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Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Krieg und Saufen III

Als ich erwachsen wurde, merkte mein Vater, dass er mich nicht weiter würde beschützen können vor den Schlägen dieser Welt, dass er mich entlassen muss ins Leben, auf die Gefahr hin, dass ich Schläge abbekomme. Die Angst, dass sein Sohn Schläge abbekommen könnte, solche Schläge abbekommen könnte wie er, diese Angst hat er nicht ertragen. Auch das Trinken half nicht mehr: Diese Angst wurde zu groß. Mein Vater hat nie gelernt, Dinge auszusprechen. Deshalb blieb er allein in seiner Angst. Deshalb hat er es nicht mehr ausgehalten. Deshalb hat er beschlossen, zu gehen, leise, ohne etwas zu sagen. Wurde einfach krank, todkrank, starb und verstummte endgültig.

Viktor Frankl sagt, es gibt keine Täter und keine Opfer. Es gibt nur Menschen, die sich zu Tätern machen und andere zu Opfern und Menschen, die sich zu Opfern machen und andere zu Tätern. Aber sie bleiben immer Menschen. War mein Großvater also ein Mensch, der sich zum Täter gemacht hat und andere zu Opfern und mein Vater einer, der sich zum Opfer gemacht hat und andere zu Tätern? Oder sollte ich endlich aufhören, in Täter- und Opferkategorien zu denken?

Das Zimmer meines Therapeuten, in dem die Blätter auf dem Boden liegen, verwandelt sich in eine Lichtung, die vom Vollmond beschienen wird. Die Bäume stehen wie stumme Wächter ringsherum. Da erscheint mein Großvater auf der Lichtung. Er ist nicht so, wie sie mir von ihm erzählt haben, nämlich besoffen und schlagfertig, sondern klar und ruhig. Mein Großvater sagt: Natürlich bin ich gegen den Krieg, natürlich. Doch ich bin nicht Herr geworden über den Krieg, über den Krieg in mir. Stattdessen haben andere ihn abgekriegt: die Juden. Dein Vater. Dann geht er fort, über die in mondblau getränkte Lichtung hinweg, auf der ich jetzt meinen Vater stehen sehe. Mein Großvater nimmt meinen Vater in den Arm, als wäre der Krieg nie ein Thema gewesen, sondern nur die Liebe, die Liebe, die Liebe. Ich blicke zur Erde: Ich rieche und spüre sie in ihrer nächtlichen Feuchte und Kühle. Ich denke an die Juden, auf die mit dem Finger gezeigt wurde, auf die die Waffen gerichtet wurden, die getötet wurden. Ich denke an die Friedfertigkeit predigende Christenheit, die seit Jahrhunderten an das Morden gewöhnt ist.

Und nun zum dritten Zettel, sagt der Therapeut und holt mich von der Lichtung ins Zimmer zurück: zu dir! Entsetzt blicke ich auf den Zettel, also auf mich. Was soll ich denn nun machen in diesem emotionalen Chaos, in diesem Jammertal der Ahnen? In diesem verworrenen Krieg mit meinen Vätern? Die Wut hat mich müde gemacht, sage ich. Ich habe keine Kraft mehr, auf meinen Vater und meinen Großvater wütend zu sein. Ich finde keine Kraft bei meinen Vätern, bei diesen Verlierern! Wie soll ich Kraft haben für mein eigenes Leben? Verzweifelt werfe ich mich auf den Boden und weine, weine, weine. Dann richte ich mich auf und schreie, schreie, schreie. Meine Fassade der Friedfertigkeit zerbröselt. Der Krieg ist endgültig ausgebrochen in mir und überwältigt mich. Alle Versuche aber, die Angriffe gegen meinen Großvater fortzusetzen, laufen ins Leere. Ich bin zurückgeworfen auf mich selbst. Ich kehre zurück zur mondblauen Lichtung, auf der ich eben meinen Großvater getroffen habe. Ich sehe ihn am anderen Ende stehen, am Waldrand, bei den schwarzen Bäumen der Nacht, mit meinem Vater. Dort sind sie also stehen geblieben. Warten sie auf mich? Ich denke mir: Ihr könnt mich doch jetzt nicht alleine lassen! Ich brauche euch! Verschwindet nicht im Wald, wartet! Ich stehe auf und laufe, so schnell ich kann. Ich laufe auf die beiden zu und habe das Gefühl, gleich erbarmungslos in sie hineinzustoßen, mit einem heftigen Aufprall, doch plötzlich heben sie mich mit einer eleganten, kraftvollen Bewegung auf ihre Schultern und laufen mit mir weiter.

So reite ich auf den Schultern meines Vaters und meines Großvaters durch die mondblaue Nacht. Es ist wie ein Traum, aber es ist wahr: Ich reite auf den Schultern meines Vaters und meines Großvaters durch die Nacht. Ich spüre ihre Kraft unter mir. Sie tragen mich. Es tut gut, die Dinge etwas erhöht zu sehen. Es tut gut, nicht im Sumpf der Trauer zu kriechen, sondern die Luft der Höhe zu atmen.

Wieder im Zimmer meines Therapeuten angekommen, fällt mir als erstes auf, wie die Sonne durch das Fenster scheint. Der Krieg in mir scheint aufgelöst. Und wenn nicht, herrscht zumindest ein Waffenstillstand, den ich in dieser Qualität noch nicht kenne. Der Kriegsschauplatz meiner Beziehung zu Josefine? Den gilt es schnellstens zu befrieden, und ich glaube, es liegt in meiner Hand. Ich hoffe nur, dass die Fronten zwischen ihr und mir mittlerweile nicht zu verhärtet sind, jetzt, wo sich die Fronten in mir endlich gelockert haben und der Krieg dem Frieden eine Chance zu geben scheint.

* ENDE *

Krieg und Saufen II

Was berechtigt mich, meinen Großvater anzuklagen? Was weiß ich über meinen Großvater? Er war Nationalsozialist, von Anfang an. Das wurde immer wieder erzählt, denn sie brauchten einen, an dem sie sich reinwaschen konnten, um zu vergessen, dass sie selber Nazis waren. Also war mein Großvater der böse Nazi in der Familie. Also war mein Großvater der böse Nazi im Dorf. Es ist immer gut, einen zu haben, dem man Unangenehmes zuschieben kann, um es bei sich selbst nicht sehen zu müssen. Ich zeige mit dem Finger auf meinen Großvater.

