Agathes Fahrrad und die Sterne hinter ihr

Ich bin froh um Vorderbrandner. Er ist so etwas wie ein Bruder für mich. Ich habe mir als Kind immer einen Bruder gewünscht, am liebsten einen Zwillingsbruder. Und wenn ich an eigene Kinder denke, würde ich am liebsten Zwillinge haben. Ein einzelnes Kind stelle ich mir so einsam vor in seiner Welt. Woher kommt diese Einsamkeit?

Ich gehe mit Vorderbrandner die bevölkerte Straße entlang. Ich bemerke eine gewisse Aufregung bei ihm. Als ich ihn darauf anspreche, sagt er: „Die Welt dreht sich nur um Muschis und Schwänze.“

Was für eine Frau ist jetzt in seinem Kopf? Immer wenn er mit solchen Allgemeinplätzen rausrückt, drückt ihn etwas ganz Bestimmtes. Ich sage: „Du hast Recht. Die Welt dreht sich um Muschis und Schwänze. Ich finde diese Welt eine sehr anregende Welt, auf die ich jeden Tag aufs Neue gierig, neu-gierig bin. Ich habe nichts als Frauen im Kopf. Durch sie küsst mich die Muse, durch sonst nichts.“

Schweigend gehen wir weiter die bevölkerte Straße entlang. Vorderbrandner denkt an eine Frau, da bin ich mir sicher. Ich bin mir außerdem sicher, dass Frauen über das Leben bestimmen. Weil die Männer das nicht glauben wollen, erfinden sie unsinnige Geschichten, um Frauen zu unterdrücken. Und weil die Frauen schon so lange unterdrückt werden, haben viele von ihnen es sich zum Ziel gesetzt, die Männer zu unterdrücken.

Plötzlich bleibt Vorderbrandner vor einem Fahrrad stehen. Es ist ein altes schwarzes Damenfahrrad, mit einer gewissen Patina, aber elegant.

„Das ist ihr Fahrrad“, sagt er. „Das ist Agathes Fahrrad.“

Jetzt ist die Katze also aus dem Sack: Agathe heißt die Frau, um die es geht.

„Das ist das Fahrrad, mit dem sie mit mir durch die Nacht flaniert ist, durch diese laue, sternenklare Nacht letzten Sommer. Ich glaube, das ist ihr Fahrrad – nein, ich bin mir sicher: Das ist ihr Fahrrad! Ich sehe sie darauf sitzen, mit Eleganz, Anmut und Sinnlichkeit, und hinter ihr funkeln die Sterne.“

Vorderbrandner betrachtet das Fahrrad und erlebt noch einmal seine laue Sommernacht mit Agathe. Sein Blick sagt mehr als er jemals beschreiben könnte. In seinen Augen funkeln die Sterne dieser Nacht.

Er redet weiter: „Ich weiß gar nicht, ob ich Agathe noch erkennen würde. Ich habe sie nicht mehr gesehen seit dieser Nacht letzten Sommer. Aber in meinem Kopf ist sie ständig da. Was macht sie mit mir? Bin ich verliebt in diese Nacht, oder bin ich verliebt in Agathe?“

Ich bin gerührt von Vorderbrandners Verliebtheit. Er ist verliebt in dieses Leben, das sich um Muschis und Schwänze dreht. Wir bleiben am Fahrrad stehen, während die Leute an uns vorbeigehen, so als wollten wir diesen Moment der Andacht in die Länge ziehen. Bin ich naiv, wenn ich glaube, dass es in diesem Leben um Liebe und nicht um Macht geht?

Ode an Josefine

Josefine kommt zur Tür herein und sieht mich lächelnd und zufrieden im Sessel sitzen.

„Was strahlst du so?“ fragt sie mich.

„Ich habe herausgefunden, warum die naturwissenschaftlichen Fächer in der Schule so eine Qual für mich waren.“

„Und das versetzt dich in so gute Laune?“

„Ich will es dir erklären. Ich versuche es. Die Verdunstung, zum Beispiel. Da steht: Bei einer Verdunstung geht ein Stoff vom flüssigen in den gasförmigen Zustand über, ohne dabei die Siedetemperatur zu erreichen. Ist das nicht ein Wunder, dass Wasser an der Luft verdunstet? Ich habe weitergelesen über Verdunstung, aber schon bald gab ich auf. Ich bin steckengeblieben bei diesem Wunder, so als würde ich voller Erstaunen beobachten, wie das Wasser aus frisch gewaschener Wäsche an der Leine verdunstet. Und so bin ich immer in den Physik- und Chemiebüchern steckengeblieben, weil ich aus dem Staunen nicht herauskam.“

Ich möchte Josefine noch von der Quelle erzählen, von dem Ort, an dem dauerhaft oder zeitweise Grundwasser auf natürliche Weise an der Geländeoberfläche austritt, und was für ein Wunder das ist, und wie schön es ist, sich am Quellwasser zu waschen und zu erfrischen, doch da geschieht schon das nächste Wunder: Josefine küsst mich leidenschaftlich.

