ein Kurzfilm von Georg Stürzer
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Beute und Beate 1: Schreie und Stille
Ute saß im Gras. Ich ging zu ihr. Ich dachte: Heute ist der Tag, an dem wir uns näherkommen werden. Sie saß so hingemalt im Gras, dass ich dachte: Heilige Ute, sei meine Stute!
Als ich näherkam, bemerkte ich: Ute weinte. Ich blieb stehen. Ute sah zu mir hoch und lächelte kurz. Ich setzte mich neben sie ins Gras.
Es ist wegen meiner Schwester, sagte Ute. Wegen meiner älteren Schwester Beate. Ich komme gerade von ihr.
Was ist mit ihr?
Sie ist schwerbehindert.
Oh.
Ich war plötzlich unsicher, ob ich bei Ute im Gras bleiben will, doch unvermittelt, ohne mich zu fragen, ohne ersichtlichen Grund, fing sie zu erzählen an:
Unsere Mutter sagte oft zu Beate: Dir wird mal was Schreckliches passieren, du ungezogenes Mädchen! und Beate schimpfte daraufhin mit ihr: Mama, dir wird mal was Schreckliches passieren! Weil du es so willst! Hör auf mit diesem Gejammere! Mit deiner scheiß Angst vor allem und jedem!
Meine Mutter gelobte Besserung, trotzdem zog Beate bald aus. Sie hatte genug von diesem Scheiß. Sie suchte sich eine eigene Wohnung. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Wahrscheinlich habe ich mich deshalb auf Hansi eingelassen. Hansi ist ein Lieber und Netter. Hansi glaubte zum Beispiel, dass meine Schwester wirklich Ate heißt, so wie ich sie rufe, und ich sagte: Nein Hansi, sie heißt nicht Ate, sondern Be-Ate, ein schöner Name, nicht so ein Wurmfortsatz wie Ute, woraufhin Hansi sagte: Wenn Ate Be-Ate heißt, dann heißt du für mich Be-Ute. Hansi glaubte, dass er mir damit seine Liebe beweist, mit diesem Wortspiel-Scheißdreck, und es war ja auch lieb gemeint, aber ich sagte nur: Das wäre schön Hansi, wenn ich deine Beute wäre!
Ich glaube nämlich, Hansi hat Angst vor Muschis, ja, ich bin mir sicher, er hat Angst vor Muschis: An einem Abend wollte ich es endlich wissen, ich war geil, legte mich nackt vor ihm aufs Bett, spreizte meine Beine, fingerte an meiner feuchten und erregten Muschi herum. Er blickte erstaunt und erschrocken, mehr erschrocken als erstaunt, und sagte: Entschuldige, aber ich kann gerade nicht.
Dann such dir eine andere, du Schlappschwanz! brüllte ich und komplementierte ihn zur Tür hinaus. Ohne Widerstand ging er. Ich lag daraufhin auf meinem Bett, als ich meinen Vater nachhause kommen hörte.
Er kam zur Tür herein, schrie meine Mutter an, ich hörte, wie er sie schlug, er schlug sie oft, dann schrie meine Mutter, sie schrie entsetzlich, es erschreckte mich, denn meine Mutter schrie nie, wenn mein Vater sie schlug, obwohl er sie so oft schlug, aber jetzt schrie sie. Und dann, plötzlich, war es still, mucksmäuschenstill. Eine unheimliche Stille, eine unerträgliche Stille, die nie zu enden schien. Ich kroch vorsichtig aus dem Bett, öffnete lautlos die Tür. Da sah ich meinen Vater vor meiner reglosen Mutter.
Ich habe sie erwürgt, sagte er. Ich hatte ihn noch nie so still gesehen.
