört zu haben, aber das nur nebenbei – dass der Gastgeber sie also vor seine Tür komplementierte, und da standen sie nun, Er und Sie, vor der Tür, und Sie redete weiter und fragte, was man dieser Situation vor der Tür nun an Dramatischem abgewinnen könne? Ihm fiel in diesem Moment die klassische Zuspitzung jedes Dramas ein, die da heißt: im Zweifelsfall küssen, und da Er sich in diesem Moment nicht als Dramaturg, sondern als Darsteller begriff, folgte Er diesem Einfall und presste seine Lippen heftig an ihre, was Sie mit ebenso heftigem Pressen an seine erwiderte, und so entstand eine dramatische Situation, die man als leidenschaftlichen Kuss bezeichnen kann, begleitet von gegenseitigem Umschlingen und Berühren mit Armen und Händen.

Halt! Halt! sagte Sie dann. Ja, Er erinnert sich genau, denn Er war erstaunt über ihre Klarheit und Nüchternheit, die Er nicht erwartet hatte: Halt! Halt! sagte Sie: Das ist viel zu banal! So was kann man heute nicht mehr bringen! Einfach so küssen, das geht doch nicht! Sie riss sich von Ihm los und verschwand in der Kühle der frühen Stunde, ja jetzt kann Er sich erinnern, es war die Kühle der frühen und nicht die Hitze der späten Stunde, und Er fragte sich, ob es dramaturgisch besser gewesen wäre, den Kuss zurückzuhalten und stattdessen der Sehnsucht nach dem möglichen Kuss zu verfallen, um das Drama weiter zu erhöhen. Andererseits, Gerede in Dauerschleife hat keine Dramaturgie, sondern höchstens etwas Ermüdendes.

Ihn ergriff eine große Zufriedenheit, sagt Er, eine Zufriedenheit darüber, dass dieser Kuss nun im Raum steht, in diesem Raum der unendlichen Möglichkeiten, in dem sich dieser Kuss als konkretes Ereignis manifestiert hat. Denn man kann sich leicht verlieren in diesem unendlichen Raum der Möglichkeiten, wenn man nicht das tut, was getan werden muss, zum Beispiel, dass Er und Sie sich küssen. Eine Wahrheit, die Er nun nicht mehr missen möchte.

Die Tochter meiner Frau

Jakob ist mein zwölf Jahre alter Sohn. Jedes zweite Wochenende verbringen wir beide schöne Stunden, wie ich es nenne. Gerade neigen sich diese schönen Stunden wieder einmal dem Ende zu. Wir sind unterwegs zu Jakobs Mutter Paula. Paula war vier Jahre lang meine Lebensgefährtin. Als Jakob zwei war, trennten wir uns. Paula hatte gemeint, wir sollten uns trennen, weil sie meine Passivität nicht mehr aushält. Sie will einen Mann, keinen Waschlappen, sagte sie. Ich habe das widerstandslos hingenommen, weil mich Paulas Temperament ohnehin überforderte.

Als wir ankommen, öffnet uns Paula mit feuchten Augen die Tür. Jakob verdrückt sich gleich in sein Zimmer. Es schmerzt mich jedesmal, mich von ihm zu verabschieden. Es schmerzt mich immer mehr, weil ich weiß, dass er immer größer wird, und in nicht allzu ferner Zukunft ist er kein Kind mehr, sondern ein Pubertierender. Ich stehe etwas ratlos in der Tür und sehe in Paulas feuchte Augen.

„Guck nicht so!“ sagt sie: „Ja, ich habe gerade geweint. Stell dir vor!“
„Was ist denn los?“ frage ich unbeholfen.
„Lilly hat sich gerade mal wieder wutentbrannt aus dem Staub gemacht. Sie redet nicht mehr mit mir; will zu ihrem Vater ziehen; aber der will keinen Kontakt zu ihr. Ist ihm zuviel. Sagt er.“

Lilly ist die siebzehnjährige Tochter Paulas aus ihrer Beziehung vor mir.

Ich stehe weiter ratlos in der Tür und mache ein betroffenes Gesicht.
„Mach nicht so ein betroffenes Gesicht!“ sagt Paula. „Ich weiß, dass du nichts tun kannst und nichts tun willst. Genauso wie damals, als wir zusammen waren. Der große Schweiger und alle Last auf mir!“

Paula macht eine Pause, um sich zu sammeln und durchzuschnaufen. Dann fragt sie: „Wie ging’s Jakob die zwei Tage mit dir?“
„Gut.“
„Gut? Gut! Natürlich! Habt ihr eure schönen Stunden verbracht, und jetzt bringst du ihn mir wieder, damit ich den Alltagsdreck erledige.“
Ich stehe in der Tür und fühle mich wehrlos gegenüber dem, was von Paula auf mich einprasselt.
Paula fährt fort: „Ich habe das Gefühl, er zieht sich allmählich genauso von mir zurück wie Lilly. Beide wollen sie zu ihren Vätern, aber die Väter sind nicht da, wenn man sie braucht.“
Ich mache einen unbeholfenen Versuch, Paula zu umarmen, den sie sofort abwehrt: „Geh! Geh einfach! Geh zurück in dein Schneckenhaus und lass mich in Ruhe!“

Ich blicke an Paula vorbei den Gang entlang in die Richtung von Jakobs Zimmertür und hoffe, dass er nochmal rauskommt, um sich von mir zu verabschieden. Aber er kommt nicht. Unsicher und halbherzig will ich mich umdrehen, um zu gehen.