Ich sehe meinen Großvater, wie er nachhause kommt vom Wirtshaus, stockbesoffen. Er hat zugeschlagen, der böse Nazi, hat seine Frau und seine Söhne geschlagen, unerbittlich und unversöhnlich. Ein böser Nazi schlägt zu, was denn sonst? Ich sehe meinen Vater, wie er sich duckt vor den Schlägen. Ich sehe, wie mein Großvater endlich von den Schlägen ablässt und erschöpft ins Bett fällt und eine quälende Ruhe einkehrt. Die Nacht vergeht ohne Schlaf, und im Morgengrauen möchte jeder glauben, dass nicht geschehen ist, was geschehen ist. An den Tagen klebte ein Geruch wie verschüttetes Bier. Auf diesen Geruch wurde neues Bier geschüttet.

Die Zettel meiner Väter auf dem Boden, und ich beginne zum ersten Mal, an meiner Friedfertigkeit zu zweifeln. Denn die Zettel auf dem Boden machen mich wütend. Aber ich bin nicht bereit, meine Friedfertigkeit aufzugeben. Sie ist mein Markenzeichen. Ich bin der nette Emil, der der Welt nichts Böses tut. Und Krieg – Krieg ist ganz weit weg von mir. Der Therapeut zeigt unterdessen auf den anderen Zettel am Boden und fragt, was es denn mit diesem Zettel auf sich habe? Das ist mein Vater, sage ich, aber das interessiert mich nicht. Mein Vater hat hier nichts zu sagen, denn mein Vater hat sowieso sein ganzes Leben lang seine Fresse gehalten, hat zu allem geschwiegen. Das habe ich nie verstanden, sage ich, dass mein Vater sein ganzes Leben lang seine Fresse gehalten hat, dass er geschwiegen hat, mehr noch, ich habe mich maßlos darüber geärgert. Ich merke, wie ich schon wieder wütend werde. Da fällt mir eine kleine Episode ein, die durch meine Wut hochkommt: Als Pubertierender habe ich meinen Vater mal so lange genervt, bis ihm die Hand auskam und er mir eine gescheuert hat. Das war einer der schönsten und intensivsten Momente mit meinem Vater. Ich habe ihn gespürt. Ich habe ihn erlebt als einen Mann der Tat. Sonst war er wie ein lebloses Opfer. Warum war er sonst so leblos? Haben ihn die Schläge meines Großvaters so leblos gemacht? Ich koche vor Ärger und Wut über die Leblosigkeit meines Vaters und sehe meine Friedfertigkeit davonschwimmen. Ist der Krieg in mir, und ich kann gar nicht gegen ihn sein, weil er ein Teil von mir ist? Sollte ich vorher den Krieg mit mir beenden, bevor ich den Krieg von anderen anklage?

Refugees welcome! Dieser Spruch regt mich auf. Hier ist gar niemand welcome, denn hier ist Krieg. Ich gehe die Straße entlang und sehe in die Gesichter, die mir entgegenkommen. Die meisten sind angespannt als befänden sie sich mitten im Krieg, sodass ich annehmen muss, dass sie sich im Krieg befinden. Doch welcher Krieg wird hier ausgefochten? Woher diese Abwehrhaltung? Refugees are not welcome, natürlich nicht. Scheiß Islamisten, kommt bloß nicht hierher, sondern bleibt dort, wo ihr herkommt! Wenn ihr hier seid, zeigt ihr uns nämlich, dass wir Scheiß Christen sind. Das halten wir nicht aus. Mit Kriegen kennen wir uns aus in Europa, können eine jahrhundertelange Erfahrung vorweisen. Aber wir wollen diese Erfahrung vergessen, leugnen, und jetzt kommt ihr daher und zeigt uns gnadenlos, wie kriegserfahren wir sind. Warum wir so kriegserfahren sind? Weil wir geil sind auf Krieg. Krieg bedeutet, jemand anderen zu finden, auf den ich meine Waffen richten kann, auf den ich mit dem Finger zeigen kann. Ablenkung von mir selbst, das ist die oberste Maxime, auch wenn andere dabei krepieren. Und wenn das nicht hilft, dann hilft nur: Saufen, saufen, saufen, bis ich nichts mehr spüre.

Mein Vater hat nicht schlimm gesoffen. Er hat diskret gesoffen, meist im Keller. Er schämte sich, dass die Bierflasche sein Rettungsanker war, aber er konnte nicht von ihr lassen. Er hat auch nicht geschlagen im Suff, nie. Lieber trank er noch ein Bier, klammerte sich noch fester an die Flasche, bevor er auf die Idee kam zu schlagen. Er hatte Angst vor Schlägen, davor, welche abzubekommen und davor, selbst zu schlagen. Er wollte mich beschützen vor allen Schlägen dieser Welt. Er hatte panische Angst vor den Schlägen dieser Welt, solche Angst, dass er Angst hatte vor dem Leben als ganzes. Als Dreijähriger die Bomben zu sehen, die die Stadt zerstören, und die Angst, der eigene Vater könnte es sein, den sie getroffen haben; danach den Vater wiederzusehen, aber seinen Schlägen ausgesetzt zu sein, das war zu viel, das hat er sein Leben lang nicht verkraftet. Das hat ihn stumm gemacht. Das hat ihn an die Bierflasche geklammert. Es ist leicht, sich dem Alkohol hinzugeben, sich dem Alkohol hinzugeben und nicht anderen Drogen. Denn Alkohol ist eine legale Droge, im Gegensatz zu anderen Drogen. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, und keiner sagt etwas. Die Gesellschaft gibt ihren Segen dazu. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, um die Schläge zu vergessen. Aber die Schläge gehen weiter, im Kopf, gnadenlos, trotz Betäubung.

