Fest im Fluss

Fremd ist der Fremde nur in der Fremde, sagt Karl Valentin. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich nur in der Fremde bin, wenn ich nachts in meine Träume versinke.

Ich habe mir als Kind die Gewissheit erworben, dass ein Fluss etwas Trennendes ist. Auf der einen Seite des Flusses ist dieses Land, auf der anderen Seite jenes Land. Obwohl die Länder auf beiden Seiten des Flusses sich sehr ähneln, hat der Fluss irgendwann entschieden, das Land in zwei Hälften zu teilen. Die Menschen auf beiden Seiten des Flusses akzeptieren diese Entscheidung. Sie akzeptieren diese Entscheidung nicht nur, sie sind dem Fluss sehr dankbar dafür. Warum sollten sie sonst an den Brücken über den Fluss bewaffnete Männer aufstellen, um dem Fluss bei seiner Trennung hilfreich beizustehen?

In meinem Traum stand ich am Ufer des Flusses. Am anderen Ufer stand mir eine ganze Heerschar von Menschen gegenüber. Diese Heerschar rief laut im Chor: „Wir wollen nichts mit dir zu tun haben!“ Der Fluss hat gut entschieden, dass er uns trennt, die Heerschar und mich. Denn ich möchte sagen, dass die Heerschar am anderen Ufer einen recht wütenden Eindruck auf mich macht. Der Fluss ist quasi ein gottgegebenes Sperrgebiet, das Trennung und Distanz aufrechterhält. Ich könnte doch jetzt meinen Traum beenden und beruhigt weiterschlafen.

Doch dann steige ich in den Fluss. Zuerst mit den Beinen, dann bis zur Hüfte und schließlich mit dem ganzen Körper. Das Wasser trägt mich. Wo sind sie, die am anderen Ufer? Habe ich den Kopf über oder unter Wasser? In der Mitte des Flusses liegt ein Stein, ein großer Stein, ein Felsen. Ich komme auf ihm zum Stehen. Ich stehe auf dem Stein und sehe sie wieder, die Heerschar am anderen Ufer. Vielleicht erinnere ich mich falsch, doch ich habe ihre Gesichter starr in Erinnerung. Diese Starre hält an, bis ein schriller Ruf ertönt, der so gar nicht in diese Starre passen will.  Der schrille Ruf bringt Unruhe in die Heerschar am Ufer. Ratlose Blicke. Hat einer von ihnen diesen Schrei ausgestoßen?

Ich stehe auf dem Stein. Das Wasser des Flusses umtost mich, aber reißt mich nicht fort. Das ist nicht logisch, dass ich so fest im Fluss stehe, obwohl mich das Wasser umtost. Doch muss es logisch sein? Ich habe ohnehin den Eindruck, dass sich das Leben konsequent jeder Logik entzieht und trotzdem verstanden werden kann. Träume ich? Bewegung am Ufer. Ist das die Suche nach dem schrillen Schreier? Wieso suchen sie den schrillen Schreier? Suchen sie den schrillen Schreier? Sie bewegen sich, stolpern über Wurzeln und Gras. Viele verschwinden hinter den Büschen am Ufer. Plötzlich springt einer von ihnen mit einer heftigen Bewegung aus den Büschen und steht am Wasser. Ein paar hinter ihm, die sich gerade davonmachen wollten, bleiben auch stehen. Was passiert jetzt? Dann, plötzlich, überraschend, wie sein Sprung soeben aus den Büschen, nicht vorhersehbar, nicht vorhergedacht, stürzt er sich ins Wasser des Flusses. Die anderen hinter ihm, die sich davonmachen wollten, bleiben wie angewurzelt stehen ob der Unvorhersehbarkeit und Undenkbarkeit dieses Moments. Er strampelt und rudert im Wasser, er findet keinen Halt. Vielleicht will er keinen Halt, denn es sieht so aus, als ob er es genießt, sein Strampeln und Rudern. Ein wahres Fest im Fluss scheint er zu feiern. Die anderen am Ufer wollen ihm folgen und stolpern dabei über Wurzeln und Gräser und über sich selbst. „Entsetzlich, entsetzlich!“ rufen sie, während sie so dahinstolpern, und sind gleichzeitig fasziniert von dem, der sich da im Fluss treiben lässt. Hat der Fluss entschieden, das Land nicht mehr in zwei Hälften zu teilen? Darf der Fluss denn das, mir diese Gewissheit nehmen? Oder hat er sie mir gar nie gegeben und ich habe sie mir nur genommen?

Plötzlich, wieder nicht vorhersehbar, nicht vorhergedacht, baut sich eine Brücke auf über dem Fluss. Ein Bewaffneter steht auf dieser Brücke und zielt mit seinem Gewehr auf den Rudernden und Strampelnden im Fluss. Laute Entsetzensschreie der Ufergesellschaft. Ein Fallen und Stolpern, ein Stöhnen und Ächzen im Gebüsch. Der feste Stein unter mir löst sich und ich falle. Plötzlich ist auch der Fluss mit seinem Wasser unter mir weg und ich falle und falle und… jetzt bin ich aufgewacht.

Bin ich jetzt zurückgekehrt aus der Fremde meiner Träume in mein wirkliches Leben?