Alle Beiträge von EmilHinterstoisser

Irritation in der Erzählwerkstatt

„Gestern werde ich nicht gewesen sein“, murmelte Vorderbrandner neben mir, aber trotzdem so laut, dass ich es hörte. Er bemerkte meinen irritierten Blick. Wollte er, dass ich ihn höre, um darüber zu reden? In jedem Fall schien er sich rechtfertigen zu wollen: „Wir sind hier in einer Erzählwerkstatt. Ich experimentiere mit den Erzählebenen.“

„Es ist in der Tat ein gewagtes Experiment. Wie kann man gestern nicht gewesen sein werden?“

„Indem ich heute schon weiß, dass ich morgen wissen werde, dass ich gestern nicht gewesen bin.“

„Und wie manifestiert sich dieses Wissen?“

„Wissen ist nur Glaube, und wieso soll ich nicht glauben, dass ich morgen glauben werde, dass ich gestern nicht gewesen bin?“

„Weil es mir schwerfällt zu glauben, dass ich gestern nicht gewesen sein werde, weil ich glaube, dass ich immer bin, seit ich denken kann.“

„Glaub daran, wenn es dir weiterhilft. Ich mag gerade daran glauben, dass ich gestern nicht gewesen sein werde. Denn wenn ich gestern nicht gewesen sein werde, tun sich unglaubliche Möglichkeiten für dieses Gestern auf: Ich kann es neu befüllen, mit neuen Gedanken und Interpretationen, obwohl ich es heute noch nicht weiß. Außerdem glaube ich, dass viele, die heute davon reden, was sie gestern gewesen sind, schon morgen behaupten werden, dass sie gestern nicht gewesen sind, was sie heute behauptet haben. Max Frisch sagte: Ich weiß nie, wie es war. Ich weiß es anders. Ist das nicht eine andere Art zu sagen: Gestern werde ich nicht gewesen sein?“

„Du verwirrst mich, Vorderbrandner, und ich könnte glatt zu zweifeln beginnen, ob ich überhaupt bin.“

„Sein ist ohnehin langweilig, zumindest als Erzähler. Da passiert so wenig und so viel, dass ich es nicht erzählen kann, weil es einfach ist. Ich umschiffe die Gegenwart wie ein gefährliches Minenfeld, um mich in den ungewissen Meeren der Vergangenheit und Zukunft zu tummeln.“

„Und du glaubst nicht, dass du dabei dein eigenes Leben umschiffst?“

Alter Mann am kleinen Fluss

Irgendwo zwischen München und Passau

Der kleine Fluss mäandert durch die feuchten Wiesen. Der kleine Fluss beherrscht diese Landschaft, sagt der alte Mann, der längst gestorben ist. Gleichmäßiger Wasserstand sei wichtig, sagt der alte Mann, für seine Mühle am Fluss, damit sie mahlt. Die feuchten Wiesen speichern das Wasser und geben es gleichmäßig ab an den Fluss, damit seine Mühle mahlt. Grobkörniges Mehl mahle sie, sagt der alte Mann, seine Mühle, nicht so feines wie aus dem Supermarkt. Er ist zufrieden damit, denn er glaubt, dass es gesünder sei als das feine aus dem Supermarkt.

Der Sohn des alten Mannes hat die feuchten Wiesen drainagiert und trockengelegt, um dort Getreide anzubauen. Der kleine Fluss ist dann oft ausgetrocknet in regenarmen Zeiten, weil die feuchten Wiesen kein Wasser mehr speicherten, dass sie abgeben konnten. Das Wasser war durch die Drainagerohre längst unterwegs zum Schwarzen Meer. Die kleine Mühle stand still. Lastwägen kamen, um das Getreide in eine große Mühle zu transportieren; in eine große Mühle, wo das feine Mehl für den Supermarkt gemahlen wird.

Die Autobahn führt jetzt durch das Tal des kleinen Flusses. Um das Getreide schneller zur großen Mühle zu bringen. Das Wasser fließt im Drainagerohr, der Verkehr auf der Autobahn. Es fließt geradlinig und schnell, nicht mäandernd und trödelnd. Vielleicht ist das der unabwendbare Fortschritt der Menschheit. Immer schneller, größer, weiter – alternativlos. Alternativlos? Wieviel Geschwindigkeit verträgt der Mensch?