Fortsetzung folgt…

Krieg und Saufen I

Der Kriegsschauplatz meiner Beziehung zu Josefine hat mich zu meinem Therapeuten geführt. Alles tobt zwischen ihr und mir, dabei bin ich doch der friedfertigste Mensch, den man sich vorstellen kann. Ich würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Warum tut Josefine mir das an? Womit habe ich das verdient?

Krieg? Natürlich bin ich gegen den Krieg, schon immer. Manchmal werde ich wütend wegen der Kriege, wegen dem Krieg, der noch immer in den deutschen Köpfen ist. In meiner Wut bekomme ich einen Hass auf die Juden. Die Juden sind die Provokateure der Weltgeschichte. Erlöstes Volk – das ich nicht lache! Sie sind Menschen wie du und ich, die sich zu Opfern hochstilisieren. Ihr Opfer, ihr! Manchmal regt sich in mir eine gewisse Empathie für den Bastard Hitler. Hat er nicht getan, was unausweichlich war? Die deutsche Geschichte – eine Erfolgsgeschichte, wäre da nicht Hitler gewesen! Was für eine Lüge! Die deutsche Geschichte – eine Erfolgsgeschichte, weil da Hitler gewesen ist! Schon besser! Hitler als Stellvertreter der Deutschen, ein Mann des Volkes, der seinen Kopf hingehalten hat für das Volk. Das Volk hat ihn bereitwillig unterstützt. Geh voran, Bastard, und tu endlich, was wir schon lange tun wollten! Ablenkung von der eigenen Not tut immer gut. Da kommt der Jude gerade recht. Da schauen wir lieber auf den Juden und zeigen mit dem Finger auf ihn, anstatt auf uns zu schauen. Wir Täter, wir!

Dachau? Lemberg? Stalingrad? Ich weiß nicht, wo er war. Ich weiß nicht, ob er Juden hasste oder Nazis liebte. Sie sagten und sagen es mir nicht. Er kam nachhause, mein Großvater, haben sie gesagt. Aber von wo er kam, haben sie nicht gesagt. Er war nicht geläutert, haben sie gesagt, er war und blieb der Nazi. Vielleicht wollten sie gar nicht, dass er nachhause kam, aber er kam nachhause. Kam nachhause und war nicht mehr derselbe. War verstört und hat sich dem Alkohol hingegeben. Es war leicht, sich dem Alkohol hinzugeben, sich dem Alkohol hinzugeben und nicht anderen Drogen. Denn Alkohol ist eine legale Droge, im Gegensatz zu anderen Drogen. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, und keiner sagt etwas. Die Gesellschaft gibt ihren Segen dazu. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, um den Krieg zu vergessen. Aber der Krieg geht weiter, im Kopf, gnadenlos, trotz Betäubung.

Natürlich bin ich gegen den Krieg, schon immer. Ich bin der friedfertigste Mensch, den man sich vorstellen kann. Doch etwas tobt in mir, beständig. Ich will es nicht Krieg nennen, doch nicht Krieg, nein, das ist ein zu krasses Wort, das ich ungern in den Mund nehme, eher innere Unruhe, die mich in meinem friedfertigen Dasein stört. So sage ich es dem Therapeuten. Ich sage, dass ich es nicht mehr aushalte, nicht nur mit Josefine, nein: dass ich insgeheim meine Mutter nicht mehr aushalte, dass ich sie hasse dafür, dass sie mich auf diese Welt gebracht hat, in der nur der Krieg tobt und ich als friedfertiger Mensch völlig fehl am Platz bin.

Ich habe den Eindruck, mein Therapeut will mich nicht hören. Er geht nicht ein auf meine Klagen über meine Mutter, sondern redet von meiner väterlichen Linie und davon, dass Hass auf die Frauen nur entsteht, wenn man sich als Mann selbst nicht liebt. Er legt drei Zettel auf den Boden und sagt: Ein Zettel bist du, einer ist dein Vater, einer ist dein Großvater.

Ich habe meinen Großvater nie gekannt. Er ist gestorben, als selbst mein Vater noch ein Kind war. Er war 45 Jahre alt, als er gestorben ist. Da war der Krieg seit zehn Jahren vorbei. Zehn Jahre hat er den Krieg überlebt, an dem er, wie ich vermute, gestorben ist. Zehn Jahre hat er seinen Leib noch weiter geschleppt durchs Leben, obwohl er innerlich bereits gestorben war. In der Familie wurde nicht darüber gesprochen, warum er so früh gestorben ist, aber ich glaube es zu wissen: Er hat sich zu Tode gesoffen. Nach zehn Jahren hatte er es endlich geschafft: Genug gesoffen, um zu sterben. Der Zettel, der da als mein Großvater auf dem Boden liegt, wird lebendig, und ich werde wütend. Es ist Krieg im Raum. Ich bin im Krieg mit meinem Großvater. Ich fühle mich bedroht in meiner Friedfertigkeit. Mein Großvater bedroht diese Friedfertigkeit. Ich zeige mit dem Finger auf ihn.

Fortsetzung folgt…

Neben mir der Nachmittag (Ruf der Nacht)

Neben mir der Nachmittag, nicht mit mir. Ich stehe neben ihm, als wäre ich aus ihm herausgefallen. Er vergeht ohne mich, und ehe ich mich berapple, ist er schon wieder vorbei. Es kommt der Abend, aber auch mit ihm ist es nicht besser. Abweisend und kalt präsentiert er sich mir und vergeht, ohne das ich ihn leben kann. Dann kommt endlich die Nacht, in der ich mich meiner Muse hingeben kann – der Schlaflosigkeit. In ihr finde ich Zeit für mich, werde nicht getrieben vom Getriebe des Tages. In ihr finde ich Zeit, Geschichten wie diese zu fabulieren:

Es war einst ein Sohn, dessen Vater hieß Rudolf Ruf. Zu Ehren des Vaters wurde der Sohn Rudolf genannt, zu Ehren des Familiennamens Rufus. Der Sohn hieß also Rudolf Rufus Ruf. Später ging der Sohn ins Verlagsgeschäft und gründete den rururu-Verlag.

