Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

München, Schleißheimer Straße

Emil, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, ging die Schellingstraße entlang. Davon wurde an anderer Stelle bereits berichtet: München, Schellingstraße.

Als er das Ende der Schellingstraße erreicht, erinnert er sich, dass er bei seinem Spaziergang die Schleißheimer Straße überschritten hat. In Schleißheim steht ein kurfürstliches Schloss. Emil beschließt, die Schleißheimer Straße entlangzugehen. Emil ist ein gründlicher Mensch. So präzisiert er seinen Beschluss und beschließt weiters, die Schleißheimer Straße von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende zu begehen.

Am Ende der Schellingstraße stehend, befragt er Vorbeikommende, die er als ortskundig erachtet, wo denn die Schleißheimer Straße beginne.
Einer der Vorbeikommenden sagt: „Hier endet die Schellingstraße. Was weiß denn ich, wo die Schleißheimer Straße beginnt.“
Ein Anderer: „Da gehst jetzt zurück, dann kommst du an die Schleißheimer Straße.“
Emil meint, das wisse er, er habe sie ja bereits überquert, die Schleißheimer Straße, aber er wolle wissen, wo sie beginne.
„Jetzt gehst mal hin zu ihr, zu der Schleißheimer Straße, und dann kannst schauen, wo sie beginnt, oder?“ antwortet der Andere auf Emils Einwand.
Das befriedigt Emil nicht, denn er möchte die Schleißheimer Straße von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende begehen, und nicht grob irgendwo in ihrer Mitte in sie reinstechen. Also schlägt er sich auf eigene Faust durch das Straßendickicht, um zum Beginn der Schleißheimer Straße zu gelangen. Aus Sorge, vor ihrem Beginn auf sie zu stoßen, geht er einen großen Bogen. Vorbeikommende fragt er keine mehr, da sie nach seinen bisherigen Erfahrungen alle als ortsunkundig zu gelten haben. Nach langen Bogengängen, die ihn bis an den Hauptbahnhof geführt haben, landet er auf dem Stiglmaierplatz. Dort ist seine Sorge, dass er die Schleißheimer Straße überhaupt nicht findet, schließlich größer als seine Sorge, ihren Beginn zu verpassen. Er fragt also einen Vorbeikommenden, wo die Schleißheimer Straße sei. „Dort vorne beginnt sie“, sagt der Vorbeikommende und zeigt nach Norden. Emil kann sein Glück kaum fassen, dass der Vorbeikommende tatsächlich sagt: „Dort vorne beginnt sie.“ Als er dort ist, wo der Vorbeikommende hingezeigt hat, steht er auf einem weiteren Platz. Das Schild sagt „Rudi-Hierl-Platz“. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als einen weiteren Vorbeikommenden zu fragen, wo denn die Schleißheimer Straße beginne.
„Die Schleißheimer Straße hat hier mal begonnen“, sagt der weitere Vorbeikommende, „doch sie haben einen autofreien Platz daraus gemacht. So ist die Schleißheimer Straße an ihrem Beginn keine Straße mehr. Dort geht sie weiter“, sagt er schließlich und zeigt nach Norden.

Rudi-Hierl-Platz - Beginn der Schleißheimer Straße

Rudi-Hierl-Platz – Beginn der Schleißheimer Straße

Die Schleißheimer Straße, auf der einst Kurfürsten zu ihrem Schloss ritten, hat keinen Beginn mehr. Emil kann es nicht fassen und wird fast von einem Fahrradfahrer überfahren, der den autofreien Rudi-Hierl-Platz überquert. Etwas missmutig geht er. Wohin? Nun, nicht zum Beginn der Schleißheimer Straße, denn sie hat ja keinen mehr, sondern zur Schleißheimer Straße. Es ist, als ob er irgendwo in sie reinstechen würde, und es schmerzt Emil. Eng und einspurig ist sie auf ihren ersten Metern. Hier ist der Kurfürst entlanggeritten? Bald wird sie zumindest zweispurig. Emil erreicht die Schellingstraße, durch die er vorhin die Schleißheimer Straße überschritten hat. Das Café Emil an dieser Kreuzung lädt zum Verweilen ein. Emil aber ist wie besessen von seinem Vorhaben, das Ende der Schleißheimer Straße aufzusuchen. Umso mehr, als die Auffindung ihres Beginns derart erfolglos verlaufen ist.

Der Blick nach Norden zeigt eine lange, gerade Straße. Schritt für Schritt geht Emil diese lange, gerade Straße entlang, akkurat alle Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf speichernd. An der Stelle, wo links die Lerchenauer Straße abgeht, bemerkt er eine langgezogene Rechtskurve der Schleißheimer Straße. Er ist sehr gespannt, was sich hinter dieser langgezogenen Rechtskurve verbirgt, dass er völlig vergisst, weitere Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf zu speichern. Diese Zählung darf also, wenngleich nicht bewusst, an der Lerchenauer Straße für beendet erklärt werden.

