Hannibal und Kannibal

eine Ballgeschichte

Hannibal und Kannibal lebten in einem etwas abgeschiedenen Landstrich. Um das Leben der beiden zu verstehen, muss man wissen, dass in diesem Landstrich ein anderes Deutsch gesprochen wurde. Das Wort ich existierte nicht, es wurde lediglich durch den Buchstaben i ausgedrückt. Das Verb haben wurde so konjugiert: I han, du hascht. Weitere Besonderheiten der Sprache in dieser Gegend: Die Bildung von Doppelkonsonanten wich von der im Standarddeutschen ab. Außerdem wurde das Prädikat immer vor das Satzsubjekt gestellt, Artikel und Präpositionen wurden weggelassen. Ein Beispiel: Wollte jemand sagen Ich gehe in das Haus, so sagte er: Geh i Haus.

Die Namen von Hannibal und Kannibal bedeuteten in dieser Sprache also soviel wie Ich habe den Ball und Ich kann mit dem Ball. Kannibal zeigte aus diesem Grund ständig, was er mit dem Ball kann, indem er ihn an Füßen, Schultern und Kopf jonglierte. Hannibal wollte den Ball jedoch haben, sodass er ihn, wenn er während Kannibals Jonglieren in der Luft war, mit seinen Händen schnappte und ihn fest an seinen Körper presste. Kannibal musste sich den Ball also wieder zurückerobern, um zu zeigen, was er mit dem Ball kann. Dabei halfen ihm in der Regel seine subtilen Jonglierfähigkeiten nicht, nein, es half nur rohe Kraft und Gewalt, um Hannibal den Ball wieder zu entreißen.

Eines Morgens, als Hannibal Kannibal den Ball wieder einmal weggeschnappt hatte, während jener mit ihm jongliert hatte, eskalierte der anschließende Kampf um den Ball. Hannibal wollte ihn unbedingt haben und ihn auf keinen Fall mehr hergeben, während Kannibal ihn mit Vehemenz zurückhaben wollte, um zu zeigen, was er mit ihm kann. Zwei Egos prallten unerbittlich aufeinander. Kannibal verfolgte Hannibal, während dieser mit dem Ball davonlief und ihn mit seinen Händen und Armen fest an seinen Körper presste. Als Kannibal Hannibal eingeholt hatte, wälzten sie sich im Staub, aber Hannibal, anders als manches andere Mal, ließ nicht locker und hielt den Ball fest umklammert. Kannibal war sehr zornig darüber, dass er nicht zeigen kann, was er mit dem Ball kann, weil Hannibal ihn nicht hergab. In einer Kurzschlusshandlung biss er Hannibal in die Kehle. Sein Biss war so stark wie sein Zorn (Sein Zorn manifestierte sich also in seinem Biss.): Er tötete Hannibal mit diesem Biss.

Hannibal bäumte sich noch einmal auf und fiel dann leblos zu Boden. Sein Lebenszweck Ich habe den Ball war dem Tod gewichen, und so ließen seine Hände den Ball endlich frei. Kannibal schnappte sich daraufhin den Ball und jonglierte ihn mit Füßen, Schultern und Kopf. Doch dann bemerkte er, dass es ihm gar nicht so viel Spaß macht, zu zeigen, was er mit dem Ball kann, wenn da kein Hannibal ist, der ihm den Ball wegnehmen will. Resigniert setzte er sich auf den Boden neben den leblosen Leib Hannibals. Der Ball kullerte davon. Kannibal langweilte sich. Wer hätte gedacht, dass sein Lebenszweck – zu zeigen, was er mit dem Ball kann – ihn ausgerechnet mit dem Tod Hannibals nicht mehr erfüllen würde. Aus dieser Langeweile heraus begann er, vom Leib des toten Hannibal zu essen. Seitdem ist Kannibal als Menschenfresser in Erinnerung geblieben, dabei ist er doch vor allem der gewesen, der mit dem Ball kann.