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Kori Andermatt und die bessere Zukunft

Ich war beim Begräbnis von Kori Andermatt, einem ehemaligen Schulkollegen von mir. Als ich an seinem Grab stand, habe ich sehr geweint. Irgendetwas in mir war tief berührt.

Kori war in der fünften Klasse mein Sitznachbar. Ein Lehrer fragte ihn am ersten Schultag der fünften Klasse: „Wie heißt du?“ Koris voller Name war Kornelius, aber seine Eltern nannten ihn von Geburt an nur Kori, und so antwortete er: „Kori. Kori Andermatt.“ Dieser Lehrer, der sich später als sadistisches Arschloch entpuppen sollte, sagte daraufhin: „Aha. Ich kenne den Nachnamen Matt, aber ich wusste nicht, dass Koriander ein Vorname ist.“ Die ganze Klasse lachte und brüllte. So blieb Kori allen als Koriander Matt im Gedächtnis hängen.

Kori hat sich später immer wahnsinnig geärgert über diese Geschichte. Bei einem Klassentreffen beschimpfte er uns alle übelst dafür, dass wir sie immer wieder erzählen. Nach seiner Schimpftirade warf er sämtliches Geschirr um ihn herum vom Tisch und stürmte aus dem Raum. Mir tat es einerseits leid für ihn, dass es ihn so traf, andererseits verstand ich nicht, dass er nicht endlich darüber hinwegsehen konnte. Er ärgerte sich immer wieder. Jedesmal wenn ich ihn traf, fing er wieder damit an und bekam einen tobsüchtigen Anfall. Geärgert hat er sich aber nicht nur über diese Geschichte, sondern über alles Mögliche in seinem Leben: Er fand die Schule scheiße, dann die Uni, später die Arbeit. Er fand die Mädels scheiße, später die Frauen. Die Partnerinnen an seiner Seite wechselten mit ziemlicher Regelmäßigkeit mindestens alle zwei Jahre.

Einmal schien er glücklich geworden zu sein, mit einer gewissen Angelina. Er zog mit ihr in ein Häuschen ins Umland. Die Straße, in der sie wohnten, trug den Namen Bessere Zukunft:

Bessere Zukunft in Gräfelfing bei München

Ich traf Kori einige Tage vor dem Umzug in die Bessere Zukunft. Da sagte er zu mir: „Emil, das ist doch ein gutes Omen, dass ich nun in eine Straße namens Bessere Zukunft ziehe. Vielleicht wird meine Zukunft besser als meine beschissene Gegenwart.“ Ich wunderte mich wieder einmal, warum Kori seine Gegenwart immer so beschissen fand. Aber das war nun mal ein Prinzip von ihm, alles Gegenwärtige beschissen zu finden, um auf eine umso bessere Zukunft zu hoffen.

Ein paar Monate später traf ich ihn in der Stadt, als ich den Gehsteig entlangging und er mit einem fetten Wagen aus der Tiefgarage hochschoss. Beinahe hätte er mich über den Haufen gefahren, aber er bremste rechtzeitig, und dann erkannten wir uns.
„Kori! Wie geht’s?“ sagte ich, als er die Scheibe heruntergelassen hatte.
„Beschissen. Ich habe Angelina rausgeschmissen, es war nicht mehr auszuhalten.“
„Aha“, sagte ich und schüttelte innerlich den Kopf. „Fette Karre“, sagte ich dann noch, den Wagen betrachtend, der aussah wie ein kleiner Panzer.
„Aus dem Carpool der Firma. Scheißkarre. Ich glaub ich fahr ihn gegen den Baum, dann bekomm ich hoffentlich einen besseren.“

Das war unser letztes Treffen. Ich habe danach nur noch von anderen über Kori gehört. Nach Angelina hatte er überraschenderweise keine neue Freudin mehr und wurde sehr trübsinnig. Alles war noch beschissener als sonst. In der Arbeit eckte er bei allen so an, dass ihm sein Managerposten gekündigt wurde.

Wie ist Kori gestorben? Er hat nicht den fetten Wagen gegen den Baum gefahren. Der wurde ihm vorher genommen. Er hat sich in der Nähe der Besseren Zukunft vor den Zug geworfen. Bevor er das tat, machte er noch ein Foto von sich und postete dazu diesen Text auf sein Instagram-Account:

Ich habe die Hoffnung auf eine bessere Zukunft endgültig aufgegeben. Die Gegenwart ist so beschissen wie sie immer war, sie wird immer beschissener, und ich sehe keine Möglichkeit, dass sich das jemals ändern wird. Ich kann mich nicht einmal mehr ärgern über alles Beschissene, so müde bin ich geworden. Ich gehe jetzt in die Sonne. Bitte vermisst mich nicht!

 

RetroTV

Der neue Fernsehkanal RetroTV besinnt sich auf die Ursprünge des Fernsehens. Bis vor kurzem wurde nur ein Standbild gesendet. Wir wollen ein Medium der Entschleunigung und des Innehaltens sein, heißt es dazu aus der Programmdirektion, weil es dazu großen Bedarf gibt.

Jetzt wurde zusätzlich zum Standbild eine Talkshow mit dem Titel Leut’abend produziert. Als Talkmaster fungiert Blacky Fuchsberger, zeitlebens als ein Meister des Innehaltens und der Gelassenenheit bekannt. Manche denken bei ihm allerdings auch an dampfende Plauderer und Einschaltspinsel. Wie auch immer –  Gäste von Blacky Fuchsberger bei Leut’abend auf RetroTV sind Bertolt Brecht und Wilhelm Reich. Hier vorab das Protokoll zur Sendung:

Bertolt Brecht: Erst kommt das Fressen, dann die Moral!