Hinter der langgezogenen Rechtskurve verbirgt sich eine relativ abrupte Linkskurve. Was sich Emil nach der abrupten Linkskurve darstellt, kommt ihm bekannt vor: ein Blick nach Norden, auf eine lange, gerade Straße. Hätte Emil einen Stadtplan bei sich, stellte er fest, dass sein Blick ihm eine fast fünf Kilometer lange, schnurgerade Straße zeigt, die nahezu exakt nach Norden führt. Doch er hat keinen bei sich und sein Blick ist trüb wie das Wetter. Er geht weiter, wieder alle Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf speichernd. Es lässt sich feststellen, dass lediglich die Strecke zwischen Lerchenauer Straße und abrupter Linkskurve von Emil nicht vermessen wurde.

Die Schleißheimer Straße ist ab der abrupten Linkskurve teilweise vierspurig. Doch Emil erscheint sie auch hier nicht wie eine kurfürstliche Prachtstraße. Vielleicht ist es dem trüben Wetter oder seinem trüben Blick geschuldet, dass die Häuser am Straßenrand teilweise so grau aussehen. Er kommt an eine Querstraße, die nennt sich Hamburger Straße. Da die Hamburger Straße von Ost nach West verläuft und somit unmöglich nach Hamburg führen kann, kommen ihm ernste Zweifel, ob die Schleißheimer Straße überhaupt nach Schleißheim führt. Er geht weiter.

Viele Häuser und Querstraßen und auch Ampeln weiter: Plötzlich und unverhofft der freie Blick auf die Heidelandschaft. Auch die Schleißheimer Straße weitet sich. Ihre beiden Fahrtrichtungen sind getrennt durch einen großzügigen Grünstreifen. Enthusiasmus in Emil. Hier ist der Kurfürst also entlanggeritten, durch die weite Heide. Erwartungsvoll geht er weiter Richtung Norden. Doch der großzügige Grünstreifen verengt sich bald, und dort, wo die Schleißheimer Straße weitergehen soll, steht ein Straßenschild mit der Aufschrift „Fortnerstraße“. Ganz eindeutig: Nach Süden sagt das Straßenschild „Schleißheimer Straße“, nach Norden „Fortnerstraße“. Beim Blick zurück auf den großzügigen Grünstreifen inmitten der Schleißheimer Straße stellt Emil fest, dass es sich um die ehemalige Wendeschleife einer aufgelassenen Trambahnlinie handelt. Ist der Kurfürst mit der Trambahn hierher gefahren, um dann zu Fuß nach Schleißheim weiterzugehen?

Das Ende der Schleißheimer Straße

Das Ende der Schleißheimer Straße

Emil zieht es in die Fortnerstraße. Er will dieses schnöde Ende nicht akzeptieren. Die Schleißheimer Straße hat nach Schleißheim zu führen. Ist die Schleißheimer Straße etwa zu Ende, bloß weil sie Fortnerstraße heißt? Nach wenigen Metern, an einer Kirche mit dem Namen „Mariä Sieben Schmerzen“, wird die Fortnerstraße schließlich zu einem namenlosen Waldweg. Ist das alles, das von der Schleißheimer Straße übrig bleibt? Acht Kilometer ist sie wohl lang, die Schleißheimer Straße, errechnet Emil jetzt in seinem Kopf, wobei das nur eine ungefähre Zahl sein kann, denn ihr Beginn und ihr Ende sind für ihn nicht abschließend geklärt. Wenn man dieses – wohlgemerkt vorläufige – Ergebnis von acht Kilometern auf die sieben Schmerzen der Maria umlegt, ist jeder Kilometer ein Schmerz und einer schmerzfrei.

Beginn des namenlosen Waldwegs

Beginn des namenlosen Waldwegs

Emil zieht es weiter in den namenlosen Waldweg. Das Konzept der Querstraßen ist belanglos geworden, das der Ampeln sowieso. Wo ist Schleißheim? Emil geht den Weg entlang durch den Wald. Als der Wald zu Ende ist, steht Emil vor einer großen, freien Fläche, die umzäunt ist. Es geht nicht mehr weiter, geradeaus nach Norden, nur nach rechts oder nach links. Als ein Vorbeikommender vorbeikommt, fragt ihn Emil in seiner Verzweiflung: „Wieso ist hier ein Zaun? Hier muss es doch nach Schleißheim gehen!“
Der Vorbeikommende, der sich als ausgesprochen ortskundig erweist, erwidert: „Da geht’s schon lange nicht mehr nach Schleißheim. Da ist schon seit über hundert Jahren ein Flugplatz.“
„Und der Kurfürst, wie ist der dann nach Schleißheim gekommen, zu seinem Schloss?“ fragt Emil weiter.
„Der Kurfürst ist die ersten Jahre mitten durch das Flugfeld geritten, bis ihn ein landendes Flugzeug beinahe überfahren hätte. Dann hat er es auch bleiben lassen.“
Der Vorbeikommende fährt weiter und lässt Emil am Zaun zurück. Emil blickt über das Flugfeld nach Norden, und trotz des trüben Blicks misst er der Entfernung zu Schloss Schleißheim eine Strecke von eineinhalb Kilometern bei.

