Das Wohnzimmer im besonderen Kontext des Lebens meiner Großeltern

oder: Lichtmess und der zweckloseste Raum, den ich je erlebt habe

Meinen Soziologieprofessor an der Uni, Herrn Dr. Klaus Zapiczinsky, habe ich als einen sehr gutherzigen und weltoffenen Menschen kennengelernt. Manchmal übertrieb er es mit seiner Gutherzigkeit, wie ich finde: Als ich und ein paar Kommilitonen unsere mündliche Prüfungen bei ihm ablegten und alle gemeinsam in seinem mit Büchern zugestellten Büro saßen, wusste einer der Kommilitonen auf keine der Fragen, die ihm Professor Zapiczinksy stellte, eine rechte Antwort, woraufhin Professor Zapiczinsky zu ihm sagte: Sie haben leider nichts gewusst. Genügend. Andererseits ermutigte mich seine Gutherzigkeit dazu, ihm folgendes Thema für meine Seminararbeit vorzuschlagen: Das Wohnzimmer im besonderen Kontext des Lebens meiner Großeltern.

Das Wohnzimmer ist das meistüberschätzte Zimmer in einer Wohnung. Man isst nicht darin, man schläft nicht darin, die Geselligkeit erschöpft sich oft im gemeinsamen Fernsehen. Allein ist man sowieso nie, ständig kann jemand unangemeldet hereinkommen, sei es der Partner, die Kinder oder sonstige Personen, mit denen man die Wohnung teilt. Das Wohnzimmer ist purer Luxus, ein Salon der kleinen Leute. Nach diesen Argumenten erkannte Professor Zapiczinsky die Notwendigkeit einer soziologischen Untersuchung des Wohnzimmers und stimmte meinem Seminarthema zu.

Als ich die Arbeit abgeschlossen hatte, stellte ich sie dem Auditorium zwischen den Bücherstapeln in Professor Zapiczinskys Büro vor:

Meine Großeltern haben kurz nach dem Krieg ein kleines Häuschen gebaut: quadratischer Grundriss, je drei Zimmer im Erdgeschoss und im ersten Stock, und im nordöstlichen Eck eine Diele, die über eine gekurvte Treppe die Stockwerke verband. Die Zimmer im ersten Stock lagen bereits unter dem Dach. Außerdem gab es einen Anbau mit Waschküche, Holzlage und Hühnerstall, über die Diele erreichbar. Meine Großeltern bewohnten nur die zwei südlichen Zimmer im Erdgeschoss: ihre Wohnküche und ihr Schlafzimmer. Das dritte Zimmer im Erdgeschoss war Kinderzimmer, die Mansardenzimmer im ersten Stock haben sie als Einliegerwohnung vermietet.

Als mit den Jahren das Nachkriegs-Wirtschaftswunder immer wunderbarer und meine Mutter erwachsen wurde, war meiner Großmutter, die einem stolzen Bauerngeschlecht entstammte, das kleine Häuschen ohne Wohnzimmer nicht mehr repräsentativ genug. Mein Großvater meinte, man könne doch das nördliche Zimmer als Wohnzimmer nutzen, weil meine Mutter ohnehin bald ausziehen würde, woraufhin meine Großmutter meinte, dieses Zimmer sei viel zu dunkel für ein Wohnzimmer, und wer sagt denn, dass meine Mutter ausziehen werde. Meine Mutter hatte während dieser Diskussionen meinen Vater kennengelernt und ihn geheiratet. Mein Vater entstammte einem ebenso stolzen Bauerngeschlecht wie meine Großmutter, was meiner Großmutter gefiel, und so beschloss meine Großmutter: Meine Eltern sollten den ersten Stock des Hauses beziehen. Dazu sollte das Haus vergrößert werden. Der vergrößerte Grundriss würde es erlauben, ein südwärts gerichtetes, helles Wohnzimmer im Erdgeschoss einzurichten.

Dieser Beschluss wurde umgesetzt, bereits in Anwesenheit meiner älteren Schwester, jedoch in meiner Abwesenheit. Aus dem ersten Stock wurde eine geräumige 5-Zimmer-Wohnung mit schönem Balkon, einer Wohnküche und einem modernen Bad. Meine Großeltern aber schienen dem Wirtschaftswunder während der Bauphase nicht mehr recht zu trauen, denn ihre Wohnung im Erdgeschoss blieb diesselbe, lediglich um einen Raum gestreckt. Sie wohnten in ihrer Wohnküche und schliefen in ihrem Schlafzimmer, das durch die bauliche Vergrößerung um einen Raum nach Westen gerückt war. Sie hatten also einen zusätzlichen Raum zwischen Wohnküche und neuem Schlafzimmer: ihr vormaliges altes Schlafzimmer. Diesen Raum richteten sie als Wohnzimmer ein, mit schönem Holzboden, einem eleganten Sofa mit dezenten grün-blauen Stoffbezügen und zwei dazupassenden Sesseln. Die Besuche konnten nun kommen und mit Stil empfangen werden. Doch da man das Wohnzimmer nur durch die Wohnküche betreten konnte, blieben die Besuche immer in der gemütlichen Wohnküche hängen, mit ihrem Holzofen, der Sitzecke und dem Diwan. Das Wohnzimmer sollte immer nur ein Durchgangszimmer zum Schlafzimmer bleiben – das zweckloseste Zimmer, das ich je erlebt habe. Oder wollten meine Großeltern mit dieser innenarchitektonischen Anordnung lediglich die Absurdität der Wohnzimmerkultur aufzeigen?

Am 2. Februar denke ich oft an das ehemalige Wohnzimmer meiner Großeltern, das sie nur als Durchgangszimmer nutzten. Meine Großeltern hatten jedes Jahr bis zu diesem Tag, dem 40. nach Weihnachten, einen Weihnachtsbaum in ihrem Wohnzimmer aufgestellt, wahrscheinlich um eventuellen Besuchen einen festlichen Rahmen zu bieten. Da der Raum nie beheizt wurde, weil sich nie jemand darin aufhielt, blieben die Nadeln des Baums jedes Jahr bis zum 40. Tag schön grün. Oft saß ich als Kind in der Weihnachtszeit am Baum, um mich an den brennenden Kerzen zu wärmen und mit den Figuren der darunterstehenden Krippe zu spielen. Ich war also, wenn ich mich recht erinnere, die einzige Person, die sich in diesem Raum aufhielt und ihn nicht nur durchschritt wie meine Großeltern, um zu ihrem Schlafzimmer zu gelangen.

Am 2. Februar haben meine Großeltern den Baum und die Krippe abgebaut, denn an diesem Tag endet nach dem christlichen Bauernkalender die Weihnachtszeit. Die Sonne wandert schon seit über einem Monat Richtung Nordhalbkugel. Die dunkelsten Nächte sind vorbei, und der Frühling meldet langsam seine Ansprüche gegenüber dem Winter an. Der Tag wird Lichtmess genannt, weil wieder Licht ins Leben kommt, weil das Leben neu erwacht. Dank Lichtmess habe ich an das Wohnzimmer meiner Großeltern schöne Erinnerungen, obwohl es der zweckloseste Raum war, den ich je erlebt habe.

Nach Ende meines Vortrags blickten die meisten meiner Kommilitonen recht gelangweilt drein, während Professor Zapiczinsky zufrieden nickte und sagte: Gratulation – Sie hatten, man kann es wohl so sagen, eine glückliche Wohnzimmer-Kindheit. Sehr gut.

Lichtmess in Volksmund und Tradition