Oder ich tauche ein in Zeilen wie diese:

Im welken Walde ist ein Vogelruf,
der sinnlos scheint in diesem welken Walde.
Und dennoch ruht der runde Vogelruf
in dieser Weile, die ihn schuf,
breit wie ein Himmel auf dem welken Walde.
(Rilke)

Ich stelle mir vor, wie ich bin, in diesem welken Walde, hineingeschmiegt in den Vogelruf, der mich trägt.

All das ermöglicht mir meine Schlaflosigkeit. In ihr finde ich zu mir, bin ganz ich selbst.

Nach einer Nacht voller Müßiggang mündet bald der Morgen vor meinem Fenster. Der Vormittag liegt vor mir. Ich sollte dringend schlafen, bevor mich der Sog des Tages wieder erfasst, ich mich darin verliere und wieder neben mir stehe. Doch halt:

Süße Schlaflosigkeit,
weiche noch nicht –
du bist so schön:
Ich liebe dich!

 

Münchner Fürstenwege, Teil 2

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, hatte schlechte Laune. Hatte er sich zu viel erwartet vom Besuch des Schlosses Nymphenburg? Ja, er hatte sich zu viel erwartet: Er hatte sich nichts weniger als die Offenbarung der Schönheit erwartet. Seine Realität war an seinen Erwartungen zerbrochen. Seine Begleiterin Sophia war auf die Toilette gegangen, und so stand er alleine in den Parkanlagen. Sein Blick schweifte nach Westen, den Schlosskanal entlang. Er dachte an Otto, den unglücklichsten König Bayerns, über den er gestern gelesen hatte.

Sophia hatte vom Süden gesprochen; dass der Norden ein schöner Ort ist, weil man von dort nach Süden blickt. Der Süden: Sehnsuchtsort. Da schoss es ihm plötzlich siedend heiß durch den Kopf: Ziemlich genau südlich von hier, von Nymphenburg, liegt Schloss Fürstenried, auf dem König Otto seine geisteskranken Jahre, also den Großteil seines Lebens, verbracht hatte! Als Sophia von der Toilette zurückgekehrt war, bestürmte er sie: „Sophia, lass uns zum Schloss Fürstenried laufen! Hier… hier sind mir zu viele Leute. Und dort, in diesem südlichen Einöd, wird es sehr schön sein!“
„Ach Oskar! Sind wir nicht schon genug gelaufen heute? Ich würde gerne hier mit dir einen Kaffee trinken!“
„Ich trinke keinen Kaffee“, entfuhr es Oskar. „Wenn du nicht gehen willst, dann… dann fahren wir hin, ganz herrschaftlich, mit Kutsche, wie früher die Könige!“
„Du Spinner!“ sagte Sophia, fühlte sich aber gleichzeitig geschmeichelt.

Oskar ging ins Marstallmuseum am Schloss und fragte, ob es möglich sei, eine der ausgestellten Kutschen für eine Fahrt nach Fürstenried zu verwenden. Unmöglich, die Gefährte sind zu prächtig und wertvoll, um mit ihnen zu fahren, hieß es. Zu prächtig! Um die Schönheit selbst zu erfahren, kann nichts zu prächtig sein! ärgerte sich Oskar. Aber es half nichts. Nach längerer Diskussion ließ das Museum eine Kutsche aus der Stadt kommen. Ungeduldig stand Oskar am Rondell, um die Kutsche zu erwarten, während Sophia die Schwäne im Wasser beobachtete. Dann kam die Kutsche endlich. Oskar befahl in strengem Ton, den königlichen Weg nach Schloss Fürstenried zu nehmen.
„Den königlichen Weg?“ fragte der Kutscher verdutzt.
„Stellen Sie sich nicht so an! Stellen Sie sich stattdessen vor, Kurfürst Max Emanuel säße in Ihrer Kutsche, oder König Ludwig II, oder König Otto. Wie würden Sie diese Herrschaften nach Fürstenried bringen?“
Der Kutscher straffte die Zügel und setzte das Fuhrwerk Richtung Auffahrtsallee in Bewegung.
„Stopp! Nicht nach Osten! Oder wollen Sie uns zur Residenz bringen? Fahren Sie sofort scharf nach Süden, nach Fürstenried!“

Der Kutscher schwenkte nach Süden, um eine kleine Gasse aus dem Schlossrondell zu nehmen, die nur von Fußgängern und Radfahrern benutzt wird. Allerdings versperrte ein betonierter großer Blumentopf die Ausfahrt über diesen Weg. Oskar wurde wütend und schimpfte. Ein Blumentopf wird uns doch nicht daran hindern, nach Fürstenried zu fahren! Er stieg aus der Kutsche, um den Topf zu verrücken. Zwei Männer kamen den Weg entlang und halfen ihm, sodass sie es zu dritt schließlich schafften, ihn aus dem Weg zu räumen. Die Kutsche konnte passieren.

„So, wo wollen Sie jetzt hin?“ fragte der Kutscher etwas genervt.
„Nach Fürstenried natürlich!“
„Ja, aber auf welchem Weg? Welcher ist der königliche Weg?“
„Fahren Sie die Kutsche oder ich? Fahren Sie uns nach Fürstenried, wie Sie einen König nach Fürstenried fahren würden!“
Der Fuhrmann schüttelte den Kopf und fuhr die Hirschgartenallee entlang, bog dann rechts ab zur Laimer Bahnunterführung. Durch diese dunkle Unterführung erreichten sie die Fürstenrieder Straße. Die Fürstenrieder Straße ist eine mehrspurige Straße, die etwa fünf Kilometer lang schnurgerade nach Süden führt. Ursprünglich, vor fast dreihundert Jahren, als herrschaftlicher Verbindungsweg zwischen Nymphenburg und Fürstenried angelegt, führte sie damals über weite Wiesen und durch dichte Wälder. Heute ist sie eine stark befahrene westliche Tangente der Stadt und durchgehend bebaut, überwiegend im Nachkriegsstil.