Ich sollte dieses Wunder geschehen lassen, doch bei diesem Kuss, bei diesem oralen Körperkontakt, erwacht der Naturwissenschaftler in mir. Ich sollte in diesem speziellen Fall spezifizieren: der Philematologe.

Wie fühlt sich der Kuss an? Die Grenzen verschwimmen. Wo fange ich an, wo höre ich auf? Wer bin ich überhaupt? Ich weiß es nicht. Ich fühle es. Jeden Tag ist es ein neues Wunder, mich zu erleben, ohne zu wissen, wer ich bin. Ein Herantasten an das Leben, das ist jeder Tag. Dein Betasten meiner Lippen, meiner Haut, meines Körpers, mein Betasten deiner Lippen, deiner Haut, deines Körpers. Ist das nicht ein Wunder?

Ich wollte nichts über Wunder schreiben, weil ich es tunlichst vermeide, über Wunder zu schreiben. Wunder geschehen. Dennoch kann ich es nicht lassen, mit dem Schreiben. Ich weiß einen Ausweg: Ich lasse Musik sprechen. Vielleicht kann sie Wunder besser beschreiben: Ode an Josefine!

Grenzerfahrung II

Teil 2 (Fortsetzung von Teil 1)

Ich stehe da, mit dem Brief in der Hand, und möchte Grübeldinger sagen, wie überrascht ich bin, dass unsere Großväter sich kannten. Doch Grübeldinger redet unbeirrt weiter: Österreich, das ist ein Land aus lauter Stumpfsinnigen, die sich seit fast hundert Jahren mit einem Minderwertigkeitskomplex herumschlagen, weil sie seitdem die Slawen nicht mehr unterdrücken und die Deutschen nicht mehr beherrschen können. Die nicht begreifen, dass die Welt nicht im Gegeneinander, sondern im Miteinander existiert. Eine Zeitlang dachten die Österreicher, die besseren Deutschen zu sein. Seit geraumer Zeit reden sie sich nun ein, gar keine Deutschen mehr zu sein, obwohl die meisten von ihnen deutsch sprechen. Es ist nicht gesund, dauernd vor sich selbst wegzurennen.

Österreich sollte, wenn es schon nicht ein Teil Europas sein will, ein Teil von etwas Größerem sein, ehe es sich selbst ins Verderben reitet. So stumpfsinnig die Österreicher seit fast hundert Jahren sind, so haben sie bisher fast immer davor zurückgeschreckt, einen Stumpfsinnigen zu ihrem Präsidenten zu wählen. Dieser Stumpfsinnige, den sie jetzt beinahe zu ihrem Präsident gewählt haben, versteckt sich hinter einem netten Gesicht. Ich nenne ihn den netten Norbert. Doch ich sehe im Gesicht des netten Norbert eine Fratze der unterdrückten Gefühle, wie überhaupt sie typisch ist in diesem Land, das sich Österreich nennt, diese Fratze der unterdrückten Gefühle, in diesem Land der Fritzls und Priklopils. Vielleicht haben Fritzl und Priklopil dem österreichischen Bedürfnis nach Unterdrückung nachgegeben, indem sie Menschen einsperrten, denn in Österreich sucht man nach Tätern und Opfern, und was früher die Slawen und Juden waren, das sind heute eben kleine Mädchen. Der Österreicher ist seit dem Zweiten Weltkrieg ein Opfer, denn nur als Opfer, so sagten sie ihm, kann Österreich überleben. Ist Österreich ein Volk mit unterdrücktem Täterdrang, weil es offiziell immer Opfer sein muss? Der nette Norbert ist nur jetzt so nett, weil er seine Gefühle unter der Fratze versteckt, sie unterdrückt; doch wenn er an der Macht ist oder glaubt an der Macht zu sein, lässt er seine Maske fallen und lässt seinem Täterdrang freien Lauf und will alle unterdrücken, die ihm in die Quere kommen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wer das aller sein kann. Man muss die Österreicher erlösen, bevor sie wirklich einen Stumpfsinnigen wie den netten Norbert zur ihrem Präsidenten wählen. Denn man sollte sich nicht darauf verlassen, dass sie eines Tages nicht wirklich einen Stumpfsinnigen wie den netten Norbert zu ihrem Präsidenten wählen.