Mehr zur Schleißheimer Straße

Drei Katzenkinder und Emil von vor vielen Jahren

Diese Woche durfte ich dem freudigen Ereignis einer Katzengeburt beiwohnen. Drei Stück wurden geboren, zwei Mädchen und ein männlicher Nachzügler. Der hatte einen recht großen Kopf und daher eine etwas anstrengende Geburt. Das Ereignis lässt sich am besten so zusammenfassen:

Zwei Katzenkinder auf der Welt:
Beate und Renate.
Das dritte kommt mit rotem Kopf,
das nennt man dann – Tomate.

Außerdem habe ich am Dienstag, dem 20. Oktober, wie jedes Jahr mit einer großen Feier meinen halben Geburtstag zelebriert. (Mein ganzer ist am 20. April.) Da ich allmählich in ein Alter komme, wo ich ab und zu auch zurückblicke, habe ich auf dieser Feier spontan die Rubrik „Emil von vor vielen Jahren“ erfunden, um folgende Geschichte aus meinem Frühschaffen vorzutragen. Es handelt sich um ein Historiendrama mit dem bedeutungsschweren Titel „Firmians Erkenntnis“. Die Verhandlungen mit dem ZDF zur Verfilmung laufen:

Firmians Erkenntnis

Damals in Debalzewe

Im Februar dieses Jahres ließ mich eine Nachricht aufhorchen: Die heftig umkämpfte ostukrainische Stadt Debalzewe ist bei Kämpfen zwischen prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee völlig zerstört worden. Man wisse nicht, wieviele der geschätzten fünftausend verbliebenen Einwohner die Kämpfe überlebt haben. Mir gefiel der Name dieser Stadt: Debalzewe. Umso tragischer empfand ich es, dass diese Stadt nun zerstört ist. Erst jetzt wusste ich, dass es sie gibt, und musste gleichzeitig erfahren, dass es sie nicht mehr gibt.

Heute morgen, mehr als ein halbes Jahr danach, erinnerte ich mich wieder an diese Nachricht, und an die Schönheit des Namens dieser Stadt, die zerstört wurde. Aber ich wusste ihren Namen nicht mehr. Ich wusste nur noch, dass es ein schöner Name ist. Ich recherchierte im Internet und fand bald heraus, dass der Name dieser Stadt Debalzewe ist. Ich wollte mehr herausfinden. Ich wollte herausfinden, was jetzt ist mit dieser Stadt, ein gutes halbes Jahr nach ihrer Zerstörung. Doch die letzten Netzeinträge, die Debalzewe betreffen, sind vom März dieses Jahres und berichten vom großen Ausmaß der Zerstörung.

Ich recherchierte weiter, was davor war in Debalzewe, vor den Kämpfen im Februar. Die Stadt ist ein strategisch wichtiger Verkehrsknotenpunkt, vor allem der Eisenbahn. Wegen der Eisenbahn wurde sie 1878 als kleines Dorf gegründet, wuchs zu einer Stadt heran, ehe sie von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Danach wurde sie von den Russen wieder aufgebaut, ehe sie im Februar dieses Jahres von den Russen wieder zerstört wurde. Gibt es Menschen in Debalzewe, die beide Zerstörungen erlebt haben?

Wieso übt der Name Debalzewe eine derartige Faszination auf mich aus? Ich glaube nicht, dass einer meiner Großväter mir als Kind eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt hat mit dem Titel Damals in Debalzewe und sie deshalb noch so schön in meinen Ohren nachklingt. Oder doch? Wie wäre es, nach Debalzewe zu reisen? Züge fahren keine mehr seit den Kämpfen. Mit dem Auto sind es laut Google von München aus 2.528 Kilometer zu fahren. Es gibt lediglich zwei Baustellen auf der Route, eine in Polen, eine in der Zentralukraine. Fahren wir nach Debalzewe – wer kommt mit? Am besten jemand, der Russisch kann oder Ukrainisch oder noch besser beides… Das könnte über Leben und Tod entscheiden.