Wilhelm Reich: Erst kommt die Liebe, dann die Moral!

Bertolt Brecht: Auch gut! Ich kann allerdings keine Verbindung zwischen deiner und meiner Aussage herstellen. Gibt es hier etwa einen Widerspruch? Das wäre schön, denn die Widersprüche sind unsere Hoffnung.

Wilhelm Reich: Das Leben ist ein einziger Widerspruch. Dadurch wird es vorangetrieben. Das Leben ist ein Prozess, nie ein festgefahrener Zustand.

Blacky Fuchsberger: Das erinnert mich an Rainhard Fendrich, der singt: Alles ist möglich, aber nix is fix.

Wilhelm Reich: An wen?

Bertolt Brecht: Den kennen wir nicht. Da waren wir schon tot.

Wilhelm Reich: Ist es nicht ein faszinierender Widerspruch, dass wir beide tot sind und trotzdem in dieser Talkshow sitzen? Wir sind Orgonenergie!

Bertolt Brecht: Ein faszinierender Widerspruch.

Wilhelm Reich: Ich bin ein Jahr vor dir geboren und ein Jahr nach dir gestorben.

Bertolt Brecht: Ich bin ein Jahr nach dir geboren und ein Jahr vor dir gestorben.

Blacky Fuchsberger: Wollen Sie das als Widerspruch präsentieren, meine Herren? Ich fürchte, dazu taugen diese Aussagen nicht. Ich bin übrigens auch schon tot. Und damit gebe ich ab an das Standbild.

Wilhelm Reich (1897 - 1957)
Bertolt Brecht (1898 - 1956)
Joachim "Blacky" Fuchsberger (1927 - 2014)

 

Selbstentfremdung am Hachinger Bach

Durch Haching fließt ein Bach. Die Einheimischen nennen ihn liebevoll Hachinger Bachinger, mehr norddeutsche Zungen sprechen kurz und knapp vom Hach Bach. Ich saß am grünen Ufer des Hachinger Bachingers oberhalb von Haching und las Cesare Pavese, den ich zwecks besserem Fluss des Gesprochenen Cesare Pavesare nenne: Die Liebe ist eine Krise, die Abneigung hinterlässt, schreibt Pavesare. Ich ärgerte mich beim Lesen so über diesen Satz, dass ich das Buch aus meinen Händen in den Fluss des Wassers des Hachinger Bachs warf. Dann passierte etwas Seltsames: Mein Ich zweiteilte sich, was bedeutet, dass sich auch die Erzählperspektive zweiteilt:

Teil 1 (Ich A)
Ich sprang dem im Wasser treibenden Cesare Pavesare hinterher, weil ich spürte, dass hinter dem Ärger über sein Geschriebenes etwas sehr Wichtiges und Existenzielles liegt, das mich betrifft. Ich trieb im Wasser des Hachinger Bachs und merkte, dass es am wichtigsten ist, im Fluss des Wassers zu bleiben, mich von ihm treiben zu lassen, nicht schneller sein zu wollen als der Fluss und auch nicht zu versuchen, den Fluss zu stoppen. Nur so würde ich eine Chance haben, in diesem Fluss auf den treibenden Cesare Pavesare zu stoßen und das Wichtige und Existenzielle darin zu finden.

Bald wurde der Hachinger Bach zum Rinnsal, ohne dass ich den Pavesare fand. Im Münchner Stadtgebiet drohte der Fluss ganz zu versickern, als mich ein Kanal aufnahm, in dem ich durch dunkle Röhren und lange Betonwannen zur Isar gespült wurde. In der Isar hatte ich den Pavesare noch immer nicht gefunden, und dennoch hatte ich das Gefühl, dass er ständig bei mir ist. Das Treiben im Fluss machte Spaß. Ich freute mich auf die Donau und das Schwarze Meer.

Kurz vor der Mündung der Isar in die Donau wurde ich an eine Schotterbank geschwemmt. In diesem Moment des Innehaltens erinnerte ich mich an mein anderes Ich, das ich im Eifer des Gefechts am Hachinger Bachinger zurückgelassen hatte. Ich bekam wahnsinnige Sehnsucht nach diesem anderen Ich. Denn wir gehören doch zusammen. Mit dieser Sehnsucht setzte ich mich ans Ufer und sang einen Brief* an mein anderes Ich, bevor ich meine Reise fortsetzte.
Teil 2 (Ich B)
Ich sah den Pavesare im Wasser davontreiben und glaubte zunächst, mich von einer Last befreit zu haben. Plötzlich fühlte ich mich aber sehr einsam, als ich da am Ufer saß. Ich fühlte mich dieser Einsamkeit hilflos ausgeliefert. Ich schimpfte auf Pavesare, wie er mich so allein lassen konnte. Ich schimpfte auf ihn, weil ich das Gefühl hatte, dass er mir etwas weggenommen hat. Aber Pavesare war unbeeindruckt weitergetrieben im Fluss des Wassers und nicht mehr in meinem Sichtfeld.