Ich gehe am Ufer des kleinen Flusses entlang, unter den Betonpfeilern der Autobahn. Ich suche die Mühle. Stattdessen treffe ich den alten Mann, der doch längst gestorben ist. Er sagt: Der Fluss beherrschte diese Landschaft. Alles drehte sich um ihn. 43 Mühlen gab es hier. Eine Gerberei. Wir haben ihn benutzt, wir haben ihn verschmutzt. Wir haben ihn auch geachtet und beobachtet. Wir haben mit ihm gelebt. Es gab nur ihn. Er lehnt sich an den Betonpfeiler der Autobahn und erzählt weiter: Wir lebten mit der Feuchtigkeit. Mit diesen Betonpfeilern ziehen sie das letzte Wasser aus dem Boden. Wer braucht denn hier noch Wasser? Der Fluss ist eine große Rinne, die das Wasser bei starkem Regen möglichst schnell abtransportieren soll. Wer braucht denn hier noch Wasser? Die Autobahn beherrscht jetzt unsere Landschaft. Sie transportiert den Verkehr schnell von Stadt zu Stadt. Er sieht mich an und sagt: Fahr jetzt zurück in die Stadt. Da gehörst du hin.

Er hat recht. Ich gehöre in die Stadt. Da sind die Menschen, die ich liebe. Da ist meine Arbeit. Da ist mein Leben. Für meine Rückfahrt nehme ich nicht die Autobahn, sondern mäandere mich die Landstraße entlang, um langsam aus dieser Entschleunigung wieder in mein gewohntes Leben zu gleiten. Ich höre ein Lied von Blumfeld und bekomme eine Zeile davon nicht aus dem Ohr: Ich kann im Fortschritt keinen Fortschritt sehen.

Die Isen

Nur Liebe

Sie lagen nebeneinander und spürten sich. „Liebst du mich?“ fragte sie ihn. „Ja, ich liebe dich!“ sagte er.

Was ist an diesem Dialog auszusetzen? Nichts. Er ist wunderschön. Der Haken ist: Sie dachte sich das Wort nur in diesen Dialog hinein. „Liebst du nur mich?“ – „Ja, ich liebe nur dich!“

Während er seine Antwort so dachte: „Ja, ich liebe dich! Weil ich mein Leben liebe, und du gibst meinem Leben Lebendigkeit.“

Durch ihr Nur war der Eifersucht Tür und Tor geöffnet. Ihre Beziehung entwickelte sich wie das Leben eines Vogels im Käfig, der seiner Kernfähigkeit, dem Fliegen, beraubt ist. Was ist eine Beziehung wert, die ihrer Kernfähigkeit, dem Lieben, beraubt ist?

Tyrann Otto

Nie mehr Herrschaft eines Tyrannen! Wir huldigen den Errungenschaften der Demokratie, die wir uns durch das Grundgesetz gegeben haben. (Manche bösen Geister behaupten, das Grundgesetz wurde uns von den Alliierten aufgezwungen.) Wieso betont man so oft, wie wertvoll eine Demokratie ist? Gibt es etwa viele, die das nicht so sehen?

Ich war am Wochenmarkt vor der Kirche, am Gemüsestand. Eine Frau, ich schätze ihr Alter auf vierzig bis fünfundvierzig Jahre, war vor mir an der Reihe. Sie kaufte soviel Gemüse, dass ich aus dem Staunen nicht herauskam. Sie kaufte Gemüse, das ich vorher noch nie wahrgenommen hatte, und deshalb fällt es mir jetzt schwer, es zu beschreiben. Plötzlich rief sie „Otto in meine Richtung. Da mir klar war, dass sie damit nicht mich meinen konnte, drehte ich mich um. Ich sah einen etwas dicklichen, kleinen Jungen, der vor nicht allzu langer Zeit wohl noch gekrabbelt ist anstatt auf zwei Beinen zu stehen. Otto hatte es zur Wurstbude verschlagen. Auf den zweiten Ruf seiner Mutter kam er angelaufen und machte sich am Gemüsestand zu schaffen. Er wackelte dermaßen an den Regalen, dass der Gemüsekäufer sich sorgte, sie würden zusammenbrechen. Otto schaffte das Künststück, Gemüse zu finden und aus den Regalen zu nehmen, das seine Mutter noch nicht in ihren randvollen Körben hatte.