Das Größere, von dem Österreich Teil sein kann, kann nicht Europa sein, denn das ist den Stumpfsinnigen zu groß. Vielleicht schwebt den Stumpfsinnigen um den netten Norbert vor, Österreich zu einem Teil von Deutschland zu machen, denn dann könnten die stumpfsinnigen Österreicher wieder mit voller Berechtigung ihrem Minderwertigkeitskomplex frönen, an den sie sich seit nunmehr fast hundert Jahren gewöhnt haben. Sie wären Teil von etwas Größerem, ohne die Slawen zu unterdrücken. Sie könnten sich als bessere Deutsche fühlen, denn Deutschland mit seiner föderalistischen Struktur könnte Österreich zu einem Freistaat erklären. Dieser Titel macht bereits Bayern und Sachsen stolz, obwohl er nichts bedeutet. Dieser Titel würde auch den netten Norbert stolz machen und ihn in seinem Täterdrang einbremsen.

Ich versuchte Grübeldinger zu unterbrechen. Ich wollte ihn fragen, woher dieser Brief kommt, dieser Brief meines Großvaters an seinen Großvater, und als ob er ahnte, dass ich ihn das fragen wollte, drehte er sich zu mir und redete weiter: Ist Wien nicht genauso eine Stadt ohne Land, eine Stadt, die einmal das Zentrum Europas war und jetzt von einem Landstrich umgeben ist, der von lauter Stumpfsinnigen bewohnt wird? Doch was gehen mich die Wiener an. Denn ich sitze in Salzburg, und Salzburg, diese Stadt, zerrieben und missbraucht, ist die Stadt, der ich ausgeliefert bin, ob ich es will oder nicht.

Der Landstrich, den sie heute Rupertiwinkel nennen, war früher ein Teil Salzburgs. Dort bauten sie Getreide an, dort kam das Brot Salzburgs her. Dieser Landstrich gehört seit zweihundert Jahren zu Bayern, während das restliche Salzburg, dieses verkrüppelte Land mit seinen stumpfsinnigen Gebirgstälern, zu Österreich gehört. Was ist das für ein Land, das das Getreide für sein Brot nicht mehr selbst anbauen kann? Salzburg wäre schon gestorben als Stadt ohne Land, hätten Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt nicht damals eine zentral gelegene Einöde gesucht, in die sie ihre Festspiele pflanzen können. Zentral gelegene Einöde, vielleicht ist das die richtige Definition für Salzburg. In jedem Fall scheinen Hofmannsthal und Reinhardt in Salzburg das gefunden zu haben, was sie gesucht hatten. Diese Festspiele, sagen alle, seien ein Riesenglück für Salzburg, doch ich behaupte, sie sind ein Riesenunglück. Denn seitdem glaubt Salzburg, als Stadt ohne Land leben zu können, zerrieben und missbraucht, zuerst von den Nationalsozialisten, dann von den genusssüchtigen Bonzen aus Wien. Wie kann sich eine Stadt so verlieren in ihrem Größenwahn, ohne einen Grund dafür zu haben? Doch vielleicht ist das ohnehin die Krankheit der Welt, zumindest der westlichen, sich in ihrem Größenwahn zu verlieren. Grenzen und Länder wurden und werden verschoben, als ob keine Menschen darin lebten, Menschen, die mit diesen Verschiebungen zerrieben und missbraucht werden. Der Stadt Salzburg wird ihre Schönheit eingeredet, so aufdringlich, dass sie ganz betäubt ist davon. Wo soll da wahre Schönheit entstehen, wahre Schönheit, die doch immer ein zarter Spross der Schöpfung ist, wenn mit so brachialer Gewalt auf sie eingewirkt wird? Salzburg lebt von diesen Leuten, von den Festspielgästen und Touristen, die angezogen werden von diesen brachialen Reden, und es wird an ihnen sterben. Es verkommt mehr und mehr zu einer hohlen Fassade, und ich, der in dieser Fassade lebt, beobachte dieses Sterben, bis ich mit ihr zugrunde gehe. Die Welt, zumindest unsere westliche, ist maßlos, weil sie sich fürchtet vor dem was ist nach der Maßlosigkeit. Deshalb sucht sie ihr Heil in immer noch größerer Maßlosigkeit. Umso eher wird sie daran sterben.