Mitten in meinem Schimpfen kam jemand das Ufer entlang und fragte: "Kann ich helfen?"
"Ich helf dir gleich!" brüllte ich den Entlangkommenden an und lief ihm entgegen, um ihm eine zu scheuern, woraufhin er die Flucht ergriff. Ich kehrte zu meinem Uferplatz zurück und schaute ratlos auf das fließende Wasser. Da kam wieder einer am Ufer entlang. Ich packte ihn unvermittelt und warf ihn ins Wasser.
Wie ein nasser Sack schimpfte und schrie er im Wasser: "Du Spinner, ich zeig dich an!"
"Mach doch, wenn du kannst!" schrie ich zurück und warf ihm ein paar Steine hinterher.

Dann kam keiner mehr entlang am Ufer des Hachinger Bachs. Der Pavesare trieb mittlerweile weißgottwo, jedenfalls weit weg, ich denke irgendwo jenseits von München. Es herrschte Ruhe, die sich wie Leere anfühlte. Ich begann mich zu fürchten vor dieser Leere. Die Angst vor ihr trieb Tränen in meine Augen.

Es begann zu regnen. Durch die Tropfen schien es, als käme etwas zu mir. Nicht der Pavesare, nein, etwas viel Wichtigeres. Es klang wie ein vertrautes Lied*, das mir etwas zurückbringen wollte, das ich scheinbar verloren hatte.

*Gesungener Brief/vertrautes Lied
Hachinger Bachinger
Cesare Pavesare

Skrupellos durch die Welt

Ich irre planlos durch meine Welt. Gefühle und Gedanken schwirren kreuz und quer herum und gerade als ich glaube, vollends im Chaos zu versinken, erscheinen als gegensätzliche Pole meiner Welt die Moral und die Freiheit. Sie geben meiner Welt Struktur, die mich ordnet: Da ist die Moral und dort ist die Freiheit. Nichts dazwischen. Nein halt: Ich bin dazwischen. Ich werde zwischen den beiden zerrissen, jedenfalls fühlt es sich so an. Die Moral zerrt an mir und zur Freiheit zieht es mich hin. Die Moral lässt mich nicht los, und so scheint es eine naheliegende Idee, die Moral genauer anzusehen: Die Moral trägt die Bürde von Jahrhunderten, in denen sie genug Zeit hatte, die Menschheit an sich zu ketten. Wäre es nicht sinnvoll, die Moral einfach loszulassen, anstatt sich lange mit ihr zu beschäftigen, und sich der Freiheit zuzuwenden? Oder ist das zu einfach gedacht?

Mir wird das zu kompliziert, zu schwer, und so beschließe ich, mich der Leichtigkeit des Lebens zuzuwenden. Ich schlage die Sportseiten der Zeitung auf. Dort lese ich, dass in New York die offenen US-Meisterschaften im Tennis stattfinden. Es herrscht große Hitze in New York. Deswegen wechseln die Spieler mehrmals während eines Spiels ihr Shirt. Die Männer machen das auf dem Platz und zeigen dem Publikum ihre nackten Oberkörper. Die Frauen gehen dazu in die Katakomben des Tennisstadions. Schade eigentlich, denke ich, denn trainierte Frauenoberkörper wären doch mindestens genauso schön anzusehen wie trainierte Männeroberkörper.

Das dachte sich wohl auch ein Kameramann, denn er folgte einer Spielerin in die Katakomben, filmte sie beim Umziehen und sendete die Bilder live dem Fernsehpublikum. Wozu ging sie dann überhaupt in die Katakomben? Als die Spielerin auf den Platz zurückgekehrt war, bemerkte sie, dass sie ihr Shirt verkehrt herum angezogen hatte. Ohne noch einmal in die Katakomben zu verschwinden (wo sie wahrscheinlich ohnehin wieder gefilmt worden wäre), zog sie das Shirt kurzerhand auf dem Platz aus und richtig herum wieder an. „Hast du gar keine Skrupel?“ rief ihr der Schiedsrichter daraufhin zu und rügte sie.

Skrupel! Das ist das Wort! Das ist das verbindende Element zwischen Moral und Freiheit! Ein Skrupel ist eine auf moralischen Bedenken beruhende Hemmung, etwas Bestimmtes zu tun. Ein Skrupel beraubt einen der persönlichen Handlungsfreiheit. Ein Skrupel sorgt dafür, dass einen die Moral nicht in die Freiheit entlässt. Das bin ich also: Ein Mensch voller Skrupel. Ich spüre schon wieder die Schwere des Themas und kehre sofort wieder zurück zur Leichtigkeit der Sportberichterstattung.

Die Spielerin blickte den Schiedsrichter nach der Rüge zunächst verduzt an, hatte sie doch beim Aus- und Anziehen des Shirts ihre Brüste moralisch einwandfrei mit einem Sport-BH bedeckt gehabt. Dann aber zerriss sie die Ketten der Moral: Sie zog ihr Shirt wieder aus, anschließend auch ihren Sport-BH und rief dem Schiedsrichter zu: „Nein, ich habe keine Skrupel, denn ich bin frei! Und mit deiner Moral will ich nichts zu tun haben!“ Ein Kampf für die Freiheit, den sie da ausrief. Denn warum darf das Publikum nackte Oberkörper von männlichen Spielern betrachten, aber keine nackten Oberkörper von weiblichen Spielern?

Mit dem Zeigen und Betrachten von nackten Körpern scheint die Menschheit ein großes moralisches Problem zu haben. Wie ist es sonst möglich, dass ein Kameramann die Spielerin beim Umziehen in den Katakomben heimlich filmt und die Bilder live dem Fernsehpublikum sendet, die Spielerin draußen auf dem Platz aber gerügt wird, wenn sie ihr Shirt nochmal aus- und anzieht? Einerseits das große Verlangen, andererseits die große Scham.