Die Kutsche zuckelte langsam dahin, von Verkehr umtost, mit zwei Pferden vornedran. Inmitten dieses tosenden Verkehrs erfasste Oskar ein Gefühl der Geborgenheit. Er blickte zu Sophia, als würde er sie erst jetzt an seiner Seite bemerken. „Schön ist es!“ entkam es seinen Lippen, und ihm wurde leicht schwindelig dabei, als dieser Satz seine Lippen passierte, so ungewöhnlich klang er in seinen Ohren.

„Schön? Wenn du die Fürstenrieder Straße meinst, fällt es mir gerade schwer, sie schön zu finden. Andererseits: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet.“ Sophia sagte das und schaute dabei Oskar in die Augen, mit einem Lächeln, das an diesem Tag nicht von ihr zu weichen schien, möge passieren was wolle.

Fortsetzung folgt.

Hannibal und Kannibal

eine Ballgeschichte

Hannibal und Kannibal lebten in einem etwas abgeschiedenen Landstrich. Um das Leben der beiden zu verstehen, muss man wissen, dass in diesem Landstrich ein anderes Deutsch gesprochen wurde. Das Wort ich existierte nicht, es wurde lediglich durch den Buchstaben i ausgedrückt. Das Verb haben wurde so konjugiert: I han, du hascht. Weitere Besonderheiten der Sprache in dieser Gegend: Die Bildung von Doppelkonsonanten wich von der im Standarddeutschen ab. Außerdem wurde das Prädikat immer vor das Satzsubjekt gestellt, Artikel und Präpositionen wurden weggelassen. Ein Beispiel: Wollte jemand sagen Ich gehe in das Haus, so sagte er: Geh i Haus.

Die Namen von Hannibal und Kannibal bedeuteten in dieser Sprache also soviel wie Ich habe den Ball und Ich kann mit dem Ball. Kannibal zeigte aus diesem Grund ständig, was er mit dem Ball kann, indem er ihn an Füßen, Schultern und Kopf jonglierte. Hannibal wollte den Ball jedoch haben, sodass er ihn, wenn er während Kannibals Jonglieren in der Luft war, mit seinen Händen schnappte und ihn fest an seinen Körper presste. Kannibal musste sich den Ball also wieder zurückerobern, um zu zeigen, was er mit dem Ball kann. Dabei halfen ihm in der Regel seine subtilen Jonglierfähigkeiten nicht, nein, es half nur rohe Kraft und Gewalt, um Hannibal den Ball wieder zu entreißen.

Eines Morgens, als Hannibal Kannibal den Ball wieder einmal weggeschnappt hatte, während jener mit ihm jongliert hatte, eskalierte der anschließende Kampf um den Ball. Hannibal wollte ihn unbedingt haben und ihn auf keinen Fall mehr hergeben, während Kannibal ihn mit Vehemenz zurückhaben wollte, um zu zeigen, was er mit ihm kann. Zwei Egos prallten unerbittlich aufeinander. Kannibal verfolgte Hannibal, während dieser mit dem Ball davonlief und ihn mit seinen Händen und Armen fest an seinen Körper presste. Als Kannibal Hannibal eingeholt hatte, wälzten sie sich im Staub, aber Hannibal, anders als manches andere Mal, ließ nicht locker und hielt den Ball fest umklammert. Kannibal war sehr zornig darüber, dass er nicht zeigen kann, was er mit dem Ball kann, weil Hannibal ihn nicht hergab. In einer Kurzschlusshandlung biss er Hannibal in die Kehle. Sein Biss war so stark wie sein Zorn (Sein Zorn manifestierte sich also in seinem Biss.): Er tötete Hannibal mit diesem Biss.

Hannibal bäumte sich noch einmal auf und fiel dann leblos zu Boden. Sein Lebenszweck Ich habe den Ball war dem Tod gewichen, und so ließen seine Hände den Ball endlich frei. Kannibal schnappte sich daraufhin den Ball und jonglierte ihn mit Füßen, Schultern und Kopf. Doch dann bemerkte er, dass es ihm gar nicht so viel Spaß macht, zu zeigen, was er mit dem Ball kann, wenn da kein Hannibal ist, der ihm den Ball wegnehmen will. Resigniert setzte er sich auf den Boden neben den leblosen Leib Hannibals. Der Ball kullerte davon. Kannibal langweilte sich. Wer hätte gedacht, dass sein Lebenszweck – zu zeigen, was er mit dem Ball kann – ihn ausgerechnet mit dem Tod Hannibals nicht mehr erfüllen würde. Aus dieser Langeweile heraus begann er, vom Leib des toten Hannibal zu essen. Seitdem ist Kannibal als Menschenfresser in Erinnerung geblieben, dabei ist er doch vor allem der gewesen, der mit dem Ball kann.

Pilip und Filif Otto

Ein ehemaliger Schulkamerad von mir heißt Pilip Otto. Seine Zwillingsschwester war auch in meiner Klasse, sie heißt Filif Otto. Während meiner ganzen Schulzeit fand ich die Namen der beiden etwas eigenartig. Ich habe sie aber nie gefragt, warum sie heißen wie sie heißen, sondern habe es einfach so hingenommen.

Neulich habe ich Pilip getroffen und ihn endlich gefragt, warum er und seine Schwester denn so heißen, wie sie heißen. Pilip redete gleich bereitwillig drauf los, meinte, das sei eine gute Frage. Er habe sich das selbst schon früh gefragt, als Teenager, und seine Eltern darauf angesprochen. Sie hätten lange gezögert, mit der Wahrheit über seinen und dem Namen seiner Schwester herauszurücken, so als schämten sie sich dafür, aber er blieb hartnäckig. Nun wisse er alles darüber, warum er und seine Schwester heißen, wie sie heißen.