25.000 Menschen lebten bis 2014 in Debalzewe, vor den Kämpfen wurden die meisten von ihnen evakuiert. 5.000 aber sind geblieben. Wo sind die 20.000 Evakuierten hin? Gibt es die 5.000 noch, die geblieben sind? Wieviele sind bei den Kämpfen gestorben?

25.000 Menschen aus Debalzewe gegen Millionen von Menschen, die gerade nach Europa flüchten. Aus 2.528 Kilometern Entfernung schreibe ich betroffene Worte, die doch keine Ahnung vermitteln. Denn ich war nicht dabei, gottseidank, damals in Debalzewe.

Stehen auf dem Gehsteig

Ich stehe auf dem Gehsteig und stelle mir vor, dass ich auf dem Gehsteig liege. Die ernsten Dichter werfen schwere Worte auf mich. Die Surrealisten schütteln ihre Wortkalauer durch die Gegend. Die Wortkalauer schweben unreflektiert davon und bleiben an den Häuserfassaden hängen.

Ich liege nicht auf dem Gehsteig, denn auf dem Gehsteig geht man. Ich stehe auf dem Gehsteig. Da kommt einer vorbei und sagt zu mir: „Geh doch, das ist doch kein Stehsteig!“ Ich gehe einen Schritt zur Seite und sage: „Ich mache dir Platz, dann kannst du gehen auf deinem Gehsteig. Und ich bleibe stehen auf meinem Stehsteig.“

„Da legst dich nieder, bei dem was du daherredest!“ sagt der Geher im Vorbeigehen. Der Bayer sagt das gerne, dass du dich niederlegst. Er verlangt nach so einer Aussage jedoch nicht von seinem Gegenüber, dass er sich niederlegt noch legt er sich selber nieder, sondern drückt dadurch sein Erstaunen aus. Trotzdem greife ich seine Worte gerne auf:

„Das wollte ich machen, mich niederlegen, aber Niederlegen, dachte ich mir, wäre doch eine grobe Nutzentfremdung eines Gehsteigs.“ Ich überlege kurz, ob ich Dichter und Surrealisten erwähnen sollte. Ich erwähne sie nicht.

Der Geher legt sich, wie zu erwarten war, nicht nieder, bleibt aber stehen. Ich stelle fest: Wir stehen beide auf dem Gehsteig. Oder ist es jetzt ein Stehsteig? Die schweren Worte der ernsten Dichter liegen unter uns. Beim Blick auf die Häuser fällt mir auf, dass die Kalauer der Surrealisten lustig an deren Fassaden hängen. Es gefällt mir, wie wir beide so auf dem Gehsteig stehen.

Fest im Fluss

Fremd ist der Fremde nur in der Fremde, sagt Karl Valentin. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich nur in der Fremde bin, wenn ich nachts in meine Träume versinke.

Ich habe mir als Kind die Gewissheit erworben, dass ein Fluss etwas Trennendes ist. Auf der einen Seite des Flusses ist dieses Land, auf der anderen Seite jenes Land. Obwohl die Länder auf beiden Seiten des Flusses sich sehr ähneln, hat der Fluss irgendwann entschieden, das Land in zwei Hälften zu teilen. Die Menschen auf beiden Seiten des Flusses akzeptieren diese Entscheidung. Sie akzeptieren diese Entscheidung nicht nur, sie sind dem Fluss sehr dankbar dafür. Warum sollten sie sonst an den Brücken über den Fluss bewaffnete Männer aufstellen, um dem Fluss bei seiner Trennung hilfreich beizustehen?

In meinem Traum stand ich am Ufer des Flusses. Am anderen Ufer stand mir eine ganze Heerschar von Menschen gegenüber. Diese Heerschar rief laut im Chor: „Wir wollen nichts mit dir zu tun haben!“ Der Fluss hat gut entschieden, dass er uns trennt, die Heerschar und mich. Denn ich möchte sagen, dass die Heerschar am anderen Ufer einen recht wütenden Eindruck auf mich macht. Der Fluss ist quasi ein gottgegebenes Sperrgebiet, das Trennung und Distanz aufrechterhält. Ich könnte doch jetzt meinen Traum beenden und beruhigt weiterschlafen.

Doch dann steige ich in den Fluss. Zuerst mit den Beinen, dann bis zur Hüfte und schließlich mit dem ganzen Körper. Das Wasser trägt mich. Wo sind sie, die am anderen Ufer? Habe ich den Kopf über oder unter Wasser? In der Mitte des Flusses liegt ein Stein, ein großer Stein, ein Felsen. Ich komme auf ihm zum Stehen. Ich stehe auf dem Stein und sehe sie wieder, die Heerschar am anderen Ufer. Vielleicht erinnere ich mich falsch, doch ich habe ihre Gesichter starr in Erinnerung. Diese Starre hält an, bis ein schriller Ruf ertönt, der so gar nicht in diese Starre passen will.  Der schrille Ruf bringt Unruhe in die Heerschar am Ufer. Ratlose Blicke. Hat einer von ihnen diesen Schrei ausgestoßen?