Die Sportberichterstattung bringt keine Leichtigkeit in mein Leben, im Gegenteil. Sie führt mich mitten hinein in die Schwere der Problematik von Moral und Freiheit. Wieso hängt die Menschheit so an der Moral? Ist die Freiheit zu anstrengend, weil sie Verantwortung für das eigene Handeln einfordert? Ist es leichter, sich der Moral zu unterwerfen anstatt Verantwortung für sich selbst zu übernehmen? Und viele Skrupel zu entwickeln, um eigenverantwortliches Tun zu verhindern?

Nein, nein, nein! Ich will mich der Moral nicht mehr unterwerfen und habe beschlossen, künftig skrupellos durch die Welt zu laufen. Und bei allen moralischen Bedenken, die da noch kommen mögen: Es fühlt sich frei an!

Skrupellosigkeit bei den US-Open

Perfekte Paare

„Filo und Bene trennen sich!“
Vorderbrandner rief mir diese Nachricht zu als eine Weltneuheit, die umfassender Analyse bedarf.
„Hast du gehört: Filo und Bene trennen sich!“

„Ja, ich habe gehört. Was ist denn das für eine Nachricht? Das Erwartbare ist nach langen, quälenden Jahren endlich eingetreten. Zumindest für mich“, sagte ich: „Und was heißt das überhaupt: Sie trennen sich? Hätten sie ihre Vereinigung nicht so ernst genommen, müssten sie ihre Trennung jetzt nicht so ernst nehmen. Die Polarität der Dinge ist eine fatale Falle, die sich das Hirn stellt.“

„Bene zieht aus.“

„Soso, Bene zieht aus. Findet er seine These nun bestätigt?“

„Welche These?“

„Die These, dass der Mann nur der Erzeuger ist, aber mit der Aufzucht des Nachwuchses am besten nichts zu tun haben sollte.“

„Das sagt Bene?“

„Ja, das sagt Bene. Sein Lieblingstier ist der Gepard. Männliche Geparden kümmern sich überhaupt nicht um den Nachwuchs. Das macht das Weibchen alleine. Dieses Rollenmodell, sagt Bene, wäre für die Menschheit ein erstrebenswertes. Was Bene allerdings nicht sagt: Es gilt als wahrscheinlich, dass männliche Geparden ein sehr orientierungsloses Leben führen, weil sie als Junge keine väterliche Führung erfahren.“

„Dann soll also Liliane bei Filo bleiben und Ludwig mit Bene ausziehen?“

„Nein, Schmarren! Li braucht genauso ihren Vater wie Lu seine Mutter. Wir alle, ob Mann oder Frau, tragen männliche und weibliche Anteile in uns.“

„Ist das die Erkenntnis aus deinem letzten Tantra-Seminar?“

„Nein. Das ist meine Überzeugung. Mann und Frau ist genauso eine Polarität wie vereinigen und trennen. Vielleicht sollte man Filo und Bene sagen, dass sie sich nicht trennen sollen. Nicht so permanent, als polare Endlösung. Vielleicht sollten sie mehr changieren zwischen Trennung und Vereinigung. Nicht auf den Polaritäten beharren.“

„Du hast leicht reden. Drückst dich selbst vor jeglicher Beziehung und willst anderen raten, wie sie ihre Beziehung führen sollen. Speziell wenn Kinder da sind, ist es nicht leicht sich zu trennen!“

„Die Kinder! Dann wird auf die Kinder gezeigt! Ein Kind ist nur so glücklich, wie es seine Eltern sind. Kann ein Kind glücklich sein, wenn seine Eltern unglücklich in ihrer Beziehung sind? Das Kind hat ein Recht darauf, nicht in der unglücklichen Beziehung seiner Eltern gefangen zu sein. Und die unglückliche Beziehung, die machen sich die Eltern selbst. Es müsste keine unglücklichen Beziehungen geben, wenn jeder offen wäre für eine glückliche Beziehung. Aber immer sind da diese Vorstellungen und Erwartungen von Glück, die geradewegs ins Unglück führen!“

Ich beendete meinen Vortrag, und auch Vorderbrandner sagte nichts. Dann fiel mir mein Traum von letzter Nacht ein und ich begann, ihn zu erzählen:
„Ich sah Filos und Benes in orange gehaltenes Wohnzimmer mit den grünen Sesseln. Die drei Holzgazellen standen da, die Filo aufgestellt hatte zur Steigerung ihrer Fertilität, weil es doch anfangs mit dem Schwangerwerden nicht geklappt hat. Dann kam Filo in den Raum, ganz in brauner Tarnfarbe gekleidet, und machte merkwürdige Verrenkungen. Sie schien sich auf die Begrüßung von Gästen vorzubereiten. Bald wackelte auch Bene rein, ebenfalls in tarnfarbenem Braun, und schenkte sich erstmal einen ein, um sich auf seine Art auf den anstehenden Abend vorzubereiten. Als erster Gast kam Gusti. Oder heißt sie Gundi?“

„Beides. Sie heißt Auguste Gundula.“

„Auf jeden Fall die mit dem Putzfimmel. Sie nahm gleich nach der Begrüßung den Staubsauger und fing zu saugen an. Schon seltsam, dass mich Filo und Bene hartnäckig mit ihr verkuppeln wollten.“

„Du wärst aufgeräumt gewesen mit ihr.“

„Dann kamst du, mit deiner kackbraunen Strickweste, die du eine zeitlang immer getragen hast.“