Plötzlich sagt Paula, scheinbar gefasst und sehr bestimmt: „Ich bin so froh, dass ich sie abtreiben habe lassen! Noch ein Kind, für das nur ich zuständig gewesen wäre – das hätte ich nicht ausgehalten!“
Ich bleibe in halber Drehung stehen.
„Unsere Tochter! Sie wollte kommen. Ich habe es gespürt damals!“ sagt Paula. „Ich wollte sie, aber die Vernunft sagte mir, dass es nicht geht. Vielleicht war ich zu vernünftig, aber ich habe es getan. Und dir war doch sowieso alles egal.“
Zögerlich drehe ich mich wieder um zu ihr.
„Nein, nichts mehr! Geh jetzt! Geh!“ schreit sie mir ins Gesicht.

Ich gehe zur Straße. Auf dem Gehweg sinke ich zu Boden. Ich weine und sehe meine Tränen auf den trockenen Asphalt fallen. Das ungeborne Kind. Jakob! Paula! Helft mir doch!

Geborgte Familie

Renate sagt mir, sie will die Scheidung. Es trifft mich sehr. Ich bin mit Renate seit dreißig Jahren verheiratet. Seit fünfundzwanzig Jahren habe ich eine Beziehung mit Sophie. Ich lebe mit Sophie zusammen und bin mit Renate verheiratet. Das kann man komisch finden. Das haben die verschiedensten Leute immer wieder gesagt, dass sie das komisch finden, und manchmal fand ich es selber komisch. Aber meistens fand ich es gut, und ich finde es auch jetzt noch gut. Ich finanziere Renates Leben, und nicht zu knapp. Sie hat das Haus. Sie hat einen teuren Wagen. Sie bekommt eine Menge Geld von mir, jeden Monat. Ich halte sie aus. Sie lässt sich aushalten. Eine stillschweigende Vereinbarung. Bis jetzt. Und jetzt sagt sie mir, in Anwesenheit unserer beiden Kinder, dass sie die Scheidung will. Die Kinder sind erwachsen. Aber sie sind immer unsere Kinder. Maximilian schaut apathisch ins Leere, während Katharinas Gesicht rot anläuft vor Zorn. Alle drei warten sie auf eine Reaktion von mir: Renate, meine Frau, Maximilian und Katharina, meine Kinder. Doch ich bin geschockt von Renates Ansage, dass sie die Scheidung will. Ich fühle mich vollkommen hilflos und schweige.

Ich bin ins Nachkriegsdeutschland geboren worden, mitten in die noch immer zerstörte Stadt. Ich wurde gezeugt in einem Drecksloch, von meiner Mutter und einem Mann, der später nie mein Vater sein wollte. Ich wuchs auf in einem Drecksloch, allein mit meiner Mutter, die sich nie mehr leisten konnte als dieses Drecksloch, und schließlich gab sie mich weg, weil sie sich auch mich nicht mehr leisten wollte. Ich bin ein verwahrlostes Kind der Stadt, das sich durchgekämpft hat. Ich lernte Renate kennen, und mit ihr eine ganz neue Welt. Renate ist auf dem Land aufgewachsen, am See bei den Bergen, mit sechs Geschwistern, mit Mutter und mit Vater. Ich war fasziniert von der Geborgenheit in dieser Familie, die ich nie hatte. Ich wollte das nicht mehr hergeben. Renate und ich heirateten, und bald kam Maximilian auf die Welt. Ich erinnere mich an den Tag, an dem er geboren wurde: Ich war bei Renate und dem kleinen Baby im Krankenhaus. Als ich aus dem Krankenhaus ging, war ich sehr betrübt. Ich fuhr nachhause, wo ich alleine war, und besoff mich hemmungslos. Irgendetwas gefiel mir nicht an meiner Vaterschaft. Ich wollte keine Familie. Renates Familie, das war schön. Aber eine eigene Familie? Ich stürzte mich in der Folgezeit in meine Arbeit. Ich kämpfte mich nach oben und verdiente gutes Geld. Geld ist gut. Geld ist Macht. Mit der Freude am Geld vergaß ich meine Zweifel über mein Vaterdasein. Drei Jahre später kam Katharina zur Welt. Am Tag ihrer Geburt saß ich mit dem dreijährigen Maximilian zuhause, und sie kamen wieder, die Zweifel, mit aller Macht. Es waren keine Zweifel, es waren klare Gedanken: Ich will keine Familie! Ich fuhr mit Renate und den Kindern zu ihrer Familie, immer wieder, immer öfter, um mich abzulenken. Renate fragte mich, wieso ich denn dauernd bei ihrer Familie abhängen will, wo wir doch mit den Kindern eine eigene Familie hätten. Zuhause aber hielt ich es immer weniger aus. Die geborgte Familie war mir lieber als die eigene.