Ich stehe auf dem Stein. Das Wasser des Flusses umtost mich, aber reißt mich nicht fort. Das ist nicht logisch, dass ich so fest im Fluss stehe, obwohl mich das Wasser umtost. Doch muss es logisch sein? Ich habe ohnehin den Eindruck, dass sich das Leben konsequent jeder Logik entzieht und trotzdem verstanden werden kann. Träume ich? Bewegung am Ufer. Ist das die Suche nach dem schrillen Schreier? Wieso suchen sie den schrillen Schreier? Suchen sie den schrillen Schreier? Sie bewegen sich, stolpern über Wurzeln und Gras. Viele verschwinden hinter den Büschen am Ufer. Plötzlich springt einer von ihnen mit einer heftigen Bewegung aus den Büschen und steht am Wasser. Ein paar hinter ihm, die sich gerade davonmachen wollten, bleiben auch stehen. Was passiert jetzt? Dann, plötzlich, überraschend, wie sein Sprung soeben aus den Büschen, nicht vorhersehbar, nicht vorhergedacht, stürzt er sich ins Wasser des Flusses. Die anderen hinter ihm, die sich davonmachen wollten, bleiben wie angewurzelt stehen ob der Unvorhersehbarkeit und Undenkbarkeit dieses Moments. Er strampelt und rudert im Wasser, er findet keinen Halt. Vielleicht will er keinen Halt, denn es sieht so aus, als ob er es genießt, sein Strampeln und Rudern. Ein wahres Fest im Fluss scheint er zu feiern. Die anderen am Ufer wollen ihm folgen und stolpern dabei über Wurzeln und Gräser und über sich selbst. „Entsetzlich, entsetzlich!“ rufen sie, während sie so dahinstolpern, und sind gleichzeitig fasziniert von dem, der sich da im Fluss treiben lässt. Hat der Fluss entschieden, das Land nicht mehr in zwei Hälften zu teilen? Darf der Fluss denn das, mir diese Gewissheit nehmen? Oder hat er sie mir gar nie gegeben und ich habe sie mir nur genommen?

Plötzlich, wieder nicht vorhersehbar, nicht vorhergedacht, baut sich eine Brücke auf über dem Fluss. Ein Bewaffneter steht auf dieser Brücke und zielt mit seinem Gewehr auf den Rudernden und Strampelnden im Fluss. Laute Entsetzensschreie der Ufergesellschaft. Ein Fallen und Stolpern, ein Stöhnen und Ächzen im Gebüsch. Der feste Stein unter mir löst sich und ich falle. Plötzlich ist auch der Fluss mit seinem Wasser unter mir weg und ich falle und falle und… jetzt bin ich aufgewacht.

Bin ich jetzt zurückgekehrt aus der Fremde meiner Träume in mein wirkliches Leben?

Es gibt viel zu erzählen (Geschichte eines Sommerabends)

Es gibt viel zu erzählen, doch zunächst nur Folgendes:

An einem großen Sommerabend sitze ich klein im Gras. Ich sitze unter einer alten Linde, die ihre Blätter schützend über mich hält. Die alte Linde bildet freistehend das Zentrum der Wiese, auf der ich mich befinde. Rechts von mir, etwa vierzig Meter entfernt, oder auch fünfzig, ist eine Allee. Rechts von mir, das ist westlich, denn ich sitze mit dem Kopf nach Süden gerichtet. Ich drehe meinen Kopf nach rechts und sehe auf die Allee. Von der Entfernung kann ich Lärchen, Kiefern und auch Laubbäume erkennen. Die Bäume stehen in unregelmäßigen Abständen. An einer Stelle, neben zwei Kiefern, ist ein Loch in der Allee, und ich sehe eine weitere Wiese dahinter. Ist es etwa keine Allee, wegen diesem Loch? Und dann noch die unregelmäßigen Abstände zwischen den Bäumen? Ich bleibe dabei, es ist eine Allee. Sie begrenzt in gewisser Weise meinen Erlebnisradius.

18:23 Uhr. Die Sonne steht schon tief über den Bäumen der Allee. Vor den Bäumen der Allee will ein Junge Volleyballspielen lernen, doch sein Vater, der bei ihm ist, will es nicht. Er sagt immer wieder zu seinem Sohn, was er alles falsch macht. Der Sohn verzagt. Was will der Vater von seinem Sohn? Ist denn dieser Mann der Vater dieses Jungen? Der Schatten der Bäume der Allee erreicht mich bald. Die Sonne wird bald hinter den Bäumen der Allee versinken.