„Das ist ja schon ewig her!“

„Ja, ihr wart alle recht jung in meinem Traum. Du kamst tanzend in den Raum, mit der Ungarin, die ganz in grün gekleidet war, dabei aber das Kunststück fertigbrachte, dass der Rock nicht zum Oberteil passte.“

„Mit der kam ich auf die Party, stimmt. Sie sagte, sie will nur mitkommen, wenn wir tanzen. Das war aber keine Ungarin.“

„Mag sein. Aber jeder nannte sie doch Die Ungarin.“

„Und dann?“

„Kamen noch ein paar andere Leute. Auch der Verehrer, den sich Filo immer hielt. Stand draußen am Fenster, hat reingeguckt und getrunken. Seltsam, dass Filo sich immer Trinker hält. Und dann kam Agathe reingehüpft, mit einem kurzen schwarzen Kleidchen und einem Stirntuch in den Haaren.“

„Das ist kein Traum – das war so! Agathe kam zur Tür herein, total aufgedreht, und ist über den von Auguste Gundula bedienten Staubsauger gefallen. Ich saß in einem der grünen Sessel, und sie ist quasi direkt in meinen Schoß gefallen. Damals haben wir uns das erste Mal gesehen. Ich erinnere mich genau. Du warst übrigens nicht auf der Party, hast komisch rumgedruckst. Wolltest wohl Auguste Gundula nicht treffen.“

„Auguste Gundula – was macht die eigentlich?“

„Hat einen rechten Spießer geheiratet, hat mit ihm zwei Kinder und lebt im Reihenhaus im Umland, das sie schön sauber hält. Ein perfektes Paar sozusagen.“

„Ein perfektes Paar? So wie Filo und Bene? Ich will nichts mehr hören von perfekten Paaren!“

„Bist ja bloß neidisch, dass du nicht Teil eines perfekten Paares bist!“

„Ja, wahrscheinlich. Und du und Agathe? Seid ihr auch so ein perfektes Paar?“

„Agathe und ich? Wir sind ziemlich unperfekt. Haben kein Bedürfnis zusammenzuziehen wie es die bürgerliche Konvention für perfekte Paare vorschreibt. Freuen uns jedesmal, wenn wir uns sehen. Wahnsinn eigentlich, dass sie mir damals so in den Schoß gefallen ist. Ich habe das Gefühl, wir sind auf einer Reise, von der wir nicht wissen, wo sie uns hinführt und auf der wir uns immer wieder begegnen. Das ist schön.“

„Eine Frage: War eigentlich die Blondine damals auf der Party, in die ich so verknallt war? Und trug sie einen bunten blumigen Hosenanzug?“

„Daher weht der Wind. Deshalb der Traum. Ich weiß nicht mehr, ob sie da war. Kann schon sein. – Und selbst wenn ich es wüsste: Ich würde es dir nicht sagen. Wärst du damals einfach gekommen, dann müsstest du nach so langer Zeit nicht mehr von ihr träumen! Sondern würdest auf deiner Lebensreise vielleicht von ihr begleitet werden. Oder auch nicht. Jedenfalls würdest du nicht mehr in Sehnsucht nach ihr zergehen und von der perfekten Beziehung träumen.“

Perfekte Paare: Der Traum in Bildern

 

Huckleberry und Klause

Ich bin Künstler und Psychologe, sagt Uteto Fritz, aber ich bezeichne mich selbst gerne als Sprachenergetiker. Neulich bin ich in meinem sprachenergetischen Tun wieder einmal mit der Liebe in Berührung gekommen, als ich Huckleberry und Klause kennenlernte, ein junges Paar, das eigentlich sehr glücklich miteinander ist.

Ihr seht sehr glücklich aus, sagte ich zu ihnen, sagt Uteto Fritz, woraufhin Klause meinte:

Sind wir auch. Aber wir trauen diesem Glück nicht.

Klause – ein sehr ungewöhnlicher Vorname für eine Frau, sagte ich.

Da fängt das Unglück schon an, sagte Klause, bei meinem Vornamen.

Wieso?

Ich habe vier ältere Schwestern, wir sind also fünf Schwestern. Meine Eltern wollten eigentlich nur zwei Kinder. Mein Vater wollte aber unbedingt einen Sohn, sodass sie weitergemacht haben mit dem Kinderkriegen nach der Geburt meiner zweitältesten Schwester, bis endlich ein Sohn auf die Welt kommen würde. Als ich auf die Welt kam, als fünftes Mädchen, sagte meine Mutter zu meinem Vater: „Klaus, ich mag nicht mehr! Fünf Kinder sind genug, auch wenn kein Junge dabei ist. Ich habe einen Vorschlag: Lass uns unsere Jüngste doch Klause nennen, so wie Simon und Petra eines ihrer Mädchen Simone genannt haben. So hat sie wenigstens deinen väterlichen Namen.“

Kurz überlegte mein Vater, ob er meine Mutter verlassen und mit einer anderen Frau mit dem Kinderkriegen weitermachen sollte, bis ein Sohn dabei herausspringt, doch dann entschied er sich, bei meiner Mutter zu bleiben und stimmte beidem zu: nämlich es bei fünf Kindern zu belassen und mich Klause zu nennen.

Erstaunlich, wie leicht Ihren Eltern das Kinderkriegen fiel, sagte ich. Sie wirken auf mich in Ihrer Erzählung, trotz der Sohn-Problematik, wie ein verständnisvolles und zufriedenes Paar. Was macht nun Sie als Tochter dabei so unglücklich?

