Er und Sie (Einführung in ein postdramatisches Drama)

Zunächst sind zwei bittere Wahrheiten zu nennen, die Er Ihr nicht ersparen kann, wobei das nur Prämissen von Ihm sind, dass es sich um Wahrheiten handelt, die Sie nicht hören will: Sie hat an diesem Abend zuviel geredet und zuviel getrunken. Findet Er jedenfalls.

Sie hatten vor diesem Abend und auch danach kein Verhalten gezeigt, dass sie, um es traditionell auszudrücken, für andere als Paar erkennbar gemacht hätte, beziehungsweise, um es moderner auszudrücken, man konnte keine Intimitäten zwischen ihnen feststellen, man hatte so etwas nicht gesehen, einen Kuss oder eine sonstige Berührung, die man als intim bezeichnen könnte, und Er sagt, darauf angesprochen, dass diese Beobachtung der vollen Wahrheit entspricht, während Sie, darauf angesprochen, ein Lächeln zeigt, dass man als kokett bezeichnen könnte, und dieses Lächeln stellt natürlich die eben aufgestellte Wahrheit wieder in Frage.

Jedenfalls hat Sie, wie Er sagt, zuviel geredet an diesem Abend und dabei zuviel getrunken. Was zuerst geschah, das Reden oder das Trinken, könne er nicht mehr mit Sicherheit sagen, wahrscheinlich geschah es gleichzeitig und hat sich gegenseitig hochgeschaukelt. Sie hat dann geredet über die Rolle des klassischen Dramas im modernen Theater und sich dabei so verheddert, dass Sie in immer kürzeren Abständen zwischen ihrem Reden trank, was ihr Reden zugleich beschleunigte und entschleunigte, denn ihr Reden wurde schneller aber auch repetitiver, was es Ihm einerseits schwerer machte Ihr zu folgen, aber auch leichter, denn hatte Er etwas nicht verstanden, konnte Er sicher sein, dass Sie es nach drei, spätestens nach vier Sätzen wiederholen würde.

Bei ihrem Reden und Trinken und seinem Zuhören waren sie in fremden Räumlichkeiten, sodass der Gastgeber der Räumlichkeiten sie zu später Stunde – der Gastgeber sagt, es war eher zu früher als zu später Stunde, denn er meinte, Vogelgesang vor der Tür gehört zu haben, aber das nur nebenbei – dass der Gastgeber sie also vor seine Tür komplementierte, und da standen sie nun, Er und Sie, vor der Tür, und Sie redete weiter und fragte, was man dieser Situation vor der Tür nun an Dramatischem abgewinnen könne? Ihm fiel in diesem Moment die klassische Zuspitzung jedes Dramas ein, die da heißt: im Zweifelsfall küssen, und da Er sich in diesem Moment nicht als Dramaturg, sondern als Darsteller begriff, folgte Er diesem Einfall und presste seine Lippen heftig an ihre, was Sie mit ebenso heftigem Pressen an seine erwiderte, und so entstand eine dramatische Situation, die man als leidenschaftlichen Kuss bezeichnen kann, begleitet von gegenseitigem Umschlingen und Berühren mit Armen und Händen.

Halt! Halt! sagte Sie dann. Ja, Er erinnert sich genau, denn Er war erstaunt über ihre Klarheit und Nüchternheit, die Er nicht erwartet hatte: Halt! Halt! sagte Sie: Das ist viel zu banal! So was kann man heute nicht mehr bringen! Einfach so küssen, das geht doch nicht! Sie riss sich von Ihm los und verschwand in der Kühle der frühen Stunde, ja jetzt kann Er sich erinnern, es war die Kühle der frühen und nicht die Hitze der späten Stunde, und Er fragte sich, ob es dramaturgisch besser gewesen wäre, den Kuss zurückzuhalten und stattdessen der Sehnsucht nach dem möglichen Kuss zu verfallen, um das Drama weiter zu erhöhen. Andererseits, Gerede in Dauerschleife hat keine Dramaturgie, sondern höchstens etwas Ermüdendes.

Ihn ergriff eine große Zufriedenheit, sagt Er, eine Zufriedenheit darüber, dass dieser Kuss nun im Raum steht, in diesem Raum der unendlichen Möglichkeiten, in dem sich dieser Kuss als konkretes Ereignis manifestiert hat. Denn man kann sich leicht verlieren in diesem unendlichen Raum der Möglichkeiten, wenn man nicht das tut, was getan werden muss, zum Beispiel, dass Er und Sie sich küssen. Eine Wahrheit, die Er nun nicht mehr missen möchte.