Etwa vierzig Meter links von mir, oder auch fünfzig, in jedem Fall östlich von mir, sehe ich eine prächtige alte Esche im Sonnenlicht. Der Schatten wird die Esche später erreichen als die Linde, unter der ich sitze. Soll ich zur Esche gehen und mich unter ihre Blätter setzen?

18:36 Uhr. Der Schatten schreitet voran. Zwei merkwürdige Männer mit dunklen Sonnenbrillen fahren kurz nacheinander mit Fahrrädern im Slalom über die Wiese. Was suchen diese Männer? Sie fahren ganz nah an einer Frau vorbei, die vor mir, also südlich von mir, im Gras sitzt. Diese Frau sitzt, von mir aus gesehen, hinter ihrem Fahrrad. Ihr Fahrrad liegt vor ihr im Gras und auf den Lenker des Fahrrads hat sie ein Handtuch gehängt. Sie hält sich ihr Handy ans Ohr. Ihr Mund ist dabei von dem Handtuch verdeckt, das über dem Lenker hängt. Ich höre sie nicht sprechen und wegen des Handtuchs sehe ich auch keine Bewegungen ihrer Lippen. Spricht sie? Ich vermute es, doch aussehen tut es für mich, als hätte sie Ohrenschmerzen und hielte sich zur Linderung derselben das Handy ans Ohr. Gibt es vielleicht eine App gegen Ohrenschmerzen? Wie funktioniert so eine App? Ich beschließe, dass es so etwas nicht gibt, eine App gegen etwas, sondern nur eine App für etwas. Ich finde das sehr vernünftig, dass Apps nur für und nicht gegen etwas sein können, weiß aber nicht, ob das stimmt. Das Handtuch hat sich mittlerweile verschoben oder die Frau hat ihre Position um einige Zentimeter geändert, so genau konnte ich das nicht beobachten. Ich sehe jedoch jetzt die Bewegungen ihrer Lippen und kann annehmen, dass sie in ihr Handy spricht und keine Ohrenschmerzen hat. Obwohl ich sie immer noch nicht höre.

Links hinter der Frau mit dem Handy am Ohr, also, um genau zu sein, süd-süd-östlich von ihr, sehe ich ein junges Pärchen. Es ist ein heterosexuelles Pärchen, also ein junger Mann und eine junge Frau. Er liegt auf dem Bauch mit dem Gesicht in meine Richtung. Wenn ich ein Brasilianer wäre, würde ich die beiden nicht als Pärchen identifizieren, denn ich habe gehört, dass ein Brasilianer, wenn er einen Mann auf dem Bauch liegen sieht, ihn als homosexuell identifiziert. Ich weiß aber nicht, ob das stimmt. Ich bin jedenfalls kein Brasilianer und identifiziere deshalb den jungen Mann als männlichen Teil eines heterosexuellen Pärchens. Der junge Mann, der auf dem Bauch liegt, futtert schon seit geraumer Zeit Diverses in sich hinein, während die junge Frau, die neben ihm sitzt und mutmaßlich seine Partnerin ist, nur sehr selten einen Happen zu sich nimmt und ansonsten gelangweilt neben ihm sitzt. Die beiden sehen aus – für mich, nicht für einen Brasilianer – wie ein Pärchen, dass ein Pärchen ist, weil es ein Pärchen ist. Jetzt zieht sie ihr Oberteil an, während er ungerührt weiterfuttert, mit Kaubewegungen wie eine Kuh beim Wiederkäuen. Doch es war untrüglich ein Zeichen von ihr, das Anziehen des Oberteils. Ein Zeichen, dass sie gehen will. Ihr Blick ist jetzt strenger ob seiner Ignoranz. Zur weiteren Recherche ihrer Beziehung wäre es das beste, aufzustehen, zu ihnen hinüber zu gehen und sie darüber zu befragen. Doch das erscheint mir unangebracht.

19:00 Uhr. Der Versuch des Volleyballspielens wurde bereits seit geraumer Zeit eingestellt. Die Frau hat das Handy nicht mehr am Ohr und packt ihre Sachen. Ich sitze längst im Schatten. Der Schatten wird bald die Esche weiter östlich erreichen. Ich werde nicht mehr zur Esche gehen und mich nicht mehr unter ihre Blätter setzen. Wenn ich doch zur Esche ginge – in welche Richtung würde ich mich setzen, wenn ich mich unter die Esche setzen würde? Würde ich mich wieder mit dem Gesicht Richtung Süden setzen, wie jetzt unter der Linde, oder Richtung Westen, um zu warten, bis die Sonne das Loch in der Allee neben den zwei Kiefern erreicht, oder Richtung Osten, um die Baumwipfel zu betrachten, die noch von der Sonne bestrahlt werden? Es würde eine völlig neue Erzählung erfordern, weil sich meine Perspektive völlig geändert hätte. Vorne, links und rechts wären etwas völlig Anderes als bisher. Ich würde die Regungen und Bewegungen der Leute um mich herum völlig anders wahrnehmen.

