Damals in Debalzewe

Im Februar dieses Jahres ließ mich eine Nachricht aufhorchen: Die heftig umkämpfte ostukrainische Stadt Debalzewe ist bei Kämpfen zwischen prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee völlig zerstört worden. Man wisse nicht, wieviele der geschätzten fünftausend verbliebenen Einwohner die Kämpfe überlebt haben. Mir gefiel der Name dieser Stadt: Debalzewe. Umso tragischer empfand ich es, dass diese Stadt nun zerstört ist. Erst jetzt wusste ich, dass es sie gibt, und musste gleichzeitig erfahren, dass es sie nicht mehr gibt.

Heute morgen, mehr als ein halbes Jahr danach, erinnerte ich mich wieder an diese Nachricht, und an die Schönheit des Namens dieser Stadt, die zerstört wurde. Aber ich wusste ihren Namen nicht mehr. Ich wusste nur noch, dass es ein schöner Name ist. Ich recherchierte im Internet und fand bald heraus, dass der Name dieser Stadt Debalzewe ist. Ich wollte mehr herausfinden. Ich wollte herausfinden, was jetzt ist mit dieser Stadt, ein gutes halbes Jahr nach ihrer Zerstörung. Doch die letzten Netzeinträge, die Debalzewe betreffen, sind vom März dieses Jahres und berichten vom großen Ausmaß der Zerstörung.

Ich recherchierte weiter, was davor war in Debalzewe, vor den Kämpfen im Februar. Die Stadt ist ein strategisch wichtiger Verkehrsknotenpunkt, vor allem der Eisenbahn. Wegen der Eisenbahn wurde sie 1878 als kleines Dorf gegründet, wuchs zu einer Stadt heran, ehe sie von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Danach wurde sie von den Russen wieder aufgebaut, ehe sie im Februar dieses Jahres von den Russen wieder zerstört wurde. Gibt es Menschen in Debalzewe, die beide Zerstörungen erlebt haben?

Wieso übt der Name Debalzewe eine derartige Faszination auf mich aus? Ich glaube nicht, dass einer meiner Großväter mir als Kind eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt hat mit dem Titel Damals in Debalzewe und sie deshalb noch so schön in meinen Ohren nachklingt. Oder doch? Wie wäre es, nach Debalzewe zu reisen? Züge fahren keine mehr seit den Kämpfen. Mit dem Auto sind es laut Google von München aus 2.528 Kilometer zu fahren. Es gibt lediglich zwei Baustellen auf der Route, eine in Polen, eine in der Zentralukraine. Fahren wir nach Debalzewe – wer kommt mit? Am besten jemand, der Russisch kann oder Ukrainisch oder noch besser beides… Das könnte über Leben und Tod entscheiden.

25.000 Menschen lebten bis 2014 in Debalzewe, vor den Kämpfen wurden die meisten von ihnen evakuiert. 5.000 aber sind geblieben. Wo sind die 20.000 Evakuierten hin? Gibt es die 5.000 noch, die geblieben sind? Wieviele sind bei den Kämpfen gestorben?

25.000 Menschen aus Debalzewe gegen Millionen von Menschen, die gerade nach Europa flüchten. Aus 2.528 Kilometern Entfernung schreibe ich betroffene Worte, die doch keine Ahnung vermitteln. Denn ich war nicht dabei, gottseidank, damals in Debalzewe.