München, Schleißheimer Straße

Emil, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, ging die Schellingstraße entlang. Davon wurde an anderer Stelle bereits berichtet: München, Schellingstraße.

Als er das Ende der Schellingstraße erreicht, erinnert er sich, dass er bei seinem Spaziergang die Schleißheimer Straße überschritten hat. In Schleißheim steht ein kurfürstliches Schloss. Emil beschließt, die Schleißheimer Straße entlangzugehen. Emil ist ein gründlicher Mensch. So präzisiert er seinen Beschluss und beschließt weiters, die Schleißheimer Straße von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende zu begehen.

Am Ende der Schellingstraße stehend, befragt er Vorbeikommende, die er als ortskundig erachtet, wo denn die Schleißheimer Straße beginne.
Einer der Vorbeikommenden sagt: „Hier endet die Schellingstraße. Was weiß denn ich, wo die Schleißheimer Straße beginnt.“
Ein Anderer: „Da gehst jetzt zurück, dann kommst du an die Schleißheimer Straße.“
Emil meint, das wisse er, er habe sie ja bereits überquert, die Schleißheimer Straße, aber er wolle wissen, wo sie beginne.
„Jetzt gehst mal hin zu ihr, zu der Schleißheimer Straße, und dann kannst schauen, wo sie beginnt, oder?“ antwortet der Andere auf Emils Einwand.
Das befriedigt Emil nicht, denn er möchte die Schleißheimer Straße von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende begehen, und nicht grob irgendwo in ihrer Mitte in sie reinstechen. Also schlägt er sich auf eigene Faust durch das Straßendickicht, um zum Beginn der Schleißheimer Straße zu gelangen. Aus Sorge, vor ihrem Beginn auf sie zu stoßen, geht er einen großen Bogen. Vorbeikommende fragt er keine mehr, da sie nach seinen bisherigen Erfahrungen alle als ortsunkundig zu gelten haben. Nach langen Bogengängen, die ihn bis an den Hauptbahnhof geführt haben, landet er auf dem Stiglmaierplatz. Dort ist seine Sorge, dass er die Schleißheimer Straße überhaupt nicht findet, schließlich größer als seine Sorge, ihren Beginn zu verpassen. Er fragt also einen Vorbeikommenden, wo die Schleißheimer Straße sei. „Dort vorne beginnt sie“, sagt der Vorbeikommende und zeigt nach Norden. Emil kann sein Glück kaum fassen, dass der Vorbeikommende tatsächlich sagt: „Dort vorne beginnt sie.“ Als er dort ist, wo der Vorbeikommende hingezeigt hat, steht er auf einem weiteren Platz. Das Schild sagt „Rudi-Hierl-Platz“. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als einen weiteren Vorbeikommenden zu fragen, wo denn die Schleißheimer Straße beginne.
„Die Schleißheimer Straße hat hier mal begonnen“, sagt der weitere Vorbeikommende, „doch sie haben einen autofreien Platz daraus gemacht. So ist die Schleißheimer Straße an ihrem Beginn keine Straße mehr. Dort geht sie weiter“, sagt er schließlich und zeigt nach Norden.

Rudi-Hierl-Platz - Beginn der Schleißheimer Straße

Rudi-Hierl-Platz – Beginn der Schleißheimer Straße

Die Schleißheimer Straße, auf der einst Kurfürsten zu ihrem Schloss ritten, hat keinen Beginn mehr. Emil kann es nicht fassen und wird fast von einem Fahrradfahrer überfahren, der den autofreien Rudi-Hierl-Platz überquert. Etwas missmutig geht er. Wohin? Nun, nicht zum Beginn der Schleißheimer Straße, denn sie hat ja keinen mehr, sondern zur Schleißheimer Straße. Es ist, als ob er irgendwo in sie reinstechen würde, und es schmerzt Emil. Eng und einspurig ist sie auf ihren ersten Metern. Hier ist der Kurfürst entlanggeritten? Bald wird sie zumindest zweispurig. Emil erreicht die Schellingstraße, durch die er vorhin die Schleißheimer Straße überschritten hat. Das Café Emil an dieser Kreuzung lädt zum Verweilen ein. Emil aber ist wie besessen von seinem Vorhaben, das Ende der Schleißheimer Straße aufzusuchen. Umso mehr, als die Auffindung ihres Beginns derart erfolglos verlaufen ist.

Der Blick nach Norden zeigt eine lange, gerade Straße. Schritt für Schritt geht Emil diese lange, gerade Straße entlang, akkurat alle Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf speichernd. An der Stelle, wo links die Lerchenauer Straße abgeht, bemerkt er eine langgezogene Rechtskurve der Schleißheimer Straße. Er ist sehr gespannt, was sich hinter dieser langgezogenen Rechtskurve verbirgt, dass er völlig vergisst, weitere Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf zu speichern. Diese Zählung darf also, wenngleich nicht bewusst, an der Lerchenauer Straße für beendet erklärt werden.