Grübeldinger hörte zu reden auf. Er blickte eine Weile vor sich hin, so als wolle er Gedanken sammeln, um seine Rede fortzusetzen, doch dann senkte er seinen Blick und starrte auf den Tisch vor ihm. Langsam und wortlos ging ich aus seiner Wohnung, die knarzenden Holztreppen hinunter. Ich hielt den Brief meines Großvaters in der Hand. Ich wollte den Brief loswerden, weil er mich beklemmte. Doch ich hielt ihn fest in der Hand, als ich durch die Gassen der Salzburger Altstadt ging. Dann blieb ich stehen, unter all den Leuten, und blickte nach oben, auf den Himmel. Auf den grenzenlosen Himmel.

Grenzerfahrung I

Teil 1

Natürlich habe ich Grübeldinger wieder besucht, als ich in Salzburg war. So wie ich es immer mache, wenn ich in Salzburg bin: Ich besuche Grübeldinger, um mich nachher zu fragen, wieso ich ihn besucht habe. Grübeldinger hatte mich diesmal gebeten, ihn zu besuchen, was ungewöhnlich ist für Grübeldinger, denn normalerweise gibt er vor, keinen Besuch empfangen zu wollen, um mich dann jedesmal bereitwillig zu empfangen.

Grübeldingers Wohnung liegt wie ein Anachronismus mitten in der Salzburger Altstadt. Das enge Leben, sagte Grübeldinger mir einmal, habe er zu ertragen. Er sei kein Feigling wie die anderen, die an den Stadtrand fliehen, wo sie hässliche Häuserreihen in die Natur pflügen, wo die Zivilisation wie ein Krebsgeschwür die Landschaft verunstalte. Er stelle sich dem städtischen Leben in diesen engen Gassen, in denen zwar mehr und mehr verlotterte Touristen ahnungslos herumlaufen würden, aber trotzdem gebe es keine Alternative für ihn, als in dieser Stadt zu leben. Ich bin gezwungen, in dieser Stadt zu leben, sagt Grübeldinger immer wieder, und vielleicht ist es dieser Zwang Grübeldingers, der mich immer wieder veranlasst, ihn zu besuchen.

Ich gehe die knarzende Holztreppe nach oben in dem alten Haus, in dem Grübeldinger wohnt. Grübeldinger wohnt unter dem Dach, wo früher das Gesinde wohnte, das betont er immer wieder. Wo sie früher das Gesinde hinsteckten, da stecken sie jetzt mich hin, sagt Grübeldinger. Ich ging mit einem mulmigen Gefühl die knarzenden Holztreppen entlang, mit einem anderen Gefühl als sonst, denn diesmal hatte Grübeldinger mich gebeten, ihn zu besuchen, anders als sonst. Sonst zeigt er immer einen Widerwillen meinen Besuchen gegenüber, wenngleich ich auch vermute, dass es ein gespielter Widerwille ist. Mit diesem mulmigen Gefühl gehe ich die letzten Treppen nach oben. Die Tür von Grübeldingers Wohnung ist offen. Hat er mich kommen hören? Ich sehe in die Wohnung, die aus nur einem Zimmer mit einem nicht sehr großen Fenster besteht. Ganz hinten am Fenster sehe ich Grübeldinger sitzen, schreibend, angestrengt den Kopf über seinen Notizblock beugend. Vorsichtig trete ich ein.

Ich schreibe an einer wichtigen Arbeit, sagt Grübeldinger, ohne dabei sein Gesicht in meine Richtung zu drehen und mich zu begrüßen. Dann schaut er zum Fenster hinaus. Salzburg, Stadt ohne Land, zerrieben und missbraucht, sagt Grübeldinger. Darüber schreibe ich – ich, Grübeldinger, Mensch ohne Heimat, zerrieben und missbraucht. Ich darf mich jetzt nicht ablenken von dieser Arbeit, jetzt, wo ich sie so klar vor mir sehe, jetzt, wo die Zeit gekommen ist, mit der Wahrheit nicht länger zurückzuhalten. Er beugt sich über den Block und starrt auf das Geschriebene.