Der Gemüseverkäufer wollte die Situation beruhigen und reichte Klein-Otto eine Karotte. Die Mutter bestätigte, dass Otto bereits Karotten esse (Subtext: Otto ist ein gutes Kind, das viel gesundes Gemüse ist, also auch Karotten!), jedoch bemerkte ich eine Unsicherheit in ihrer Stimme. So als traue sie ihrer eigenen Aussage nicht über den Weg. Otto bedachte daraufhin die Karotte mit einem verächtlichen Blick.

In diese Spannung, die in der Luft lag, kam plötzlich Otto-Vater angerauscht und orderte weiteres Gemüse. Er erweiterte den Korb um Grünes wie Petersilie und Schnittlauch, gab dem Ganzen also durch die Kräutergarnitur seinen patriarchalischen Segen. Der Gemüseverkäufer erfasste die Situation mit bestechendem Scharfsinn, denn er fragte nun die einzige sich daraus schließende logische Frage: „Bezahlt der Vater oder die Mutter?“ Es geht nicht um Mann und Frau, nein, es geht um Vater und Mutter, denn die Welt ist völlig auf Otto ausgerichtet; auf Otto, den Tyrann von Elterns Gnaden.

Während die Mutter, ohne auf die Frage des Verkäufers zu antworten, das Gemüse bezahlt, jagt Otto-Vater Otto hinterher, der sich wieder zur Wurstbude aufgemacht hat. Der Verkäufer nennt die Summe, die Otto-Mutter zu bezahlen hat. Die Höhe der Summe bringt mich wieder ins Staunen, sodass mir fast meine Tomaten, die ich schon lange in der Hand halte, auf den Boden fallen. Wieso soviel Gemüse, wo Otto doch keine Karotten mag? Was treibt Eltern an, einen Tyrannen zu züchten? Und wieso diese tyrannische Zucht unter einem Berg von Gemüse verstecken, anstatt sie an der Wurstbude aufrichtig zur Schau zu stellen? Mich schaudert vor dem Gedanken, dass nur Verlogenheit die Demokratie erhält, weil es viele sich bloß nicht trauen, zur Tyrannei zu stehen. Wird Otto seine Herrschaft auf seine Eltern beschränken, oder wird er eines Tages die Welt beherrschen wollen? Hat der Mensch mehr Hunger nach Macht als nach Gemüse, weil er es nicht anders kennt?

Hadern

Ich sagte zu Oskar, der auch bekannt ist als Hagestolz noch nicht zu alten Datums, dass ich nach Hadern fahre. „Willst du mitkommen? Du machst doch nichts lieber, als durch die Straßen Münchens zu streunen.“

„Hadern ist nicht München“, sagte Oskar. „Hadern ist ein verstocktes altes Bauerndorf. Hadern ist von den Nazis zu München eingemeindet worden; weil die Nazis größenwahnsinnig waren und glaubten, ein paar verstockte Bauern würden sie in diesem Größenwahnsinn unterstützen.“

„Ich glaube nicht, dass ein paar verstockte Bauern, die anscheinend die Nazis unterstützt haben, dich davon abhalten, nach Hadern zu fahren.“

„Ich wollte vor einiger Zeit in Hadern ein Haus kaufen, einen Landsitz sozusagen. Das Haus war etwas heruntergekommen, doch es hatte etwas Edles an sich.“