Hinter der langgezogenen Rechtskurve verbirgt sich eine relativ abrupte Linkskurve. Was sich Emil nach der abrupten Linkskurve darstellt, kommt ihm bekannt vor: ein Blick nach Norden, auf eine lange, gerade Straße. Hätte Emil einen Stadtplan bei sich, stellte er fest, dass sein Blick ihm eine fast fünf Kilometer lange, schnurgerade Straße zeigt, die nahezu exakt nach Norden führt. Doch er hat keinen bei sich und sein Blick ist trüb wie das Wetter. Er geht weiter, wieder alle Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf speichernd. Es lässt sich feststellen, dass lediglich die Strecke zwischen Lerchenauer Straße und abrupter Linkskurve von Emil nicht vermessen wurde.

Die Schleißheimer Straße ist ab der abrupten Linkskurve teilweise vierspurig. Doch Emil erscheint sie auch hier nicht wie eine kurfürstliche Prachtstraße. Vielleicht ist es dem trüben Wetter oder seinem trüben Blick geschuldet, dass die Häuser am Straßenrand teilweise so grau aussehen. Er kommt an eine Querstraße, die nennt sich Hamburger Straße. Da die Hamburger Straße von Ost nach West verläuft und somit unmöglich nach Hamburg führen kann, kommen ihm ernste Zweifel, ob die Schleißheimer Straße überhaupt nach Schleißheim führt. Er geht weiter.

Viele Häuser und Querstraßen und auch Ampeln weiter: Plötzlich und unverhofft der freie Blick auf die Heidelandschaft. Auch die Schleißheimer Straße weitet sich. Ihre beiden Fahrtrichtungen sind getrennt durch einen großzügigen Grünstreifen. Enthusiasmus in Emil. Hier ist der Kurfürst also entlanggeritten, durch die weite Heide. Erwartungsvoll geht er weiter Richtung Norden. Doch der großzügige Grünstreifen verengt sich bald, und dort, wo die Schleißheimer Straße weitergehen soll, steht ein Straßenschild mit der Aufschrift „Fortnerstraße“. Ganz eindeutig: Nach Süden sagt das Straßenschild „Schleißheimer Straße“, nach Norden „Fortnerstraße“. Beim Blick zurück auf den großzügigen Grünstreifen inmitten der Schleißheimer Straße stellt Emil fest, dass es sich um die ehemalige Wendeschleife einer aufgelassenen Trambahnlinie handelt. Ist der Kurfürst mit der Trambahn hierher gefahren, um dann zu Fuß nach Schleißheim weiterzugehen?

Das Ende der Schleißheimer Straße

Das Ende der Schleißheimer Straße

Emil zieht es in die Fortnerstraße. Er will dieses schnöde Ende nicht akzeptieren. Die Schleißheimer Straße hat nach Schleißheim zu führen. Ist die Schleißheimer Straße etwa zu Ende, bloß weil sie Fortnerstraße heißt? Nach wenigen Metern, an einer Kirche mit dem Namen „Mariä Sieben Schmerzen“, wird die Fortnerstraße schließlich zu einem namenlosen Waldweg. Ist das alles, das von der Schleißheimer Straße übrig bleibt? Acht Kilometer ist sie wohl lang, die Schleißheimer Straße, errechnet Emil jetzt in seinem Kopf, wobei das nur eine ungefähre Zahl sein kann, denn ihr Beginn und ihr Ende sind für ihn nicht abschließend geklärt. Wenn man dieses – wohlgemerkt vorläufige – Ergebnis von acht Kilometern auf die sieben Schmerzen der Maria umlegt, ist jeder Kilometer ein Schmerz und einer schmerzfrei.

Beginn des namenlosen Waldwegs

Beginn des namenlosen Waldwegs

Emil zieht es weiter in den namenlosen Waldweg. Das Konzept der Querstraßen ist belanglos geworden, das der Ampeln sowieso. Wo ist Schleißheim? Emil geht den Weg entlang durch den Wald. Als der Wald zu Ende ist, steht Emil vor einer großen, freien Fläche, die umzäunt ist. Es geht nicht mehr weiter, geradeaus nach Norden, nur nach rechts oder nach links. Als ein Vorbeikommender vorbeikommt, fragt ihn Emil in seiner Verzweiflung: „Wieso ist hier ein Zaun? Hier muss es doch nach Schleißheim gehen!“
Der Vorbeikommende, der sich als ausgesprochen ortskundig erweist, erwidert: „Da geht’s schon lange nicht mehr nach Schleißheim. Da ist schon seit über hundert Jahren ein Flugplatz.“
„Und der Kurfürst, wie ist der dann nach Schleißheim gekommen, zu seinem Schloss?“ fragt Emil weiter.
„Der Kurfürst ist die ersten Jahre mitten durch das Flugfeld geritten, bis ihn ein landendes Flugzeug beinahe überfahren hätte. Dann hat er es auch bleiben lassen.“
Der Vorbeikommende fährt weiter und lässt Emil am Zaun zurück. Emil blickt über das Flugfeld nach Norden, und trotz des trüben Blicks misst er der Entfernung zu Schloss Schleißheim eine Strecke von eineinhalb Kilometern bei.

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