Rohmer geht immer
Wir hatten unsere Krise kurz vor der großen Krise, und ich sagte zu Josefine: Ich will, dass wir uns nicht mehr sehen! Dann kam die große Krise, und mit ihr der erste Tag der Ausgangsbeschränkungen. Es war der 21. März, ein regnerischer Tag, der erste Tag im Widder, der Tag, an dem Eric Rohmer hundert Jahre alt geworden wäre. Ich ging aus dem triftigen Grund, etwas Luft zu schnappen, durch die verlassenen Straßen Schwabings. Die Stille tat mir gut, auch wenn sie gespenstisch wirkte, weil sie so ungewohnt war. Ein Wagen fuhr durch die Straßen, durch die Lautsprecher kam die Durchsage: Bleiben Sie zuhause! Ich fühlte mich wie der gesuchte Hans Beckert in Fritz Langs M – eine Stadt sucht einen Mörder. Ich hatte ein beklemmendes Gefühl – Josefine nun lange, sehr lange nicht mehr zu sehen, so wie ich es wollte, aber nun wollte ich es nicht mehr. Mein Kopf war voll und leer, voller Gedanken und gedankenleer zugleich. Hat mich die Liebe verlassen? Habe ich mich selbst verlassen? Josefine hatte noch geschrieben: Jetzt weißt du endlich, was du willst, auch wenn ich es nicht will. Da wusste sie mehr als ich, denn ich wusste wieder mal nicht, was ich will. Ich will Liebe, ja, aber weiß ich deswegen, was ich will? Liebe habe ich nicht mehr gespürt. Nur ein Festhalten in Unliebe. Und jetzt, auf den verlassenen, regennassen Straßen Schwabings spürte ich sie wieder, die Liebe, ganz nah bei mir. Ich spürte die Liebe der wenigen verängstigten Leute, die mir auf den Straßen entgegenkamen und die Seite wechselten wegen mir. Ich spürte die Liebe hinter den Wänden der Häuser. Ich spürte die Liebe von Josefine. Ich spürte die Liebe überall. Ich war all-ein.
Ich ging nachhause, setzte mich vor mein kleines Heimkino und legte Meine Nacht bei Maud aus den sechs moralischen Erzählungen ein: Ein Reden und Diskutieren, so wie es für kopflastige, wissenschaftsgläubige, westliche Menschen Praxis ist. Eine bürgerliche Flucht vor dem Leben, die nichts mehr fürchtet als den Tod. Aber dazwischen – danke Eric Rohmer, ich liebe Sie! – schimmert die Liebe durch, in ihrem schönsten Glanz. Rohmer geht immer. Weil er die Liebe spürt und zeigt.
Nach dem Abspann schalte ich das Heimkino aus. Stille im Raum. Wo ist die Liebe? Wo ist Josefine? Du bist die Garantie der Schönheit dieser Welt und umgekehrt. Wenn ich dich umarme, umarme ich die ganze Welt.
Konzentration auf das Wesen
Ich durchstreifte, wie so oft, die Stadt, was – das behaupte ich – zu meinem Wesen gehört. Nichts lässt sich jedoch festhalten von meinen Streifzügen. Denn was gestern war, ist heute schon ganz anders. Ich schaute also, was heute anders war als gestern, in einer Art Momentaufnahme, nicht wissend, nur ahnend, was morgen anders sein könnte als heute. Ich bewegte mich im Kreis der Zukunft langsam fort, um irgendwann auf die Vergangenheit zu treffen. Bei diesen Bewegungen kam ich an einem Schild vorbei:
Ich war mit dem Fahrrad unterwegs. Eine Durchfahrt war nicht möglich, ohne einen Straftatbestand herbeizuführen. Ich trug keinen Rock und bin auch kein Kind, dennoch hätte ich wohl zu Fuß weitergehen können. Darauf hatte ich jedoch keine Lust. Also beschloss ich, zum Anwesen zuzufahren, was zwei Vorteile bot: Ich verhielt mich korrekt im Sinne des Schildes und ich hatte Gelegenheit, das Anwesen zu betrachten.
Am Anwesen angekommen, sah ich alte hohe Bäume, die das Grundstück umrandeten und in der Mitte die Reste eines abgerissenen Hauses. Niemand befand sich auf dem Grundstück. Ist ein Anwesen, an dem niemand anwesend ist, noch ein Anwesen? Oder ist es ein Abwesen? Es ist wohl ein Abwesen. Natürlich, es ist ein Abwesen. Herrlich, wie logisch Sprache sein kann!
