Münchner Fürstenwege, Teil 3

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, fuhr mit seiner Begleiterin Sophia auf der Pferdekutsche die Fürstenrieder Straße entlang. Die Kutsche wirkte wie ein Fremdkörper aus einer anderen Zeit. Sie bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von etwa zehn Kilometern pro Stunde fort, die Autos rauschten an ihr vorbei. Die zwei Pferde zogen die Kutsche mit rhythmischen und anmutigen Bewegungen vorwärts.

Als sie die Autobahn nach Lindau überquerten, schaute Oskar zu Sophia. Sie schauten sich in die Augen, woraufhin Sophia Oskars Hand nahm. Ein heißer Schauer durchzuckte daraufhin Oskar am ganzen Körper, als stünde Sophias Hand unter Starkstrom. Das war keine Kutschfahrt mehr, das war ein wilder Ritt! Was passierte hier? War der Wahnsinn ausgebrochen? Er war ausgebrochen, in Oskars Kopf. La Folie! Mit diesem Wahnsinn in Oskars Kopf ging es weiter die Fürstenrieder Straße entlang.

Schließlich erreichten sie den Waldfriedhof, dessen hohe Bäume sich rechts der Fürstenrieder Straße auftürmen. In Oskar tobte es, doch er versuchte, sich gefasst zu geben und erläuterte:
„Das ist der Vorbote des Schlosses. Der ehemalige Schlossforst. Seit gut hundert Jahren der Waldfriedhof.“
„Wir sind also bald da?“
„Der Friedhof ist riesig. Wir fahren noch einige Kilometer an ihm entlang.“

Am Ende der Fürstenrieder Straße waren sie immer noch nicht am Ziel angekommen, sondern bogen nach rechts ab, in eine Lindenallee, und fuhren in südwestlicher Richtung weiter, zwischen Waldfriedhof und Autobahn nach Garmisch. Der Wahnsinn ging weiter. Sophia blickte zu den Autos auf der Autobahn, die parallel von ihnen, sehr nahe und doch seltsam entrückt, links vorbeizogen. Die Pferde zogen unverdrossen die Kutsche vorwärts.

„Jetzt fahren wir direkt auf das Schloss zu. Du musst dir das so vorstellen: Wir fahren unter einer Lindenallee. Auf der anderen Seite der Autobahn gab es früher genauso eine Allee. Eine doppelte Auffahrtsallee, wie in Nymphenburg.“ erläuterte Oskar. Er klammerte sich an seine Worte, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen.

„Und was war früher anstelle der Autobahn? Auch ein Kanal wie in Nymphenburg?“

„Nein, ein tapis vert, ein grüner Teppich. Ein breiter Grünstreifen, der damals, vor dreihundert Jahren, aufwendig angelegt und gepflegt werden musste. Es gab noch keine Rasenmäher, und so waren Gärtner im Dauereinsatz damit beschäftigt, mit Sensen den grünen Rasenteppich zu stutzen und zu hegen.“

„Lauter Möchtegern-Louis-XIV waren das, diese bayrischen Monarchen! Aber irgendwie waren sie auch sehr romantisch. Fous, complètement fous! Wahnsinn!“ Sophia lächelte.

Oskar machte große Augen: Fous, complètement fous! Wie Otto! La folie, der Wahnsinn! Sie blickten von der Kutsche über die Autobahn hinweg zur Lindenallee gegenüber und konnten erahnen, wie breit und imposant dieser grüne Teppich gewesen sein muss.

Die Autobahn führt zwar geradewegs auf das Schloss zu, macht kurz davor aber einen geradezu abweisenden Linksschwenk Richtung Süden, um ihren Weg fortzusetzen. Die Kutsche fuhr indessen geradeaus weiter ans Tor des Schlosses, wo Oskar und Sophie ihr entstiegen. Endlich angekommen! Würde der Wahnsinn jetzt ein Ende nehmen?

Dem Himmel war anzumerken, dass sich der Tag langsam auf sein Ende vorbereitete. Die Wolken waren verzogen, sodass die Luft im zartrosa Licht der letzten Sonne lag. Oskar hätte den Kutscher gerne in die königliche Schwaige des Schlosses geschickt, aber die gibt es nicht mehr, sodass er ihn stattlich bezahlte für die königliche Fahrt. Dann zog die Kutsche ohne die beiden ab.

Oskar ging auf das Eingangstor des Schlosses zu, auf dem ein königliches Wappen prangt.
„Ein seltsam verlassener Ort. Hierher sind immer Leute gekommen, die sich zurückziehen wollten: Maria Amalia von Österreich und Maria Anna Sophia von Sachsen, als sie Witwen waren. Und Otto, der unglücklichste König Bayerns.“
„Und wir“, sagte Sophia.
Sie drehte sich um und ging über den Schloßvorplatz Richtung Autobahn. Dort setzte sie sich auf eine Bank, die sehr prominent und einsam steht. Die Autos donnerten auf sie zu, um dann links abzudrehen. Ihr Blick ging über die Autos hinweg auf die Frauenkirche im Zentrum Münchens, die in der Ferne sichtbar ist. Oskar schaute ebenfalls über die sitzende Sophia hinweg zur Stadt. Hinter der Frauenkirche ist die Residenz. Dort war Oskar heute morgen mit Sophia gewesen, am Anfang ihrer Reise. Wenn er es sich jetzt rückblickend überlegte, hatte er es dort sehr schön gefunden. Ja, im Nachhinein betrachtet, hatte er so etwas wie Glück empfunden. Wieso wollte er mit Sophia dann unbedingt weiter nach Nymphenburg und Fürstenried? Ist das nicht Wahnsinn? Würde er das Glück jetzt nicht spüren, wenn sie bei der Residenz geblieben wären? Findet das Glück nur, wer weite Wege geht? Zeig mir etwas Schönes, hatte sie gesagt. Hatte er das getan?

Ziemlich durcheinander setzte er sich zu ihr auf die Bank. Die Dämmerung setzte ein. Die Scheinwerfer der Autos beleuchteten sie.
„Weißt du, hinter der Frauenkirche ist die Resid…“, setzte Oskar an, um Schutz hinter den Worten zu finden, als Sophia sich zu ihm drehte mit forderndem Blick, was ihm die Sprache verschlug. Nein, der Wahnsinn nahm kein Ende!
„Warum denn in die Ferne schweifen, wenn das Schöne liegt so nah!“ sagte sie, schob ihren Mund ganz nah an seinen und packte ihn energisch zwischen den Beinen. Wieder durchzuckte es Oskar am ganzen Körper. La Folie, der Wahnsinn!

War das das Schöne, zwischen seinen Beinen, das sie die ganze Zeit sehen wollte? War das das Ende von seiner Existenz als Hagestolz? Jedenfalls küsste er sie, energisch und entschlossen, ohne darüber nachzudenken, ob es schön ist oder nicht. Vielleicht war es gerade deswegen schön. Wahnsinn!