Ich werde nicht mehr zur Esche gehen und mich nicht mehr unter ihre Blätter setzen. 19:06 Uhr. Der Schatten hat den Stamm der Esche erreicht. Ein sanfter Wind fährt in die Blätter der Linde über mir. Eine Krähe flattert im Geäst. Es gibt viel zu erzählen…

Der Duschkopf

Am Meer gibt es oft Duschen am Strand, damit man sich das Salz vom Körper waschen kann. Auch ich gehöre zu denjenigen, die solche Duschen gerne benutzen, weil mich das Salz sonst juckt, wenn ich es mir nicht vom Körper wasche.

An schönen Sommertagen kann es nun vorkommen, dass sich vor einer solchen Dusche eine kleine Schlange bildet. In solch einer kleinen Schlange befinde ich mich gerade, als plötzlich ein Herr, der unter der Dusche steht, einen lauten Schrei von sich gibt. Alle in der Schlange und sonstige Umstehende schauen daraufhin zu ihm, während er, seinen Rücken mir und den anderen Wartenden zugewandt, wie angewurzelt stehen bleibt. Zögernd dreht er seinen Kopf über die Schulter. Alle warten auf eine Erklärung für seinen Schrei. Ist etwas passiert? Ist alles in Ordnung? Der Herr scheint sich zu sammeln und sagt, immer wieder unterbrochen von einem verlegenen Lächeln: „Diese Dusche ist eine tolle Sache. Um sich das Salz vom Körper zu waschen. Einfach herrlich. Nicht? Wobei ich das Meer an sich, obwohl es voller Salz ist, ja schon sehr mag. Ich meine nicht nur das Baden im Meer. Sondern das Meer an sich. Betrachtet man zum Beispiel die Geschichte der Seefahrt…“

Er setzt gerade an zu erklären, wie die Portugiesen die Hoheit über die Meere erobert haben, als der erste der Wartenden in der Schlange seinen Vortrag unterbricht und ihn fragt, ob er denn nicht neben der Dusche weitererzählen könne, denn er wolle jetzt selbst gerne duschen. Der Mann tritt verlegen zur Seite, als ob er bei etwas sehr Widerwärtigem ertappt worden sei. Er mustert die umstehenden Leute. Hat er Angst, ein Geheimnis von sich preiszugeben? Sein Schrei von vorhin liegt in der Luft.

Unsere Blicke treffen sich. Es ist ein kurzer, aber intensiver Moment. Der Mann zögert. Welche Konsequenzen zieht er aus diesem Moment? Dann stürmt er auf mich zu, packt mich und reißt mich nieder, sodass wir beide auf dem Boden zu liegen kommen.
„Hören Sie!“, sagt er äußerst erregt zu mir. „Das, das geht niemanden etwas an! Niemanden!“
„Was denn?“ frage ich kleinlaut.
„Der Duschkopf!“
Fragende Blicke meinerseits.
„Der Duschkopf machte eben ein sehr komisches Geräusch. Haben Sie es gehört? – Sie müssen es gehört haben!“
Ich getraute mich nicht zu widersprechen.
„Als ich ein kleiner Junge war, hat sich bei einem ähnlichen Geräusch der Duschkopf gelöst und ist mir auf den Kopf gefallen. Es tat höllisch weh. Meine Eltern hatten es nicht gehört, sind erst sehr spät zu mir gekommen. Ich fühlte mich so alleine, so im Stich gelassen.“
Er fängt zu schluchzen an.
Plötzlich wird er wieder ernst, packt mich am Kragen und sagt: „Aber das geht niemanden etwas an. Niemanden!“
Er schaut sich um, richtet sich vorsichtig auf und schleicht davon. Das geht niemanden etwas an! hallt es nach in meinen Ohren.
„Niemanden? Nicht einmal Sie?“ sage ich, aber er ist längst davongegangen und hört mich nicht mehr.