Ich weiß nicht, sagte Klause. Ich fühle mich einfach unglücklich. Ich suchte mein Unglück in meinem Namen. Eine Psychologin meinte, Klause bedeutet Enge – ob es denn bei meiner Geburt recht eng zugegangen sei? Ich fragte meine Mutter, sagte Klause, und sie meinte: „Nein, wieso denn? Da kamen doch vorher schon vier andere raus.“ Ein anderer Psychologe meinte, Klause ist ein altes Wort für Einsiedelei – ob denn Einsamkeit eine große Rolle spielt in meinem Leben? Nein, sagte ich, ich bin mit vier älteren Geschwistern aufgewachsen, die jung genug waren, um Spielgefährten zu sein, sagte Klause, als sich plötzlich Huckleberry zu Wort meldete und meinte, in seinem Leben spiele sie dafür eine große Rolle, die Einsamkeit.

Sind Sie Einzelkind? fragte ich.

Ja, sagte Huckleberry, ich bin Sohn einer Amerikanerin und eines Deutschen. Um ihr Heimweh zu lindern, wollte mir meine Mutter einen amerikanischen Namen geben. Mein Vater, Horst Hackl sein Name, gestand meiner Mutter das zu.

Sie heißen also Huckleberry Hackl?

Ja. Allein schon wegen meinem Namen zum Außenseiter erkoren.

Ich wusste nicht, was ich weiter sagen sollte, sagt Uteto Fritz, also ließ ich der Stille ihren Raum. Das junge Paar, so mein Eindruck, war bedrückt von der Stille. Huckleberry wechselte von einer Verlegenheitsgeste in die andere, während Klause mich erwartungsvoll ansah, auf dass ich endlich die Stille beende. Ich dachte jedoch nicht daran, im Gegenteil – ich fand die Stille sehr wohltuend, bis es schließlich aus Klause herausplatzte: „Und das Schlimmste ist: Ich bin schwanger. Stellen Sie sich vor, es wird ein Junge – sollen wir ihm wieder einen amerikanischen Namen geben Huckleberrys Mutter zuliebe, obwohl Huckleberry ihm so gerne einen deutschen Namen geben würde? Oder es wird ein Mädchen! Meine Schwestern haben noch keine Kinder. Können wir meinem Vater das antun, dass sein erster Enkel wieder ein Mädchen wird?“

Für einen Moment dachte ich, nun sollte wieder Stille einkehren, sagt Uteto Fritz, doch dann ergriff ich selbst das Wort und sagte: Das Schöne ist, dass Sie beide, Huckleberry und Klause, sich lieben. Es ist was es ist, sagt die Liebe, sagt Erich Fried in seinem berühmten Gedicht. Und das ist doch, was zählt.

Ja, aber.., sagte Klause, und ich fuhr streng dazwischen und sagte: Ich möchte, dass ihr jetzt für fünf Minuten still seid! Kein Wort!

Klause sah mich entgeistert an, während Huckleberrys Gesichtsausdruck eine Mischung aus Skepsis und Erleichterung war.

Da saßen wir nun zu dritt in der Stille. Nach etwa drei Minuten fing Klause zu weinen an, und mit kurzer Verzögerung weinte auch Huckleberry. Was raus muss muss raus, dachte ich mir, sagt Uteto Fritz. Endlich kommt es raus! Dann legte ich Matten auf den Boden, wir legten uns auf sie und lagen über eine halbe Stunde schweigend da. Als wir uns verabschiedeten, urarmten mich Huckleberry und Klause lang und innig. Ich glaube, ich habe Liebe gespürt, sagt Uteto Fritz.

Hier gingst du von uns Schorsch

Auf einer Wanderung gehe ich an diesem Marterl vorbei:

Beeindruckt von der Schlichtheit der Botschaft bleibe ich stehen. Hier ging Schorsch in die Büsche und kam nicht mehr raus.

Andächtig im Moment versunken erinnere ich mich an Schorsch Dorsch (von dem ich bereits kürzlich berichtet hatte), der eigentlich Georges hieß weil seine Ururgroßmutter Französin war und den seine Mutter bevorzugt mit einem Fisch namens Franzosendorsch bekochte. Vor allem erinnere ich mich daran, dass auch Schorsch Dorsch nicht mehr lebt.

Zu Schorschs kurzem Leben von nicht einmal siebenundzwanzig Jahren ist Folgendes zu sagen: Auf eine schwierige Kindheit folgte eine schwierige Zeit des Erwachsenwerdens. Kontakt mit Frauen fand nicht statt. Ich weiß noch, als wir Doktor spielten und Jungs und Mädchen sich intensiv begutachteten. Schorsch jedoch schmollte angewidert in der Ecke und ließ die ihm Zugedachte einfach sitzen. Nie sah man Schorsch mit einer Frau, bis man ihn schließlich fragte: Schorsch, bist du schwul? Schorsch sagte: Nein, ich warte nur auf meine Traumfrau.

Eines Tages tauchte tatsächlich eine Frau auf namens Otilie. Sie stand da in schrecklich biederen Klamotten und wirkte wie eine, die auch noch nie bei Doktorspielen mitgemacht hat. Sehr unsicher war ihr Auftreten – nein – mehr noch: Man sah ihrem Körper an, dass er voller Angst steckte. Frau Dorsch jedoch betonte Otilies blaue Spuren in ihrem Blut. Sie war so entzückt von der Vorstellung, dass ihr Schorsch nun eine gutbürgerliche Existenz als Ehegatte starten könnte, dass sie Schorsch und Otilie eine Verlobungsreise nach Paris spendierte.