„Warum hast du es nicht gekauft?“

„Weil es an einer Straßenkreuzung liegt. Ich habe festgestellt, dass ich an Straßenkreuzungen nicht leben kann. Es reicht, wenn ein Haus an einer Seite an eine Asphaltwüste grenzt. Wenn noch auf einer zweiten Seite eine Asphaltwüste vorbeiführt, wie es an einer Kreuzung der Fall ist, habe ich den Eindruck, dass diese beiden Wüsten das Haus in die Zange nehmen.
Ich wollte den Kaufvertrag unterschreiben, doch in der Nacht davor träumte ich, dass die beiden Wüsten das Haus mitsamt seinem Garten verschlucken. Da habe ich endgültig verstanden, dass ich in einem Haus an einer Kreuzung nicht wohnen kann, weil ich in beständiger Angst leben würde, von der Asphaltwüste bei lebendigem Leib verschluckt zu werden. Ich habe den Kaufvertrag also nicht unterschrieben.
Außerdem wurde mir bewusst, dass ich in einem Haufen verstockter Bauern wohnen würde, die nur glauben, dass sie keine Bauern mehr sind, weil ein großes Klinikum auf ihren ehemaligen Weidegründen gebaut wurde. Das große Klinikum – auch das hätte ich gesehen von meinem Haus beim Blick über die Asphaltwüste hinweg. Ich wollte mir all das ersparen. Seitdem fahre ich nicht mehr nach Hadern.“

„Dein Hadern über Hadern ist anstrengend“, sagte ich zu Oskar, „und auch wenn du es nicht hören willst: Ich fahre ins Klinikum Großhadern.“

„Deine Wortspiele kann ich nicht mehr hören. Ich fahre sicher nicht mit. Denn dann heißt deine nächste Geschichte: Ein Hagestolz in Hadern.“

„Nein, so werde ich sie nicht nennen. Ich werde sie Ein Hagestolz in Hadern hadert mit dem Hauskauf nennen.“

Ich fahre, wie unschwer zu erraten ist, ohne Oskar nach Hadern. Ich fahre durch eine Straße, die den Namen Pfingstrose trägt und in der ich Oskars Haus zu sehen glaube, direkt auf das Klinikum zu, das laut Oskar die Haderer Bauern aus ihrem Siechtum zu wahrer Größe aufsteigen ließ: auf das Klinikum Großhadern der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Das Hauptgebäude der riesigen Klinik steht wie ein gestrandeter Ozeandampfer in der Landschaft. Über zweihundert Meter lang und dem Himmel viel näher als die höchsten Bäume Haderns. Um mir Zeit zu geben, mich an diesen Koloss zu gewöhnen, nehme ich das Treppenhaus statt dem Aufzug. Fast nach ganz oben schicken sie die Neugeborenen mit ihren Eltern. Wie ist das, in einem gestrandetem Ozeandampfer auf bäuerlichem Weidegrund zur Welt zu kommen?

Ich betrete das Zimmer. Das Fenster, das von unten wie ein Bullauge aussah, entpuppt sich als ein Panoramafenster eines UFOs, das sich gerade im Anflug auf das Alpenvorland befindet. Weite Wälder liegen tief unter mir, dahinter die Berge. Irgendwo zwischen diesen Wäldern liegt das Gut Hinterstoiß, wo meine Eltern mich zur Welt gebracht haben. Selbst wenn ich mit ihnen oft haderte, für die Tat meiner Zeugung und Geburt bin ich ihnen sehr dankbar. Eine Definition von hadern lautet: mit sich und der Welt zerfallen sein. Das kann ich nicht behaupten. Ich bin der Welt verfallen.

Da sind diese zwei kleinen Menschen im Raum, deretwegen ich doch eigentlich gekommen bin, die gerade ihrer gesicherten Raumkapsel mit dem schönen Namen Mutterleib mit großem Mut entstiegen sind. Eine große Anstrengung ist es, auf diese Welt zu kommen. Ein paar Tage erholen von dieser Anstrengung, dann werden sie ankommen in der Welt da unten. In Hadern zur Welt kommen, um ihr zu verfallen. Das ist ein Gedanke, mit dem ich meine Ausführungen für heute beenden möchte, obwohl es noch viel zu berichten gäbe.

Hadern

Klinikum Großhadern

Sterben wollen

„Da steht mein Vater“, sagte Vorderbrandner.

„Dein Vater ist seit fast zwanzig Jahren tot“, sagte ich. Wir spazierten durch den Park. Es war abends, bereits dunkel. Der Mond schien hell.