Ich blicke zur Dusche und sehe, dass sie gerade frei ist. Erst einmal abduschen, was ich ohnehin wollte, das ist eine gute Idee, denke ich. Ich stelle mich unter die Dusche und betrachte den Duschkopf. Alles scheint normal. Ich mache das Wasser an. Keinerlei Geräusche. Während das Wasser auf mich prasselt, denke ich: Dem Mann muss geholfen werden! Er muss an die Duschköpfe der Welt wieder herangeführt werden. Und es ist am besten, mit diesem zu beginnen. Ich gehe am Strand umher und suche den Mann. Ich gehe nach hinten, nach vorne, blicke durch alle Reihen. Schließlich finde ich ihn tatsächlich, in einer der versteckteren Ecken. Er blättert in einem Buch über die Geschichte der Seefahrt.
„Kommen Sie!“ sage ich, „ich will Ihnen etwas zeigen.“

Er weigert sich. Ich bleibe hartnäckig, und schließlich kommt er mit. Ich gehe mit ihm zur Dusche. Sie ist frei, keine Schlange davor. Ich stelle mich darunter, mache das Wasser an. Es prasselt auf meinen Körper. Der Mann steht daneben und starrt wie gelähmt auf den Duschkopf. Sein Blick hat etwas Irres, so als sehe er alle Duschköpfe der Welt vor sich, die auf seinen und auf die Köpfe aller seefahrenden Portugiesen knallen. Dann beginnt er, in Schleifen um die Dusche herumzurennen und ruft dabei wie verrückt:
„Duschköpfe beherrschen die Weltmeere! Sie haben die Portugiesen besiegt!“
Er ruft es immer wieder, während er seine Schleifen um die Dusche dreht. Ich spüre Zorn in mir, wahrscheinlich weil mir das alles zu viel wird und ich rufe in seine Schreie hinein:
„Lassen Sie doch die Portugiesen in Frieden! Die geht das nichts an! Es geht um Sie und den kleinen Jungen in Ihnen, der mit den Duschköpfen dieser Welt Frieden schließen soll!“

Er hört mich nicht. Er läuft wie in Trance seine Schleifen. Als ein kleiner Junge seinen Weg kreuzt, stößt er ihn einfach um. Der kleine Junge fängt fürchterlich zu brüllen an. Die Situation scheint völlig zu eskalieren. Dann packen ihn zwei andere Männer und halten ihn fest. Kurz wehrt er sich. Dann fängt er hemmungslos zu weinen an. Dieses Weinen, finde ich, ist das Beste an dieser Geschichte, denn ich hatte das Gefühl, durch die Tränen schien er zu begreifen, dass es ihn sehr wohl etwas angeht, sein Verhältnis zu den Duschköpfen dieser Welt, und dass weder Portugiesen noch sonst wer ihm das abnehmen werden.

Das Wasser prasselt noch immer auf meinen Körper ohne dass ich es merke. So gefesselt bin ich von dieser Szene vor mir. Da berührt mich jemand leicht am Arm und gibt mir zu verstehen, dass er duschen wolle. Für einen kurzen Moment schaue ich die Person verständnislos an über diese banale Bitte in diesem Moment. Dann trete ich zur Seite und sage: „Vorsicht. Duschkopf!“

Was geht mich das jetzt an?

Gedanke und Gedenke

Danke, danke, danke sehr, höre ich die Person sagen. Die Dankesbekundungen nehmen kein Ende, im Gegenteil:

Was für ein nerviges Gedanke, denke ich mir. Doch dies ist offensichtlich ein falscher Gedanke. Denn das Wort Gedanke bezeichnet kein übermäßiges Bedanken (was ich eben für mich als Gedanke bezeichnet hatte), sondern bezeichnet einen, nun ja, einen Gedanken.

Was ist ein Gedanke? (Nein, verschwinde jetzt, Gedanke: Ein Gedanke ist kein übermäßiges Bedanken!) Laut Google ist ein Gedanke ein bestimmter geistiger Inhalt, der als zusammenhängende Einheit gedacht wird. Danke Google, ich danke dir sehr – doch halt: Ich will in kein Gedanke verfallen, das mich bei dieser Person eben so genervt hat.

Ich lese weiter, dass ein Gedanke im Gegensatz zu Wahrnehmung und Intuition als begrifflich aufgefasst wird. Begrifflich! Das ist es ja gerade: Der Begriff Gedanke ist bei mir bereits besetzt, nämlich von übermäßigem Bedanken. Ich brauche einen neuen Begriff für das, was Google als bestimmten geistigen Inhalt bezeichnet.

Allmählich vergeht mir die Lust am Denken, und ich denke: Was soll dieses ganze Gedenke, das dieses Gedanke bei mir ausgelöst hat?

Fakten-Gedicht

Fakten-Gedicht kurrent

Oben liegt der Berg,
unten liegt der See.
Im Winter fällt der Schnee.

Im Sommer scheint die Sonne.
Ohne Sex lebt stets die Nonne.
Doch wenn sie diese Regel bricht –
ist sie dann Nonne oder nicht?