Wir schweigen einige Minuten, Grübeldinger im Sitzen, ich im Stehen. Ich sollte etwas sagen, aber ich weiß nicht was. Ich sollte gar nichts sagen. Plötzlich greift Grübeldinger nach einem Umschlag, der neben seinem Notizblock auf dem Tisch liegt und reicht ihn mir.
„Was ist das?“ frage ich.
„Mein Vater hat einen Brief gefunden, den dein Großvater an meinen Großvater geschrieben hat.“

                     Reichenhall, Herbst 1939
Lieber Hans,
vielleicht bin ich ein blinder Idealist. Diese Autobahn, die der Führer für uns bauen lässt, sie begeistert mich. Endlich wird unsere Gegend offen für die Welt. In ein paar Jahren werden wir uns alle ein Automobil anschaffen, und nichts kann uns mehr stoppen! Ich bin begeistert, dass es endlich keine Grenze mehr gibt. Wir Hinterstoisser leben seit jeher drüben und herüben, und ich habe mich immer geweigert, uns in Österreicher und Deutsche einzuteilen. Ich weiß noch, wie glücklich ich war letztes Jahr, beim Spatenstich für die Autobahn am Walserberg mit dabei zu sein. Der Führer hat ihn persönlich vorgenommen.
Doch was passiert jetzt? Es wird nur ein kleines Teilstück der Autobahn gebaut, um dem Führer eine winterfeste Zufahrt von München aus zu seiner Residenz am Obersalzberg zu ermöglichen. Das ist nicht schlimm, dachte ich erst, sicher wird bald der Anschluss für die Stadt Salzburg gebaut, den ich als viel sinnvoller erachte. Doch trotzdem beschleicht mich seitdem so ein komisches Gefühl, das ich nicht loswerde. Ist der Führer etwa bloß ein Egoist, dem es nur um seine Macht geht und der uns benutzt? Dem es völlig egal ist, ob die Hinterstoisser durch eine Grenze getrennt sind oder nicht? Ich weiß nicht, warum ich dieses Gefühl nicht loswerde. In meinen schlimmsten Träumen sehe ich den Führer als maßlosen Egoisten, der uns alle ins Verderben reitet.
Ich habe noch nie so viel gearbeitet wie jetzt für dieses Autobahnprojekt. Endlich ist was los! Trotzdem habe ich Angst, dass etwas Schlimmes passiert. Sag mir bitte, dass diese Angst unbegründet ist und meine Gedanken völliger Unsinn sind!
Heil Hitler!          Dein Hermann

Hat Grübeldinger mich wegen diesem Brief zu sich gebeten? Er sagte nichts dazu, richtete stattdessen den Blick zum Fenster hinaus und sagte: Diese Stadt, Salzburg, ist eine Stadt ohne Land, und es ist die Frage, ob eine Stadt ein Land braucht, ob nicht viel mehr ein Land eine Stadt braucht, weil ein Land ohne Stadt an seinem Stumpfsinn zugrunde geht. Aber was ist, wenn die Stadt da ist, aber kein Land mehr? Muss diese Stadt dann nicht wahnsinnig werden? Salzburg, eine Stadt und ein Land. Das sagen sie, dass die Salzburger ein Land haben, obwohl es sich dabei nur um ein paar enge Gebirgstäler handelt, in denen der Stumpfsinn große Blüten treibt. Dieser Stumpfsinn strahlt sogar schon in die Stadt herein, und vielleicht war Salzburg nie die Stadt, die es glaubte zu sein. Vielleicht war hier, in der Stadt, der Stumpfsinn auch schon immer zuhause.

Teil 2

 

München, Balanstraße

Im Stadtteil Haidhausen zweigt die Balanstraße unauffällig und klein von der Rosenheimer Straße ab, wie eine launische Diva, die sich weigert, eine vernünftige Richtung einzuschlagen.

Beginn Balanstraße an der Rosenheimer Straße

Beginn Balanstraße an der Rosenheimer Straße

Sie führt nicht nach Rosenheim, schon gar nicht nach Salzburg. Doch wo führt sie hin? Will sie mich auf geheimnisvolle Art verführen? Zunächst lässt sie Ramersdorf links liegen, Giesing rechts. Zwischendurch wird sie sehr breit, weist mehrere Fahrspuren pro Fahrtrichtung auf und ist umringt von großen Gebäuden.

An der Ecke Orleansstraße Richtung Süden

An der Ecke Orleansstraße Richtung Süden

Nach ihrem schmalspurigen Beginn gibt sie mir das Gefühl, etwas Bedeutsamem, Großem auf der Spur zu sein, was meine Neugierde weckt. Weiter draußen aus der Stadt, Ramersdorf und Giesing hat sie hinter sich gelassen, leisten zwei Autobahnen ihr Begleitschutz, eine östlich, eine westlich von ihr gelegen. Beide Autobahnen nehmen ebenfalls Kurs Richtung Süden, wie die Balan. Wird sie sich beeindrucken lassen von diesen mächtigen Gefährten, oder unbeeindruckt ihren Kurs Richtung Süden halten? Sie schmiegt sich näher an die Autobahn 8 links von ihr, so als wüsste sie, dass diese als die Hauptstrecke deklariert ist und die rechts gelegene Autobahn 995 nur als Zubringer. Doch die Balanstraße belässt es bei dieser zarten Annäherung, ohne sich je zu binden. Unbeeindruckt führt sie mich weiter nach Süden.