„Da steht mein Vater“, sagte Vorderbrandner. „Da!“ sagte er, und deutete auf eine Stelle vor sich. „Siehst du ihn denn nicht?“

„Wo denn?“

„Da! Sieh nur, wie aufrecht und aufgeschlossen er da steht. So kenne ich ihn nicht. Ich kenne meinen Vater nur als geknickten Mann, der einen großen Sack Trauer mit sich herumschleppt, den er mit niemandem teilt. Jetzt steht er da, aufrecht und selbstbewusst. Still! Er spricht zu mir:“

„Ich bin 53 Jahre alt. Ich will sterben. Es ist Zeit zu gehen.“

„Hast du das gehört? Wie er das gesagt hat! So gütig und würdevoll. Ich kann ihm nicht böse sein. Es ist gut. Mein Gott, siehst du ihn denn nicht?“ flehte Vorderbrandner mich an. „Wie das Mondlicht ihn bescheint! Sein Gesichtsausdruck – ich kann ihn nicht beschreiben, weil ich ihn einfach nur bewundere.“

„Da! Da kommt ein zweiter Mann. Ich schwöre es dir! Ich weiß nicht, woher er kommt. Vielleicht ist er den kahlen Bäumen des März entstiegen wie eine Knospe im Frühling. Er stellt sich neben meinen Vater. Er ist etwas jünger als mein Vater, ohne Zweifel. Wer ist das?“

Vorderbrandner stand mit konzentriertem Blick neben mir, und ich spürte: Ich darf ihn nicht unterbrechen.

„Es ist mein Großvater“, sagte er plötzlich. „Natürlich, es ist mein Großvater. Wie sie dastehen, so voller Güte und dennoch seltsam entrückt und unnahbar. Sie sehen mich an. Sie sagen nichts. Nichts, was ich hören kann. Doch sie sagen ganz deutlich mit ihren Gesichtern: Wir wollen sterben.“

Dann war es still. Vorderbrandner sagte nichts. Sein Blick entspannte sich etwas, und doch war noch immer eine große Konzentration in seinen Augen.

„Was ist jetzt?“ fragte ich vorsichtig.

„Sie haben sich umgedreht und sind weggegangen. Dort vorne bei den Bäumen gehen sie, friedlich und einträchtig. Ich glaube es geht ihnen gut. Ich lasse sie gehen.“

Wir standen da, im Mondlicht des kalten Märzabends. Vorderbrandner redete weiter:

„Ich begreife jetzt, warum ich mich oft dem Tod so nahe, so vertraut gefühlt habe. Weil ich so sein wollte wie mein Vater. Und was will ein Sohn mehr als sterben, wenn sein Vater sterben will.“

Vorderbrandner fing laut zu schreien an. Er rannte wie wild umher und schrie aus voller Kehle:
„Nein! Nein! Ich will nicht sterben. Ich will leben! Ich liebe das Leben doch über alles!“
Er warf sich auf den Boden und begann hemmungslos zu weinen.

Ich stand daneben, im hellen Mondlicht. Es sprach aus mir wie ein Gebet:

„Vorderbrandner, du lebst! Und wie du lebst! Deine Wut und deine Tränen zeugen von deiner unbändigen Lebenskraft. Die Zeit wird kommen, da wirst auch du sterben wollen. Doch jetzt wirst du leben, leben, leben!“

 

Oskars Anfang und Ende

Oskar, der früher Emil hieß, ist ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums. Oskar spaziert gern durch die Straßen Münchens. Wir haben ihn schon einige Male dabei begleitet. Heute wollen wir uns die Frage stellen: Wer, außer ein Hagestolz, ist Oskar?

Oskar ist ein Wissenschaftler. Er ist mit der dualistischen Weltsicht groß geworden, hat sie verinnerlicht durch und durch. Einer seiner Grundsätze, ohne dass er es selbst weiß, lautet: Gebt mir das Böse, damit ich gut sein kann!

