Münchner Fürstenwege, Teil 2

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, hatte schlechte Laune. Hatte er sich zu viel erwartet vom Besuch des Schlosses Nymphenburg? Ja, er hatte sich zu viel erwartet: Er hatte sich nichts weniger als die Offenbarung der Schönheit erwartet. Seine Realität war an seinen Erwartungen zerbrochen. Seine Begleiterin Sophia war auf die Toilette gegangen, und so stand er alleine in den Parkanlagen. Sein Blick schweifte nach Westen, den Schlosskanal entlang. Er dachte an Otto, den unglücklichsten König Bayerns, über den er gestern gelesen hatte.

Sophia hatte vom Süden gesprochen; dass der Norden ein schöner Ort ist, weil man von dort nach Süden blickt. Der Süden: Sehnsuchtsort. Da schoss es ihm plötzlich siedend heiß durch den Kopf: Ziemlich genau südlich von hier, von Nymphenburg, liegt Schloss Fürstenried, auf dem König Otto seine geisteskranken Jahre, also den Großteil seines Lebens, verbracht hatte! Als Sophia von der Toilette zurückgekehrt war, bestürmte er sie: „Sophia, lass uns zum Schloss Fürstenried laufen! Hier… hier sind mir zu viele Leute. Und dort, in diesem südlichen Einöd, wird es sehr schön sein!“
„Ach Oskar! Sind wir nicht schon genug gelaufen heute? Ich würde gerne hier mit dir einen Kaffee trinken!“
„Ich trinke keinen Kaffee“, entfuhr es Oskar. „Wenn du nicht gehen willst, dann… dann fahren wir hin, ganz herrschaftlich, mit Kutsche, wie früher die Könige!“
„Du Spinner!“ sagte Sophia, fühlte sich aber gleichzeitig geschmeichelt.

Oskar ging ins Marstallmuseum am Schloss und fragte, ob es möglich sei, eine der ausgestellten Kutschen für eine Fahrt nach Fürstenried zu verwenden. Unmöglich, die Gefährte sind zu prächtig und wertvoll, um mit ihnen zu fahren, hieß es. Zu prächtig! Um die Schönheit selbst zu erfahren, kann nichts zu prächtig sein! ärgerte sich Oskar. Aber es half nichts. Nach längerer Diskussion ließ das Museum eine Kutsche aus der Stadt kommen. Ungeduldig stand Oskar am Rondell, um die Kutsche zu erwarten, während Sophia die Schwäne im Wasser beobachtete. Dann kam die Kutsche endlich. Oskar befahl in strengem Ton, den königlichen Weg nach Schloss Fürstenried zu nehmen.
„Den königlichen Weg?“ fragte der Kutscher verdutzt.
„Stellen Sie sich nicht so an! Stellen Sie sich stattdessen vor, Kurfürst Max Emanuel säße in Ihrer Kutsche, oder König Ludwig II, oder König Otto. Wie würden Sie diese Herrschaften nach Fürstenried bringen?“
Der Kutscher straffte die Zügel und setzte das Fuhrwerk Richtung Auffahrtsallee in Bewegung.
„Stopp! Nicht nach Osten! Oder wollen Sie uns zur Residenz bringen? Fahren Sie sofort scharf nach Süden, nach Fürstenried!“

Der Kutscher schwenkte nach Süden, um eine kleine Gasse aus dem Schlossrondell zu nehmen, die nur von Fußgängern und Radfahrern benutzt wird. Allerdings versperrte ein betonierter großer Blumentopf die Ausfahrt über diesen Weg. Oskar wurde wütend und schimpfte. Ein Blumentopf wird uns doch nicht daran hindern, nach Fürstenried zu fahren! Er stieg aus der Kutsche, um den Topf zu verrücken. Zwei Männer kamen den Weg entlang und halfen ihm, sodass sie es zu dritt schließlich schafften, ihn aus dem Weg zu räumen. Die Kutsche konnte passieren.

„So, wo wollen Sie jetzt hin?“ fragte der Kutscher etwas genervt.
„Nach Fürstenried natürlich!“
„Ja, aber auf welchem Weg? Welcher ist der königliche Weg?“
„Fahren Sie die Kutsche oder ich? Fahren Sie uns nach Fürstenried, wie Sie einen König nach Fürstenried fahren würden!“
Der Fuhrmann schüttelte den Kopf und fuhr die Hirschgartenallee entlang, bog dann rechts ab zur Laimer Bahnunterführung. Durch diese dunkle Unterführung erreichten sie die Fürstenrieder Straße. Die Fürstenrieder Straße ist eine mehrspurige Straße, die etwa fünf Kilometer lang schnurgerade nach Süden führt. Ursprünglich, vor fast dreihundert Jahren, als herrschaftlicher Verbindungsweg zwischen Nymphenburg und Fürstenried angelegt, führte sie damals über weite Wiesen und durch dichte Wälder. Heute ist sie eine stark befahrene westliche Tangente der Stadt und durchgehend bebaut, überwiegend im Nachkriegsstil.

Die Kutsche zuckelte langsam dahin, von Verkehr umtost, mit zwei Pferden vornedran. Inmitten dieses tosenden Verkehrs erfasste Oskar ein Gefühl der Geborgenheit. Er blickte zu Sophia, als würde er sie erst jetzt an seiner Seite bemerken. „Schön ist es!“ entkam es seinen Lippen, und ihm wurde leicht schwindelig dabei, als dieser Satz seine Lippen passierte, so ungewöhnlich klang er in seinen Ohren.

„Schön? Wenn du die Fürstenrieder Straße meinst, fällt es mir gerade schwer, sie schön zu finden. Andererseits: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet.“ Sophia sagte das und schaute dabei Oskar in die Augen, mit einem Lächeln, das an diesem Tag nicht von ihr zu weichen schien, möge passieren was wolle.

Fortsetzung folgt.