„Also, das war so“, begann er: „Meine Eltern, so haben sie es mir erzählt, hatten beide schon früh, unabhängig voneinander, ein großes Faible für den Namen Philipp. Als sie sich kennenlernten und ihre gemeinsame Vorliebe entdeckten, wurde daraus eine Leidenschaft. Sie haben sich stundenlang damit unterhalten, sich gegenseitig den Namen Philipp zuzurufen. Sogar beim Sex, sagten sie, hätten sie ihre Lust gesteigert, indem sie immer wieder Philipp zueinander sagten. Sie wünschten sich folglich nichts sehnlicher als einen Sohn, den sie Philipp nennen können. Als meine Mutter schwanger wurde, waren sie sehr aufgeregt und hofften innigst, sie würde einen Sohn gebären, den sie dann Philipp nennen könnten. Mit Fortschreiten der Schwangerschaft stellte sich heraus, dass nicht ein Kind im Leib meiner Mutter heranwächst, sondern zwei. Meine Eltern waren – nun ja – nicht enttäuscht, aber doch geknickt. Wenn eines der Kinder ein Junge werden würde, den sie Philipp nennen, wie sollten sie das zweite Kind nennen? Jeder andere Name als Philipp wäre nur ein Abklatsch, so groß war die Leidenschaft meiner Eltern für den Namen Philipp. Das zweite Kind, das nicht Philipp heißen würde, wäre auf ewig der Außenseiter, der weniger Geliebte. Als sich herausstellte, dass höchstwahrscheinlich ein Mädchen und ein Junge im Leib meiner Mutter heranwachsen, nämlich meine Schwester und ich, überlegten meine Eltern kurzzeitig, uns Philipp und Philippine zu nennen. Diese Idee haben sie aber schnell verworfen, denn, so sagte mein Vater, Freunde von ihnen hatten damals ihre gemischten Zwillinge Clemens und Clementine genannt, was sowohl ihm als auch meiner Mutter nicht gefiel.

Was also tun? Sie verfielen in zunehmende Ratlosigkeit, je größer der Bauch meiner Mutter wurde. Als sie eines Abends wieder zusammensaßen und darüber sinnierten, wie sie denn ihre Kinder nun nennen könnten, fiel ihnen auf, dass ihre eigenen Vornamen beide Palindrome sind, also Wörter, die vorwärts wie rückwärts gelesen identisch sind: Meine Mutter heißt Anna und mein Vater Otto. Sie waren begeistert von dieser Tatsache und fanden beide, dass es schön wäre, die Tradition der Palindrome in der Familie aufrechtzuerhalten.

Nun standen sie jedoch vor einem neuen Problem. Sie fanden keine Palindrome für Namen außer Anna und Otto. Meine Schwester und mich wieder Anna und Otto zu nennen kam vor allem für meinen Vater nicht in Frage. Unser Familienname ist Otto, also heißt mein Vater Otto Otto, was ihn schon sein ganzes Leben lang sehr belastet, so sehr, dass er ständig auf psychologische Hilfe angewiesen ist. Diese Belastung wollte er mir, seinem Sohn, nicht weitergeben. Meine Eltern kamen also nicht weiter bei der Namensfindung.

Als meine Mutter einige Tage später erneut bitterlich darüber klagte, dass sie nicht einen Sohn gebären würde, den sie dann Philipp nennen könnte, sondern auch eine Tochter, hatte mein Vater eine Idee: Philipp sei ja, vom Schriftbild her, beinahe ein Palindrom – Philipp rückwärts ist Ppilihp. Da müsste doch was zu machen sein. Nach längerem Herumtüfteln beschlossen sie, mich palindromgerecht Pilip zu nennen. Was für eine Freude!

Blieb immer noch das Problem, wie sie meine Schwester nennen sollten. Da hatte meine Mutter die rettende Idee: Den Jungen werden wir rufen, wie man ihn schreibt, also zweimal mit P – Pilip. Damit das gesprochene F aus Philipp nicht verloren geht, nennen wir das Mädchen Filif – so haben wir es doppelt verankert.

Und genauso haben es meine Eltern dann gemacht, als meine Schwester und ich auf die Welt kamen.“

Pilip Otto schaute mich an und ich schaute ihn an. Wir schwiegen. Er hatte mir erklärt, warum er und seine Schwester so heißen wie sie heißen, nämlich Pilip und Filif Otto, und das war es ja, was ich ihn gefragt hatte. Es gab nichts mehr zu besprechen, alles war gesagt.

Die Liebe unter der alten Linde

Ich zögerte in zweierlei Hinsicht. Zuerst zögerte ich, die Geschichte Vorderbrandners zu meiner Geschichte zu machen. Dann, als ich die Geschichte Vorderbrandners zu meiner gemacht hatte, zögerte ich, sie noch einmal – als meine Geschichte – zu erzählen. Da mein Zögern jeweils der Aktion wich, hier eine Zusammenfassung der Ereignisse:

Es war der Vormittag nach einer sehr stürmischen Nacht. Der Wind hatte sich gelegt, der Regen war abgezogen. Es herrschte Ruhe nach dem Sturm. Die Sonne bestrahlte diese Ruhe. Ein Freund hatte mir geschrieben, dass der Maibaum in seinem Garten, nach einem langen, erfüllten Leben von über fünf Maibaum-Jahren, nach kurzer schwerer Morschheit, wie er sagte, einer Sturmböe zum Opfer gefallen ist und nicht mehr unter uns weilt. Sehr in Sorge fuhr ich daraufhin in den Park, um der alten Linde einen Besuch abzustatten. Würde sie noch dastehen, stolz wie eh und je, allein auf weiter Flur, oder hatte der Sturm einige ihrer weit ausladenden Äste von ihr gerupft? Hatte sie gar ein ähnliches Schicksal wie den Maibaum ereilt, und sie weilt auch nicht mehr unter uns? Musste ich mich darauf vorbereiten, auch von ihr Abschied zu nehmen? Unter schlimmsten Befürchtungen und mit zittrigen Beinen trat ich in die Pedale meines Fahrrads, das mich zur Lindenwiese führte.

Als ich auf die Wiese kam, stand sie da, die alte Linde, stolz wie eh und je, ihre Blätter im Sonnenschein wiegend. Erleichtert und erfreut lief ich unter ihren Schatten. Ich lehnte mich an ihren Stamm, fühlte mich glücklich und zufrieden wie einst Perserkönig Serse unter der Platane und breitete meine Arme aus. Ich sah zu den Blättern hoch, die wie zartklingende Saiten von Violinen im Wind säuselten, und begann zu singen:

Ombra mai fu
di vegetabile
cara ed amabile
soave più.