Wir erinnern uns, dass Oskar die Schleißheimer Straße in München begehen wollte, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. Er hatte große Schwierigkeiten, den Anfang der Schleißheimer Straße zu finden, bis er feststellen musste, dass es den Anfang der Schleißheimer Straße gar nicht mehr gibt, weil der Anfang der Schleißheimer Straße jetzt Rudi-Hierl-Platz heißt (München, Schleißheimer Straße). Oskar, als Meister der Dualität, sagte sich: Wo ein Anfang, da ein Ende. Und schlussfolgerte nach seiner Erfahrung mit der Schleißheimer Straße: Wo kein Anfang – da kein Ende. Dieser Gedanke beunruhigte ihn.

Er dachte an den Anfang und das Ende vieler Dinge, bis er schließlich bei seinem Leben angelangt war. Wann hat es begonnen? Als er den Leib seiner Mutter verließ? Als seine Mutter und sein Vater sich liebten? Oder irgendwo dazwischen? Oder gar schon davor?

Als Dualist, der sich sehr der Physik zugewandt fühlt, dachte er jetzt: Aus nichts kann nichts werden, also ist schon immer etwas da gewesen; wenn es auch nicht das war, was ich jetzt mein Leben nenne.

Oskar ging ins Bett. Von dort aus lief er die Schleißheimer Straße entlang, und sie nahm einfach kein Ende. Sie war wie ein endloser Raum. Das machte Oskar ganz schwindelig. Doch der Schwindel beunruhigte ihn nicht, nein – er wiegte ihn in einen tiefen und erholsamen Schlaf.

Was für eine Geschichte!

„Was erzählst du mir heute für eine Geschichte?“ fragte mich Vorderbrandner.

„Ich erzähle heute keine Geschichte.“

„Aber heute ist Donnerstag. Da erzählst du doch immer eine Geschichte.“

„Erzähl du mir eine Geschichte! Ich habe heute nichts zu erzählen.“

„Ich? – Ich habe auch nichts zu erzählen.“

„Nichts?“

„Nichts. – Nein, warte – eine Sache habe ich zu erzählen: Mein Nachbar hat gestern aus Versehen seine Frau erschossen. Seine Frau hatte ihn vor einer Woche dazu gedrängt, sich ein Gewehr zu kaufen, falls Flüchtlinge kommen und man sich wehren müsse…“

„…und er konnte nicht mit dem Gewehr umgehen, aus Versehen hat sich ein Schuss gelöst, mit dem er seine Frau getötet hat.“

„Nein. Seine Frau ist spät nachhause gekommen gestern. Da sie etwas betrunken war, hat sie unbeholfen mit dem Schlüssel an der Tür hantiert, sodass er glaubte, ein Flüchtling will ins Haus eindringen. Da hat er das Gewehr genommen und sie erschossen.“

„Was für eine Geschichte! Woher weißt du das alles?“

„Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ich habe diese Geschichte erfunden, oder eine Bekannte meines Nachbarn hat sie mir erzählt. Diese Bekannte hat mir gesagt, dass es zwar tragisch sei, dass mein Nachbar seine Frau erschossen habe, dass sie aber andererseits seine Frau nicht leiden konnte und dass sie hoffe, dass er nun nicht lebenslänglich ins Gefängnis komme, weil er so ein netter Mensch sei.“

„Hat vielleicht die Bekannte deines Nachbarn seine Frau erschossen?“

„Wieso?“

„Weil sie gestern Abend bei deinem Nachbarn gewesen ist, ihn endlich dazu gebracht hat, sie in seine Arme zu nehmen, nach so vielen Jahren, in denen sie sich das gewünscht hatte, und dann kam die Frau nachhause, die dieses Glück störte und beseitigt werden musste.“

„Erzähle ich hier eine Geschichte oder du? Ich sagte doch, dass die Bekannte meines Nachbarn mir erzählt hat, dass mein Nachbar seine Frau erschossen hat, weil er glaubte, sie sei ein Flüchtling, der ins Haus eindringen will.“

„Das ist die ganze Geschichte?“

„Das ist die ganze Geschichte. Punkt. Und wenn du sie weiter erzählen willst, dann erzähle sie weiter. Aber sag mir nicht mehr, du hättest nichts zu erzählen!“

Das Au-Tor

und die Torheit des Autors

Ich lief durch die Gegend und überlegte, was ich aufschreiben soll. Soll ich aufschreiben, was ich erlebe, oder soll ich erleben, was ich aufschreiben will?