Dann wurde Sophie meine Sekretärin. Es wurde leidenschaftlich. Ich kam abends nicht vom Büro nachhause. Renate nahm es stillschweigend hin, bis es irgendwann klar war, dass ich mit Sophie zusammen bin. Ich zog mit Sophie in eine gemeinsame Wohnung. Aber mit Renate war ich verheiratet. Und mit Renate bin ich verheiratet, und wenn Renate jetzt sagt, sie will die Scheidung, dann trifft mich das unvorbereitet, denn ich will die Scheidung nicht. Renate ist meine Familie, auch wenn ich nie etwas getan habe für diese Familie. Ich habe nur das Geld gegeben und geglaubt, damit die Macht darüber zu haben, dass Renate sich nie von mir scheiden lässt. Renate sagt, dass sie nun endlich ihr eigenes Leben möchte und dass sie es nicht mehr erträgt, die Frau eines Mannes zu sein, der nie für sie da ist, der sich nur ihre Familie von ihr geborgt hat, der ihr zwei Kinder angedreht hat, die er nie haben wollte.

Ich sehe das Erschrecken in Maximilians Gesicht, der selbst gerade, nach langem Hin und Her mit seiner Partnerin, Vater geworden ist. Ich sehe Katharinas Verbitterung und Zorn in ihrem roten Gesicht. Ihre Blicke wollen mich zum Teufel wünschen. Ich fange an zu weinen wie der kleine Junge im Drecksloch, verlassen von seinem Vater, verlassen von seiner Mutter und verlassen von der Welt.

Das Erbe

Zu viert stehen wir da. Ich neben meiner Mutter. Meine Schwester und mein Bruder uns gegenüber. Er ist nicht mehr da, mein Vater. Das unumstrittene Oberhaupt der Familie. Gestorben und begraben, vor wenigen Tagen. Ohne ihn schien es unvorstellbar. Und jetzt ist es nicht nur vorstellbar, sondern Realität.

Das Erbe schwebt zwischen uns. Das Erbe: Das sind zwei Häuser und eine ganze Menge Bares. Das zweite Haus, das bekommst du, mein Junge, hatte mein Vater mir kurz vor seinem Tod zugeflüstert.

Jetzt steht meine Mutter da und sagt: „Erben tu erst mal alles ich, damit das klar ist!“
Meine Mutter erstaunt mich. Ihre Existenz schien unvorstellbar ohne meinen Vater, und jetzt stellt sie sich hin und sagt: Erben tu erst mal alles ich! Spinnt die?

Es wäre schön, das zweite Haus zu erben. Große finanzielle Sicherheit, die ich meinen beiden Kindern und meiner Frau oder auch nur mir damit bieten könnte. Nein, das kann nicht das letzte Wort sein. Die spinnt doch! Wieso will sie alles erben?
„Wieso willst du alles erben?“ frage ich.
„Weil es mein Recht ist! – Da, schau!“
Meine Mutter schiebt mir einen Zettel unter die Nase. Es ist das Testament meines Vaters, mit dem er ihr sein ganzes Vermögen vererbt.
„Den hast du ihm am Krankenbett hingehalten, als er nicht mehr anders konnte!“
„Untersteh dich!“

Ich gehe hinüber zu meiner Schwester und meinem Bruder. Wie eine Dreierfront stehen wir meiner Mutter gegenüber. Doch die Front zerfällt sofort, als mein älterer Bruder sagt: „Ist schon gut Mutter. Du erbst alles. Ist schon gut!“
Eine Provokation mir gegenüber, denn es war ein offenes Geheimnis, dass ich das zweite Haus erben würde, ich, der jüngste von drei Geschwistern, aber der einzige mit eigenen Kindern. Meine Schwester steht zwischen meinem Bruder und mir. Ich glaube, sie weiß nicht recht, für wen von uns beiden sie Partei ergreifen soll. Ihren jüngeren Bruder, also mich, will sie beschützen. Vor ihrem älteren Bruder hat sie Respekt. So ist das also ohne meinen Vater: Ich stehe nicht mehr neben ihm als sein erklärtes Lieblingskind, sondern neben meinen Geschwistern.

Meine Mutter schaut zufrieden und sagt uns mit ihren Blicken: „Schaut her, ich kann auch ohne euren Vater! Ich bin ein eigener Mensch! Und das mir ja niemand glaubt, hier die Vaterrolle übernehmen zu müssen! Auch du nicht, mein Jüngster!“

Brav bleibe ich an der Seite meiner Schwester stehen. Stolz, eine starke Mutter und zwei ältere Geschwister zu haben. Die Fronten sind geklärt. Und das zweite Haus, das werde ich erben. Da bin ich mir jetzt ganz sicher.