(Nie war der Schatten
einer Pflanze
lieblicher angenehmer
süßer.)

Ich war in einer Hochstimmung. Ich wusste nicht, ob ich jemals etwas anderes auf dieser Welt würde lieben können als die alte Linde.

Doch ich wurde jäh aus meiner Hochstimmung gerissen – vom Gekläffe eines kleinen Hundes. Ich wurde so dermaßen aus meiner Hochstimmung gerissen, dass ich in meiner Verzweiflung das Gekläffe des kleinen Hundes zu imitieren begann.

„Hören Sie auf, Sie Spinner!“ rief der Besitzer des kleinen kläffenden Hundes zu mir herüber, während der kleine Hund ohne Pause weiterkläffte.

„Wieso soll ich aufhören?“ rief ich zurück: „Ihr Hund macht genauso. Zu ihm sagen Sie auch nicht, er soll aufhören!“

Mit einer abfälligen Handbewegung wandte sich der Hundebesitzer von mir ab. Da fiel mir die Geschichte Vorderbrandners ein, die ich vor einigen Wochen erzählt habe. Ich zögerte kurz – und beschloss dann, sie zu meiner zu machen: Ich ging zum Besitzer des kleinen kläffenden Hundes und fragte, ob er einen Kotbeutel für mich hätte. Mit seinem bereits arg strapazierten Nervenkostüm verneinte er dies. Ich fragte ihn, ob er, wenn sein Hund sein Geschäft macht, das einfach liegenlassen würde? Ich vernahm nur ein Brummen von ihm, sodass ich beschloss, zur Dramaturgie der Vorderbrandner-Geschichte zurückzukehren:

„Wissen Sie“, sagte ich weiter, bereits in die heiße Phase der Geschichte kommend, „ich müsste dringend mal, und da dachte ich, ich könnte den Kot, den ich dabei ausscheide, mit Ihrer Tüte aufsammeln. So könnten Sie ihn gleich mitnehmen.“

„Sie spinnen ja, Sie spinnen ja!“ rief der Mann agitiert, nervös den Stock werfend, um seinen kläffenden Hund für ein paar Sekunden zu sedieren. Da kam eine Frau mit ihrem Hund den Weg entlang. Kurzerhand fragte ich sie, ob sie einen Kotbeutel für mich hätte. Der Besitzer des Kläffers funkte sofort dazwischen und sagte: „Geben’S ihm nix! Der spinnt! Der möchte hier hinmachen!“ Mit Bemühungen, die ich als manisch wahrnahm, zerrte er die Frau auf seine Seite. Ich konnte aus seinem Verhalten nur schließen, dass er in mir das Böse und Bedrohliche der Welt komprimiert sah, gegen das er sich und die Frau schützen musste. Er steigerte sich in einen regelrechten Wahn, sodass ich erkennen musste, dass meine ursprüngliche Anfrage, nämlich einen Kotbeutel zu erhalten, wohl bis auf weiteres unbeantwortet bleiben würde. Ich sagte also, dass ich mein Bedürfnis noch ein Weilchen unterdrücken kann und etwas später wieder komme, um nach einem Kotbeutel zu fragen. Meine Aussage ging in den Agitationen des Mannes unter, der nach wie vor wie besessen auf die Frau einredete. Bahnte sich hier eine Liebesgeschichte an nach dem Motto: Hunderlherrln geselln sich gern? Sogar seinen Hund vergaß der Mann in seinem Liebeswerben, der laut kläffend nach seinem Stock verlangte.

Ich zog mich währenddessen wieder unter den Schatten der Linde zurück, wo gerade ein anderer Hund deren Stamm markierte. Spontan wollte ich selbiges tun, zögerte aber und widerstand der Aktion, meine Blase zu entleeren, mit folgender Überlegung: Wenn ich den Stamm der Linde markiere, werden dadurch sicher viele andere Menschenmännchen angelockt und markieren ebenfalls. Das will ich dem alten Baum nicht antun. Hohe Nitratbelastungen sind im fortgeschrittenen Baumalter nicht gut. Und ich will gut zur Linde sein, liebe ich sie doch über alles!

Ich lehnte mich wieder an ihren den Stamm und sah, dass sich etwas entfernt eine ganze Traube von Hundebesitzern gebildet hatte, mitten unter ihnen der Besitzer des kleinen kläffenden Hundes. Aus seinen wilden Handbewegungen folgerte ich, dass er einen Vortrag über das Böse und Bedrohliche der Welt hielt. Ich war indessen froh über die alte Linde, die den Sturm so prächtig überstanden hatte, und sang nochmals ein Lied für sie, was den Besitzer des kleinen kläffenden Hundes, so sah ich im Augenwinkel, aber nicht besänftigte, im Gegenteil: Er redete noch eindringlicher auf die um ihn versammelte Schar ein.

Damit sollte die Geschichte erzählt sein, all meinem Zögern zum Trotz.

Deutschland, 2039 – ein Bericht

Die Bevölkerung leidet an akuter Erschöpfung. Auch neue Konsumimpulse, noch von der alten Regierung verordnet, reissen die Bevölkerung nicht aus ihrer Lethargie. Das Wirtschaftssystem ist am Zusammenbrechen, weil nur mehr das Nötige gekauft wird, nicht aber das Unnötige, was aber so dringend nötig wäre für eine Konjunkturbelebung.

Das noch größere Problem ist jedoch, dass die Leute offensichtlich auch die Lust am Sex verloren haben. Es werden kaum mehr Kinder geboren. Zentren künstlicher Befruchtung, die mit ihren Angeboten ebenfalls einen Teil zur Konjunkturbelebung beitragen sollen, melden stark rückläufige Klientenzahlen.

Mittlerweile haben militante Sozialaktivisten die Macht übernommen. Sie versprechen, die Menschen wieder in ihre Energie zu führen. Da die sexuelle Energie die stärkste Energie ist, wird als erstes an diesem Hebel angesetzt. Wir bedauern, dass wir die Menschen zum gemeinsamen Sex zwingen müssen, aber wir sehen keine andere Möglichkeit als Zwang auszuüben, denn die Menschen haben verlernt, gemeinsam Sex zu haben, sich aufeinander einzulassen. Sie haben nur mehr alleine Sex, mit technischen Hilfsmitteln, so eine Sprecherin der neuen Machthaber.