Ich stelle mir die beiden vor, wie sie durch Paris flanieren, mit ihren dicken Brillen auf den Nasen und den leicht schielenden Augen, was ein Sich-in-die-Augen-schauen schwierig macht. Auch alles andere zwischen den beiden stelle ich mir schwierig vor.

An einem Abend jedenfalls gingen sie zur Pont des Arts, um dort ein Schloss anzubringen und ihre Liebe zu besiegeln. Schorsch hatte das Bügelschloss seines Fahrrads dabei, weil er kein anderes gefunden und so dieses in den Koffer gesteckt hatte. Auf der Brücke war alles vollgesteckt mit Schlössern. Lange suchten die beiden nach einer Lücke an einer Strebe, bis sie endlich fündig wurden. Schorsch öffnete das Schloss und gab es um die Strebe. Als es zuschnappte, wollte er Otilie den Schlüssel geben, damit sie ihn in die Seine wirft. Doch genau in diesem Moment krachte die Brücke in sich zusammen. Das Fahrradschloss von Schorsch war genau das eine Schloss zuviel für die Statik der Brücke. Die zusammenkrachende Brücke riss Schorsch und Otilie in den Tod.

Frau Dorsch war tief schockiert, dass ihr Schorsch ausgerechnet in ihrem geliebten Frankreich den Tod fand und hat sich bis heute nicht von diesem Schock erholt. Herr Dorsch meinte: Warum musste er auch sein Fahrradschloss auf die Brücke hängen? Ein normales Türschloss hätte es doch auch getan!

Ich stehe noch immer beim Marterl am Wegrand, wo Schorsch von uns ging. Ich sollte jetzt endlich mal nach Paris fahren und zur neuerbauten Pont des Arts gehen. Dort werde ich dann andächtig stehen und mir denken: Hier gingst du von uns Schorsch.

Vorwarnungen zur Katastrophe an der Pont des Arts

Emil hat Konstanze geküsst

„Im Mai also“, sagte Emil, „soll es gewesen sein: In Sydney hat der Schriftsteller Junot Diaz die Schriftstellerin Zinzi Clemmons geküsst. So weit, so romantisch. Eine schöne Geschichte: Ein Schriftsteller küsst und schreibt nicht nur darüber. Doch zunächst wurde diese Geschichte ganz anders erzählt: Zinzi Clemmons sagte noch in Sydney, Junot Diaz habe sie sexuell genötigt. Außerdem sagte sie, nun würden auch viele andere Frauen an die Öffentlichkeit gehen, die Junot Diaz ebenfalls sexuell genötigt hat. Diaz, offenbar noch völlig unter dem Eindruck des intimen Moments mit Clemmons stehend, unterwarf sich voll und ganz der Geschichte Clemmons. Er hielt schriftlich fest, dass er volle Verantwortung übernehmen wolle für seine Vergangenheit.

Wie ging es weiter? Zunächst einmal gingen die anderen Frauen nicht an die Öffentlichkeit. Entweder hat Diaz sie nicht geküsst, oder sie empfanden die Küsse nicht als sexuelle Nötigung, sondern als Küsse, die sie lieber für sich behalten wollen. Das Ausbleiben dieses Shitstorms der anderen Frauen sorgte jedenfalls dafür, dass erste Zweifel an der Geschichte von Clemmons aufkamen. Eine Menge von Leuten zerbrach sich nun den Kopf, wie es denn wirklich gewesen sein könnte. Mitten in dieses Kopfzerbrechen hinein sagte Junot Diaz plötzlich, dass er Mist geschrieben habe mit diesem Statement über Verantwortung, denn einen Übergriff habe es nie gegeben. Ja – hat es denn nun einen Kuss gegeben, und wenn ja, war es ein übergriffiger? Noch immer zerbrechen sich viele Leute den Kopf über einen Kuss, den es vielleicht gegeben hat, dessen Natur und Beschaffenheit jedoch im Nebel der Vergangenheit zu verschwinden droht.“

„Warum erzählst du mir das?“ fragte Josefine: „Was willst du mir damit sagen?“

„Ich weiß nicht. Mehr habe ich auch nicht zu erzählen. Erzähl du doch etwas!“

„Wir wollten ein Feature über den Opernsänger Nicolai Gedda und sein Leben machen. Dann meinte jemand in der Redaktion, dass er einst den Paganini gesungen hat mit dem Lied Gern hab ich die Fraun geküsst, und einer, der so etwas singt, denn könne man im Moment nicht bringen. MeToo und so – viel zu heikel.“

„Das ist doch unglaublich!“ echauffierte sich Emil.

„Reg dich nicht so auf! Was ist denn los mit dir?“ Josefine beugte sich näher zu Emil und fragte mit liebevollem Ton: „Was habt du und Konsti denn gemacht, als ihr euch diese Woche getroffen habt? Konsti wirkte so gut gelaunt heute.“

Emil lehnte sich zurück und schaute Josefine in die Augen. Josefine strich ihm über die Wange und meinte lächelnd: „Und deswegen regst du dich so auf. Junot Diaz und der Kuss oder Nicht-Kuss. Nicolai Gedda und seine Küsse an alle Frauen. Emil“, sagte sie und sah ihm jetzt tief in die Augen: „Ich fühle mich geliebt von dir und ich liebe dich.“

Als Abschluss dieser Geschichte, und das darf als gesichert gelten, folgte ein Kuss zwischen Josefine und Emil.