Trotzig überquert sie in ihrem Verlauf alle Straßen, die sie queren: Orleansstraße, St-Martin-Straße, Claudius-Keller-Straße, Chiemgaustraße, Ständlerstraße. Die Orleansstraße und die Claudius-Keller-Straße sind ob dieser Trotzigkeit so beleidigt, dass sie in ihrem weiteren Verlauf ihre Namen ändern zu Welfen- und Werinherstraße, als Zeichen der Verachtung dieses trotzigen Querulanten. Auch Eisenbahntrassen und der Justizvollzugsanstalt Stadelheim, immerhin einer der größten in ganz Deutschland, trotzt die Balanstraße mit geradliniger Eleganz Richtung Süden.

Weit im Süden, wo sie die Fasangartenstraße überquert, scheint sie jedoch nachdenklich zu werden und ihr eigenes Ende zu ahnen. Sie wird schmal, ein kleines Sträßlein, so wie an ihrem Anfang in Haidhausen. Kleine Häuser lässt sie links und rechts liegen, doch nicht mehr mit trotziger Eleganz, eher mit devoter Bescheidenheit.

Ein kleines Haus am Ende der Balanstraße

Ein kleines Haus am Ende der Balanstraße

Plötzlich endet sie und gibt den Blick frei auf eine weite grüne Wiese, Kapellenfeld genannt. Es geht nicht weiter. Es gibt nur den Blick über das Feld Richtung Süden.

Das Ende der Balanstraße

Das Ende der Balanstraße

Süden, das scheint das einzige zu sein, was die Balanstraße in ihrem ganzen Verlauf im Kopf hat, wie ein Versprechen leitet sie einen in diese Himmelsrichtung, und jetzt, am Kapellenfeld, bleibt nur die Sehnsucht danach.

Nach dem Kapellenfeld ist Unterhaching, nach Unterhaching vereinigen sich die beiden Autobahnen 8 und 995 beim Kreuz München-Süd. Die Balanstraße hat weise entschieden, am Kapellenfeld zu enden. Weshalb Unterhaching mühsam durchqueren, vielleicht unter Kompromissen diese geradlinige und konsequent südwärtsgewandte Richtung aufgeben, um dann von zwei Autobahnen verschluckt zu werden? Dann lieber hier enden, am Kapellenfeld, in stiller Erhabenheit, und mit dem weiten Blick Richtung Süden für das, was da noch kommen mag.

Balanstraße

Irritation in der Erzählwerkstatt

„Gestern werde ich nicht gewesen sein“, murmelte Vorderbrandner neben mir, aber trotzdem so laut, dass ich es hörte. Er bemerkte meinen irritierten Blick. Wollte er, dass ich ihn höre, um darüber zu reden? In jedem Fall schien er sich rechtfertigen zu wollen: „Wir sind hier in einer Erzählwerkstatt. Ich experimentiere mit den Erzählebenen.“

„Es ist in der Tat ein gewagtes Experiment. Wie kann man gestern nicht gewesen sein werden?“

„Indem ich heute schon weiß, dass ich morgen wissen werde, dass ich gestern nicht gewesen bin.“

„Und wie manifestiert sich dieses Wissen?“

„Wissen ist nur Glaube, und wieso soll ich nicht glauben, dass ich morgen glauben werde, dass ich gestern nicht gewesen bin?“

„Weil es mir schwerfällt zu glauben, dass ich gestern nicht gewesen sein werde, weil ich glaube, dass ich immer bin, seit ich denken kann.“

„Glaub daran, wenn es dir weiterhilft. Ich mag gerade daran glauben, dass ich gestern nicht gewesen sein werde. Denn wenn ich gestern nicht gewesen sein werde, tun sich unglaubliche Möglichkeiten für dieses Gestern auf: Ich kann es neu befüllen, mit neuen Gedanken und Interpretationen, obwohl ich es heute noch nicht weiß. Außerdem glaube ich, dass viele, die heute davon reden, was sie gestern gewesen sind, schon morgen behaupten werden, dass sie gestern nicht gewesen sind, was sie heute behauptet haben. Max Frisch sagte: Ich weiß nie, wie es war. Ich weiß es anders. Ist das nicht eine andere Art zu sagen: Gestern werde ich nicht gewesen sein?“