Völlig in diese Gedanken versunken stieß ich gegen ein Tor.
Au! rief das Tor, du hast mir weh getan!
Als ich wieder zu mir kam, sah ich die Beule im Tor und sagte zu ihm: Au, das hat weh getan. Du hast sicher Schmerzen. Und da ich nicht wusste, ob das Tor weiß, was Schmerzen sind, sagte ich weiter: Du bist jetzt ein Au-Tor.

Und du bist ein Tor, dass du einfach so gegen mich rennst, erwiderte das Au-Tor. Deine Torheit stinkt zum Himmel!
Nein. Ich bin ein Autor, entgegnete ich, auf der Suche nach etwas zum Schreiben. Und selbst wenn ich ein Tor bin – schon Erasmus von Rotterdam schrieb: ein Lob der Torheit!

Das Au-Tor schien mich nicht zu verstehen, jammerte und klagte stattdessen.
Kann ich dir helfen, Au-Tor, deine Schmerzen zu lindern?
Ja, sagte das Au-Tor. Du kannst ein Werkzeug holen, um meine Beule auszuklopfen.

Auf der Suche nach einem Werkzeug, um die Beule des Au-Tors auszuklopfen, fand ich ein Mark-Stück. Da fiel mir wieder ein, was ich aufschreiben wollte: Ich wollte etwas über das Gesichtsbuch-Unternehmen des Mark Zuckerberg schreiben. Bevor ich jedoch dazu Weiteres schreibe, will ich mich diesem Thema zunächst nur bildlich nähern, da ich jetzt die Beule des Au-Tors ausklopfen werde:

Abb 1: Mark

Abb 1: Mark

Abb 2: Zuckerberg

Abb 2: Zuckerberg

 

Gelzer und Gürzer und das verlorene Geld

Was bisher geschah: Gelzer und Gürzer Teil 1

Gelzer fährt mit seinem Auto von Weichering nach Wasserburg zu Gürzer. Die letzten Meter der Hofeinfahrt rollt er ohne Motor, denn das Benzin ist ihm ausgegangen.

„Ich habe deinen Besuch nicht erwartet. Was ist passiert? Bringst du mir mein Geld in bar, anstatt es mir zu überweisen?“ begrüßt Gürzer Gelzer.

„Ich habe das ganze Geld verloren.“

„Wie bitte? Du hast dreißig Millionen Euro verloren?“

„Ja.“

„Wie konntest du dreißig Millionen Euro verlieren? Ich kann mir darunter nichts vorstellen. Geld war für mich bisher immer einfach da. Wie die Nahrung für ein Tier, das durch die Gegend streunt und sie immer in Überfülle findet. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, woher das Geld kommt und wohin es geht.“

„Ich habe in hochspekulative Wettgeschäfte an der Börse investiert.“

„Du solltest mein Geld doch bloß verwalten und es nicht für hochspekulative Wettgeschäfte verwenden.“

„Verwalten. Was heißt verwalten! Geld muss sich vermehren, damit es sich lohnt!“

„Wieso müssen dreißig Millionen Euro sich vermehren? Wir haben vereinbart, dass du mir dreitausend Euro pro Monat bis an mein Lebensende bezahlst. Erst nach hunderten von Jahren wäre dir das Geld ausgegangen. Es wäre also genug für dich übrig geblieben. Wieso wolltest du es vermehren?“

„Geld verliert seinen Wert. Also muss es mehr werden, sonst steht man plötzlich ohne Geld da.“

„Ohne Geld stehst du auch jetzt da. Und ich mit dir. Doch ohne Geld geht es nicht, Gelzer. Wir müssen von irgendwoher Geld beschaffen. – Vielleicht gibt es ja jemanden, der uns Geld gibt, so wie ich dir dreißig Millionen Euro gegeben habe.“

„Es wird uns nicht irgendjemand Geld geben.“

„Ich habe es dir doch auch gegeben.“

„Ja, du hast es mir gegeben. Weil du mich kennst. Und weil du ein merkwürdiger und komischer Mensch bist.“