Zusammenfassend soll festgestellt werden:

Emil hat Konstanze geküsst.
Junot Diaz hat Zinzi Clemmons geküsst oder auch nicht.
Nicolai Gedda hat alle Frauen geküsst.

Wie aus vererbter Angst Miserablismus wird

Es gibt etwas, sagt Vorderbrandner, das ich vererbte Angst nenne. Es steckt in mir und in vielen anderen in diesem Land. Über die vererbte Angst in mir kann ich Folgendes sagen: Mein Urgroßvater hat große Angst erfahren im Ersten Großen Krieg und sie in die Familie eingebracht. Mein Großvater war erster Erbe der Angst meines Urgroßvaters, um dann selbst die große Angst im Zweiten Großen Krieg zu erfahren. Mein Vater war dann Erbe der Angst aus zwei großen Kriegen, ohne selbst diese große Angst zu erfahren. Er hatte sie im Blut. Das Konzept der großen Angst dominierte sein Leben. Ein anderes Konzept kannte er nicht. Es klingt fatal und es ist auch so: Er sollte das Konzept der großen Angst bis zu seinem Tod nicht aus sich herausbekommen.

Dann kam ich als nächster Angst-Erbe, der nicht den geringsten Hauch der tatsächlichen großen Angst im Krieg selbst erlebt hat. In den 1980er-Jahren, dem Jahrzehnt meiner Kindheit, sangen viele andere von der Angst, zum Beispiel Die Schmidts und die Jungs aus der Tierhandlung. Am Ende dieses Jahrzehnts, am Beginn meines Übergangs zum Erwachsenwerden, veröffentlichten die Jungs aus der Tierhandlung ein Lied namens Miserablismus, das so einprägsame Aussagen enthält wie: Verneine Glück als eine Option und du wirst nicht mehr enttäuscht sein! Liebe ist ein unmöglicher Traum. Dein Leben ist als Drama inszeniert: Jede Vorstellung hat kein glückliches Ende aber eine deprimierende Botschaft. Blicke um der Sache willen immer finster drein (Angst! Angst! Angst!), das zeigt der Welt deine Substanz und Tiefe! Das Leben ist ein unmöglicher Entwurf und Liebe ein nicht wahrnehmbarer Traum. Es wird die Philosophie des sogenannten Miserablismus entworfen, eine Art Manifest der kultivierten Angst. Und diese Philosophie wurde meine Religion für mein beginnendes Erwachsenenleben. Natürlich war mir damals nicht bewusst, dass ich ein Anhänger des Miserablismus geworden war. Es gab für mich einfach kein anderes Leben, so sehr war die große Angst meiner Väter in mir verankert. Leben bedeutete Miserablist sein, nichts anderes. Ich unterfütterte diese Lebensform mit der Musik der Schmidts und der Jungs aus der Tierhandlung. Apropos Schmidts: Vor etwa zehn Jahren wurde mein miserablistisches Elend so groß, dass ich Schmidts-Platten hervorkramte und das Lied Der Himmel weiß wie elend mir zumute ist in Dauerschleife anhörte. Ich war auf dem Höhepunkt des Miserablismus angelangt, musste jedoch erkennen, dass Miserablismus in zu harten Dosen zum Tod führt. In der Todesangst, der scheinbaren Erfüllung jedes Miserablisten, entschied ich mich für das Leben.

Nun war der Gang ins Leben jedoch nicht so einfach, denn die geerbte Angst stand mir hartnäckig im Weg, wie ein großer und steiniger Berg. Trotzdem begab ich mich auf Wanderung, kletterte über steile Hänge und kroch durch dunkle Höhlen, weil ich eine Ahnung von dem bekommen hatte, was ein Leben ohne geerbte Angst sein könnte. Angst an sich, sagt Vorderbrandner, ist ein gutes lebenserhaltendes Gefühl, zum Beispiel die Angst vor dem Tod im Krieg. Wenn sich die Angst jedoch im Körper festsetzt wie Krebs, ohne ersichtlichen äußeren Grund, wird sie zum lebenszersetzenden Albtraum.

Es war ein harter Weg über und durch diesen steinigen Berg. Auf steilen Hängen und in dunklen Höhlen begegnete ich dem Manifest meines bisherigen Lebens, dem Lied Miserablismus der Jungs aus der Tierhandlung. Wie magisch angezogen tauchte ich tief ein in die Tiefen dieses Lieds. Bei diesem Tiefgang entdeckte ich, dass im Refrain gesungen wird: Miserablismus ist und ist nicht, und im Mittelteil: Aber wenn „ist“ nicht war und „ist nicht“ war, dann kannst du nicht sicher sein: Aber du könntest große Freude finden. Eine Logik, die für mich plötzlich sehr logisch war, obwohl ich sie so viele Jahre überhört hatte. Jetzt war mir klar: Die Jungs aus der Tierhandlung singen gar keine Hymne auf den Miserablismus, sondern eine Persiflage auf die Lieder des Elends der Schmidts. An diesem Tag, auf dem steilen Hang am Eingang zur dunklen Höhle, erkannte ich den Miserablismus als verwerfungswürdiges Konzept und begann voll Zuversicht an ein Leben zu glauben, in dem ich große Freude finden kann. An ein freies und selbstbestimmtes Leben jenseits der vererbten Angst, sagt Vorderbrandner.