Als erstes wurde das sogenannte Sexualitätssozialkontrollgesetz verabschiedet. Das Gesetz schreibt unter anderem vor, dass in keiner Wohnung mehr die Vorhänge geschlossen werden dürfen. So soll ermöglicht werden, eine bessere soziale Kontrolle über sexuelle Aktivitäten zu erhalten. Sexuelle Aktivitäten an öffentlichen Plätzen sind nach diesem Gesetz ausdrücklich erwünscht, mit der Einschränkung, dass dadurch das öffentliche Leben in seinem Ablauf nicht empfindlich gestört werden darf. Ein Beispiel für eine solche empfindliche Störung sei, Sex mitten auf der Straße zu haben, sodass der Verkehr nicht mehr fließen kann, erläuterte die Sprecherin der neuen Regierung der Sozialaktivisten.

Die katholische Kirche, mittlerweile eine gesellschaftliche Randgruppe aus dem konservativen Spektrum, protestiert aufs heftigste gegen dieses neue Gesetz. Jahrhundertelang erkämpfte Werte des Abendlandes würden dadurch endgültig ausgelöscht, ein Verfall der Sitten halte Einzug. Die katholische Kirche proklamiert traditionell eine Verbannung sexuellen Lebens aus dem öffentlichen Raum. Ihre männlichen Eliten praktizieren stattdessen Sex mit jungen Knaben hinter verschlossenen Türen. Sie ist deshalb naturgemäß einer der schärfsten Kritiker des neuen Regierungskurses und des neuen Sexualitätssozialkontrollgesetzes.

Die neue Gesetzgebung stellt einen drastischen Einschnitt in das bisherige Leben der Menschen dar. Gespannt wartete man daher auf erste Erfahrungsberichte aus der Bevölkerung. Ein junges Paar, das vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes nur über das Internet gelegentlich sexuellen Austausch hatte, also eine übliche virtuelle Partnerschaft unserer Tage unterhielt, berichtet, dass es aufgrund des Sexualitätssozialkontrollgesetzes beschlossen habe, sich physisch zu treffen. Anfangs war es komisch, nebeneinander dazuliegen bei offenem Fenster oder auch im Park, berichten sie. Sie hatten das Gefühl, das befördere eher die Lethargie. Sie konnten nichts anfangen mit der Nähe ihrer Körper. Sie wollten sich Alkohol reinziehen oder andere berauschende Substanzen oder Pornos. Doch dann haben sie irgendwann angefangen, sich zu berühren, sich zu spüren. Es war schön, sagen sie, auch, weil sie nicht aufhören mussten, obwohl sie mitten im Park waren. Das Gesetz gab ihnen guten Rückhalt. Sie konnten sich ihrer Lust hingeben, hier und jetzt. Sie mussten nicht nachhause gehen, wie früher, wo die Lust dann oft verflogen war in den engen vier Wänden und sie sich Alkohol reinzogen oder andere berauschende Substanzen oder Pornos, um wieder Lust zu bekommen.

Von Regierungsseite heißt es, man hoffe, dass das Beispiel dieses Paares Schule macht und solche Berichte andere Menschen aus ihrer Erschöpfung und Lethargie reissen. Während die Hersteller von Alkoholika und Pornos aufs schärfste vor diesen Entwicklungen warnen.

Mister von Beruf

Als Entwicklungsingenieur für Verbrennungsmotoren, Fachbereich Dieselaggregate, habe ich gestern noch im Betriebschor – zur Hebung der Arbeitsmoral – Danke für meine Arbeitsstelle gesungen. Heute bin ich mit einem eigens bereitgestellten Bus unterwegs zur Agentur für Arbeit, da eine Restrukturierung leider die Kündigung einer ganzen Busladung von Personen notwendig gemacht hat.

Um bald wieder dankend im Chor der Beschäftigten singen zu können, blättere ich in der Agentur eine Broschüre durch, in der es um alternative Berufsfelder geht. Dabei fällt mir der Beruf des Misters auf. Es steht geschrieben:

Mister sind überwiegend in landwirtschaftlichen Betrieben tätig und auf die Beschäftigung mit Mist spezialisiert. Meist beschäftigt sich ein Mister mit Mistlogistik, also mit Fragen wie: Wo wird der Mist erzeugt? Wo soll er kompostiert werden? Wie wird seine Weiterverwendung garantiert und effizient ermöglicht? Bei diesen Fragestellungen reicht das Aufgabengebiet eines Misters heutzutage weit über den traditionellen Misthaufen hinaus.

Neueste Entwicklungen haben das Aufgabenfeld eines Misters über logistische Fragestellungen hinaus erweitert. Der Mister ist heute oft auch an der Gesundheits- und Nahrungssteuerung der misterzeugenden Tiere beteiligt, indem er den Mist untersucht und daraus wertvolle Rückschlüsse auf die Gesundheit der Tiere zieht. Er kann über den Mist feststellen, wie sich die Tiere ernährt haben und wertvolle Hinweise geben, ob die Ernährung beibehalten oder eventuell geändert werden soll.

In sehr großen landwirtschaftlichen Betrieben gibt es innerhalb des Berufsfelds des Misters noch weitere Spezialisierungen, wie etwa den Schweinemister oder den Kuhmister. Äußerst begehrt sind Stellen als Rossmister in Reitställen, da der Rossmist traditionell als hochwertigster Mist gilt. Der Umgang mit ihm geht daher mit einer entsprechenden Reputation einher.

Da der Beruf des Misters gegenwärtig ungemein populär ist, bezeichnen städtische Verwaltungen, die Mitarbeiter für Kanalisation und Abfallentsorgung suchen, diese neuerdings als Menschenmister. So vereint der Beruf des Misters Tradition und Moderne und bietet viele Entwicklungsmöglichkeiten.