„Du verwirrst mich, Vorderbrandner, und ich könnte glatt zu zweifeln beginnen, ob ich überhaupt bin.“

„Sein ist ohnehin langweilig, zumindest als Erzähler. Da passiert so wenig und so viel, dass ich es nicht erzählen kann, weil es einfach ist. Ich umschiffe die Gegenwart wie ein gefährliches Minenfeld, um mich in den ungewissen Meeren der Vergangenheit und Zukunft zu tummeln.“

„Und du glaubst nicht, dass du dabei dein eigenes Leben umschiffst?“

Alter Mann am kleinen Fluss

Irgendwo zwischen München und Passau

Der kleine Fluss mäandert durch die feuchten Wiesen. Der kleine Fluss beherrscht diese Landschaft, sagt der alte Mann, der längst gestorben ist. Gleichmäßiger Wasserstand sei wichtig, sagt der alte Mann, für seine Mühle am Fluss, damit sie mahlt. Die feuchten Wiesen speichern das Wasser und geben es gleichmäßig ab an den Fluss, damit seine Mühle mahlt. Grobkörniges Mehl mahle sie, sagt der alte Mann, seine Mühle, nicht so feines wie aus dem Supermarkt. Er ist zufrieden damit, denn er glaubt, dass es gesünder sei als das feine aus dem Supermarkt.

Der Sohn des alten Mannes hat die feuchten Wiesen drainagiert und trockengelegt, um dort Getreide anzubauen. Der kleine Fluss ist dann oft ausgetrocknet in regenarmen Zeiten, weil die feuchten Wiesen kein Wasser mehr speicherten, dass sie abgeben konnten. Das Wasser war durch die Drainagerohre längst unterwegs zum Schwarzen Meer. Die kleine Mühle stand still. Lastwägen kamen, um das Getreide in eine große Mühle zu transportieren; in eine große Mühle, wo das feine Mehl für den Supermarkt gemahlen wird.

Die Autobahn führt jetzt durch das Tal des kleinen Flusses. Um das Getreide schneller zur großen Mühle zu bringen. Das Wasser fließt im Drainagerohr, der Verkehr auf der Autobahn. Es fließt geradlinig und schnell, nicht mäandernd und trödelnd. Vielleicht ist das der unabwendbare Fortschritt der Menschheit. Immer schneller, größer, weiter – alternativlos. Alternativlos? Wieviel Geschwindigkeit verträgt der Mensch?

Ich gehe am Ufer des kleinen Flusses entlang, unter den Betonpfeilern der Autobahn. Ich suche die Mühle. Stattdessen treffe ich den alten Mann, der doch längst gestorben ist. Er sagt: Der Fluss beherrschte diese Landschaft. Alles drehte sich um ihn. 43 Mühlen gab es hier. Eine Gerberei. Wir haben ihn benutzt, wir haben ihn verschmutzt. Wir haben ihn auch geachtet und beobachtet. Wir haben mit ihm gelebt. Es gab nur ihn. Er lehnt sich an den Betonpfeiler der Autobahn und erzählt weiter: Wir lebten mit der Feuchtigkeit. Mit diesen Betonpfeilern ziehen sie das letzte Wasser aus dem Boden. Wer braucht denn hier noch Wasser? Der Fluss ist eine große Rinne, die das Wasser bei starkem Regen möglichst schnell abtransportieren soll. Wer braucht denn hier noch Wasser? Die Autobahn beherrscht jetzt unsere Landschaft. Sie transportiert den Verkehr schnell von Stadt zu Stadt. Er sieht mich an und sagt: Fahr jetzt zurück in die Stadt. Da gehörst du hin.

Er hat recht. Ich gehöre in die Stadt. Da sind die Menschen, die ich liebe. Da ist meine Arbeit. Da ist mein Leben. Für meine Rückfahrt nehme ich nicht die Autobahn, sondern mäandere mich die Landstraße entlang, um langsam aus dieser Entschleunigung wieder in mein gewohntes Leben zu gleiten. Ich höre ein Lied von Blumfeld und bekomme eine Zeile davon nicht aus dem Ohr: Ich kann im Fortschritt keinen Fortschritt sehen.

Die Isen

Nur Liebe

Sie lagen nebeneinander und spürten sich. „Liebst du mich?“ fragte sie ihn. „Ja, ich liebe dich!“ sagte er.

