Sekt in der Trambahnschleife

Menschen bieten mir Sekt an, aber ich will keinen Sekt! Ich habe Sekt noch nie gemocht! Ich will weg von hier, hinaus an die frische Luft, und gerade als sich alle mit den Sektgläsern zuprosten, bahne ich mir den Weg nach draußen. Die Gläser klirren, aber nicht aneinander, sondern weil sie am Boden aufschlagen. Tizia, das sehe ich im Vorbeigehen, sieht mich vorwurfsvoll an. Sie hat allen Grund dazu, schließlich ist es ihre Galerie, die gerade eröffnet wird, die ich so stürmisch verlasse, dass Gläser auf den Boden klirren und in Scherben zerbrechen. Während meines stürmischen Abgangs fällt mir ein, dass ich früher dachte, eine Sekte sei eine Versammlung von Menschen, die gerne Sekt trinken. „Ihr Sektierer ihr!“ rufe ich in meinem Zorn, als ich endlich den Ausgang erreicht habe.

Draußen endlich Ruhe! Ich gehe die Straße entlang. Ich atme tief ein. Keine Leute um mich, die mich nerven. Ich bemerke aber jemanden hinter mir. Nicht optisch, denn weder habe ich hinten Augen noch drehe ich mich um, sondern akustisch. Es tut sich mir in Form einer lauten männlichen Stimme kund. Ich vermute Folgendes: Entweder der Mann spricht mit einem schwerhörigen Menschen, oder, und das erscheint mir die plausiblere Variante, er spricht über sein Mobiltelefon zu einem anderen Menschen. Ich drehe mich um, und finde meine Vermutung bestätigt: Der Mann spricht über sein Mobiltelefon mit einem anderen Menschen, und zwar in einer Lautstärke, die für einen Schwerhörigen angenehm, für mich, der direkt vor ihm geht, äußerst unangenehm ist.

Ich will es so sehen: Das Mobiltelefon ist ein Segen für die Menschheit. Früher telefonierten die Menschen hinter verschlossenen Wänden, zuhause in ihren Wohnungen oder in einer Zelle, und niemand anderer konnte teilhaben an ihren Gesprächen. Jetzt gehen sie während ihrer Telefonate mit ihren Mobilgeräten in der Gegend herum, um möglichst viele andere Menschen an ihren Gesprächen teilhaben zu lassen. Von diesem Blickwinkel aus gesehen ist mir das Gespräch meines Kompagnons – ja, so will ich ihn nennen: meinen Kompagnon, um das Soziale unserer Begegnung zu betonen – auf der Straße nicht mehr unangenehm. Ich fühle mich nicht mehr gezwungen, mitzuhören, habe nicht mehr den Eindruck, ein Gespräch wird mir aufgedrängt, nein, ich höre interessiert zu. Ich fühle mich als Teil einer intensiven Begegnung.

Die Diskussion meines Kompagnon hinter mir mit seinem schwerhörigen Gesprächspartner am anderen Ende der Funkverbindung dreht sich darum, wer Bier, wer Wein und wer Kippen mitbringt. Hauptsache kein Sekt, denke ich, denn das würde mich zornig machen. Sekt ist das Reizthema dieses Abends, das Reizthema meines Lebens, das bei mir das Fass zum Überlaufen bringt. Reift Sekt in Fässern? Egal. Hauptsache kein Sekt, nur Bier, Wein und Kippen. Gut. Sie vereinbaren, sich auf der Grüninsel in der Trambahnschleife zu treffen, dort seien sie ungestört und können in Ruhe feiern. Eines verstehe ich nicht: Sie wollen ungestört sein, andererseits bekommt gerade die ganze Straße mit, wo sie sich treffen werden, inklusive der Schwerhörigen. Und inklusive mir. Was machen sie, wenn die ganze Straße kommt? Haben sie genug Bier, Wein und Kippen dafür?

Mein Verständnisproblem ist mir egal: Ich will diese Begegnung nutzen, will mich einklinken in die soziale Komponente dieses offenen Mobilgesprächs. Ich drehe mich wieder um zu meinem Kompagnon und sage erfreut: „Ich komme auch!“ Offenbar irritiert verstummt er plötzlich. Sein Blick erinnert mich an den von Tizia, als ich die Galerie der sich mit Sekt Zuprostenden verließ. Mein Hirn assoziiert die Ähnlichkeit der vorwurfsvollen Blicke Tizias und meines Kompagnons sofort mit Sekt: Er wird doch wohl nicht Sekt mitbringen zur Feier in der Trambahnschleife! Streng schaue ich ihn an: Kein Sekt, sondern nur Bier, Wein und Kippen! Ich hoffe er versteht.

Trotzdem habe ich mein Vertrauen in diese Veranstaltung in der Trambahnschleife verloren. Ich biege ab in die nächste Querstraße, während mein Kompagnon, noch immer mit seinem Mobiltelefon am Ohr und das Gespräch wieder aufnehmend, geradeaus weitergeht. Zuhause angekommen, hocke ich mich betrübt in den Sessel. Ich kann Tizias Blick und den Blick meines Kompagnons nicht vergessen. Diese Blicke ähnelten sich so sehr, dass ein Zusammenhang mit Sekt zwangsläufig bestehen muss! Warum nur Sekt, warum nur immer Sekt, obwohl ich Sekt nicht ausstehen kann! Bin ich wirklich nur von Sektierern umgeben? Ich bekomme Angst. Ich bekomme Angst, dass die Partytiger der Trambahnschleife herausfinden wo ich wohne, mich abholen und gewaltsam zur Trambahnschleife schleifen, wo sie mir dann Sekt einflößen. Unruhig und voller Angst gehe ich ins Bett und schlafe erst ein, als meine Valium-Tablette endlich wirkt.

Nächster Morgen: Ich wache auf, noch benommen. Doch die Neugier treibt mich zur Trambahnschleife. Vorsichtig nähere ich mich dem Ort des Geschehens. Er ist verlassen. Ich finde leere Bier- und Weinflaschen und Zigarettenstümmel. Keine Sektflaschen, nirgends, soviel ich auch danach suche. Meine Angst war unbegründet. Da waren keine Sektierer am Werk. Die Einladung, die mein mobiltelefonierender Kompagnon an seine Umwelt ausgesprochen hat, war von ehrenhaftem Charakter, war ein Geschenk für die Welt. Um Buße zu tun und meine Gedanken zu ordnen, sammle ich Kronkorken und Zigarettenstümmel ein, die verstreut herumliegen, und gebe sie in leere Becher und Flaschen, um diesem großen Fest an der Trambahnschleife, das ich leider verpasst habe, ein Denkmal zu setzen.