„Wirf mir nicht vor, dass ich dir das Geld gegeben habe. Du hast es schließlich gern genommen! – Ich kann nicht glauben, dass ich der einzige Mensch bin, der Geld besaß und keine Probleme damit hatte, es mit anderen zu teilen.“

„Vergiss das Gürzer! Es wird uns niemand einfach so Geld geben. Geld muss man sich verdienen, redlich verdienen.“

Redlich verdienen – was ist das denn für ein Ausdruck? Irgendjemand wird jetzt deine dreißig Millionen Euro haben, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er oder sie sie redlich verdient hat.“

Gelzer macht ein betroffenes Gesicht, und Gürzer spricht weiter:

„Ich habe soeben beschlossen, dass ich niemanden suchen werde, der uns Geld gibt, denn du hast es verloren. Ich habe dir mein Geld gegeben, weil ich leben wollte wie ein Tier, ohne auf das Geld zu verzichten. Wenn ich es mir jetzt überlege, habe ich auch schon gelebt wie ein Tier, bevor ich dir das Geld gegeben habe. Zumindest was das Geld betrifft. Ich bin herumgestreunt und habe mir das Geld gepflückt wie ich es brauchte. Jetzt bin ich wie ein Tier, dass keine Nahrung mehr findet. Die überreiche Quelle ist plötzlich weg.“

„Ich könnte für dich arbeiten, da ich dir kein Geld mehr geben kann“, unternahm Gelzer einen zaghaften Lösungsversuch.

„Wie der Gast im Restaurant, der nicht bezahlen kann und dafür die Teller wäscht? Ich habe aber kein Restaurant, Gelzer. Überhaupt habe ich nie einen rechten Zusammenhang zwischen Geld und Arbeit gesehen. Sind die Banker und Kaufleute der Renaissance durch harte Arbeit zu ihrem Geld gekommen? Sind die Industriepioniere durch harte Arbeit zu ihrem Geld gekommen? Haben die eigentliche Arbeit nicht andere gemacht? Vielleicht ist es zwischendurch mal besser geworden, das Verhältnis zwischen Arbeit und Geld meine ich, aber jetzt scheint es sich wieder dahin zu entwickeln, wo wir einmal waren.

Was ist überhaupt Arbeit? Ich meine Arbeit, für die man Geld kriegt. Neulich hat man mir von einem Unternehmen erzählt, dass seine Mitarbeiter für Dampfplauderei entlohnt. Um sich das leisten zu können, müssen die, die bisher die sonstige Arbeit neben der Dampfplauderei erledigten, das Unternehmen verlassen. Die sonstige Arbeit wird jetzt in Ungarn verrichtet, weil man Ungarn weniger Geld zahlen muss als Deutschen. Ich könnte dich als Dampfplauderer anstellen, Gelzer, aber ich kann mir das nicht leisten. Wer macht die sonstige Arbeit, die uns leben lässt?“

Gelzer macht wieder ein betroffenes Gesicht, sodass Gürzer weiterspricht:

„Meine Väter und Großväter hatten nicht nur dieses Haus, in dem wir jetzt sind, sondern sie hatten viel Grund und Boden rundherum. Äcker und Wiesen und Wälder. Ich habe all diesen Grund und Boden verkauft. Es erschien mir praktischer, das Geld dafür zu haben. Mit Geld kann man alles kaufen was man will. Grund und Boden aber muss man bewirtschaften, bevor man etwas dafür erhält. Jetzt, ohne Geld, wäre es gut, wenn ich diesen Grund und Boden noch hätte, Gelzer. Ich könnte dich für mich arbeiten lassen. Du könntest Getreide, Obst und Gemüse anbauen, du könntest ein paar Tiere halten. Aber ich habe diesen Grund und Boden nicht mehr. Der Garten des Hauses ist zu klein für so eine Wirtschaft. Da kommen wir nicht weit.“

Gelzer hat sich neben Gürzer gesetzt und ihm wird immer betrüblicher darüber, dass er das ganze Geld verloren hat. Was soll man machen in dieser Welt, ohne Geld? Selbst wenn Gürzer noch Grund und Boden hätte – wie soll er damit Benzin erzeugen für die Rückfahrt nach Weichering?