Was ist an diesem Dialog auszusetzen? Nichts. Er ist wunderschön. Der Haken ist: Sie dachte sich das Wort nur in diesen Dialog hinein. „Liebst du nur mich?“ – „Ja, ich liebe nur dich!“

Während er seine Antwort so dachte: „Ja, ich liebe dich! Weil ich mein Leben liebe, und du gibst meinem Leben Lebendigkeit.“

Durch ihr Nur war der Eifersucht Tür und Tor geöffnet. Ihre Beziehung entwickelte sich wie das Leben eines Vogels im Käfig, der seiner Kernfähigkeit, dem Fliegen, beraubt ist. Was ist eine Beziehung wert, die ihrer Kernfähigkeit, dem Lieben, beraubt ist?

Tyrann Otto

Nie mehr Herrschaft eines Tyrannen! Wir huldigen den Errungenschaften der Demokratie, die wir uns durch das Grundgesetz gegeben haben. (Manche bösen Geister behaupten, das Grundgesetz wurde uns von den Alliierten aufgezwungen.) Wieso betont man so oft, wie wertvoll eine Demokratie ist? Gibt es etwa viele, die das nicht so sehen?

Ich war am Wochenmarkt vor der Kirche, am Gemüsestand. Eine Frau, ich schätze ihr Alter auf vierzig bis fünfundvierzig Jahre, war vor mir an der Reihe. Sie kaufte soviel Gemüse, dass ich aus dem Staunen nicht herauskam. Sie kaufte Gemüse, das ich vorher noch nie wahrgenommen hatte, und deshalb fällt es mir jetzt schwer, es zu beschreiben. Plötzlich rief sie „Otto in meine Richtung. Da mir klar war, dass sie damit nicht mich meinen konnte, drehte ich mich um. Ich sah einen etwas dicklichen, kleinen Jungen, der vor nicht allzu langer Zeit wohl noch gekrabbelt ist anstatt auf zwei Beinen zu stehen. Otto hatte es zur Wurstbude verschlagen. Auf den zweiten Ruf seiner Mutter kam er angelaufen und machte sich am Gemüsestand zu schaffen. Er wackelte dermaßen an den Regalen, dass der Gemüsekäufer sich sorgte, sie würden zusammenbrechen. Otto schaffte das Künststück, Gemüse zu finden und aus den Regalen zu nehmen, das seine Mutter noch nicht in ihren randvollen Körben hatte.

Der Gemüseverkäufer wollte die Situation beruhigen und reichte Klein-Otto eine Karotte. Die Mutter bestätigte, dass Otto bereits Karotten esse (Subtext: Otto ist ein gutes Kind, das viel gesundes Gemüse ist, also auch Karotten!), jedoch bemerkte ich eine Unsicherheit in ihrer Stimme. So als traue sie ihrer eigenen Aussage nicht über den Weg. Otto bedachte daraufhin die Karotte mit einem verächtlichen Blick.

In diese Spannung, die in der Luft lag, kam plötzlich Otto-Vater angerauscht und orderte weiteres Gemüse. Er erweiterte den Korb um Grünes wie Petersilie und Schnittlauch, gab dem Ganzen also durch die Kräutergarnitur seinen patriarchalischen Segen. Der Gemüseverkäufer erfasste die Situation mit bestechendem Scharfsinn, denn er fragte nun die einzige sich daraus schließende logische Frage: „Bezahlt der Vater oder die Mutter?“ Es geht nicht um Mann und Frau, nein, es geht um Vater und Mutter, denn die Welt ist völlig auf Otto ausgerichtet; auf Otto, den Tyrann von Elterns Gnaden.

Während die Mutter, ohne auf die Frage des Verkäufers zu antworten, das Gemüse bezahlt, jagt Otto-Vater Otto hinterher, der sich wieder zur Wurstbude aufgemacht hat. Der Verkäufer nennt die Summe, die Otto-Mutter zu bezahlen hat. Die Höhe der Summe bringt mich wieder ins Staunen, sodass mir fast meine Tomaten, die ich schon lange in der Hand halte, auf den Boden fallen. Wieso soviel Gemüse, wo Otto doch keine Karotten mag? Was treibt Eltern an, einen Tyrannen zu züchten? Und wieso diese tyrannische Zucht unter einem Berg von Gemüse verstecken, anstatt sie an der Wurstbude aufrichtig zur Schau zu stellen? Mich schaudert vor dem Gedanken, dass nur Verlogenheit die Demokratie erhält, weil es viele sich bloß nicht trauen, zur Tyrannei zu stehen. Wird Otto seine Herrschaft auf seine Eltern beschränken, oder wird er eines Tages die Welt beherrschen wollen? Hat der Mensch mehr Hunger nach Macht als nach Gemüse, weil er es nicht anders kennt?

Welt Wer Worte