Das Schild, aufgrund dessen ich mich für die Zufahrt zum Anwesen entschieden hatte, hat jedoch seinen Zweck verloren, denn es regelt die Zufahrt zu einem Anwesen, nicht aber zu einem Abwesen. Muss die Zufahrt zu einem Abwesen geregelt werden? Eine Regelung wäre sehr wahrscheinlich ratsam. Das bestehende Schild ist zu ersetzen und ein neues anzubringen mit der Aufschrift: Zufahrt zu Abwesen 1 gestattet, um die Entstehung eines rechtlichen Graubereiches zu vermeiden. Oder plant man, auf dem Grund des Abwesens ein neues Anwesen zu bauen? Man müsste dann das bestehende Schild nicht ersetzen, sondern lediglich mit einem neuen Schild ergänzen, das folgende Aufschrift tragen sollte, um der Historie und dem abwesenden Zwischenstatus des Anwesens gerecht zu werden: Hier stand einst ein Anwesen, dass durch Abriss zum Abwesen wurde. Nun entsteht ein neues Anwesen.
Andererseits: Das sind Gedankenspiele mit der Zukunft. An und Ab sind vergängliche Formen, die nur die Polarität des materiellen Daseins ausdrücken. Vielleicht sollte man sich die Arbeit mit den Schildern sparen und sich statt mit An- und Abwesen zu beschäftigen auf das Wesen konzentrieren, denn irgendwann trifft die Zukunft auf ihrer Kreisbahn durch die Zeit die Vergangenheit.
Markus und die Virologengang
eine aktuelle Einschätzung zur bayerischen Landespolitik von Valentin Vorderbrandner
Ich verstehe nicht, wieso Markus Söder als bayerischer Ministerpräsident nicht zurücktritt. Er könnte einem Virologen seinen Platz überlassen und müsste sich nicht ständig als Sprachrohr von diesem benutzen lassen. Oder streiten sich dann zuviele Virologen um das Amt des Ministerpräsidenten? Und Söder bleibt deshalb im Amt, um einen Virologen-Konflikt in schweren Zeiten wie diesen zu vermeiden? Man hat in diesen Tagen ja das Gefühl, dass es mehr Virologen als Corona-Viren gibt.
Es gibt aber auch einen zweiten Vorteil, den sein Rücktritt böte: Er müsste sich nicht ständig der Ratschläge seines Stellvertreters Hubert Aiwanger erwehren, der Söder kürzlich via Bayerischem Rundfunk vertrauensvoll Folgendes mitteilte:
Lieber Markus! Wenn wir so weitermachen, dann haben wir zwar keine Corona-Toten mehr, aber die Leute verhungern uns! Ja, oder, und da greif ich jetzt vielleicht der Kollegin Huml (bayerische Gesundheitsministerin, Anm.) vor, die Leute erschlagen sich gegenseitig oder sie bringen sich selber um.
Söder hat jedenfalls, als eine Reaktion darauf, eine unabhängige Expertengruppe CSU-naher Virologen und Verfassungsexperten einberufen, die unter Wahrung aller demokratischer Mittel seinen möglichen Rücktritt prüfen sollen. Und ich verspreche Ihnen, sagte Söder abschließend: Ich lasse nichts unversucht, um mich im Amt zu halten!
Carl-Philipps tragischer Tod
Carl-Philipp, den alle nur Gottlieb nannten, war ein sehr ängstlicher Mensch, mit preußischen Vorfahren, das sollte in diesem Zusammenhang vielleicht erwähnt werden, mit entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen zu den von Clausewitz. Carl-Philipp also bewegte sich in Zeiten der COVID-19-Pandemie laufend im Parke fort, um sich körperlich zu ertüchtigen. Er lief nicht, er rannte, im sportlichen Gewande, um keine Zweifel an der Redlichkeit seines Tuns aufkommen zu lassen. Er kam dabei so ins Schwitzen, dass er, als er an einem Bach vorbeikam, auf die Idee kam, sich in dessen Wasser zu erfrischen.
Als er sich gerade seines Gewandes entledigte, bemerkte er eine herannahende Polizeistreife, die das Treiben im Park kontrollierte. Erschrocken über sich selbst, über seinen statischen, niedergelassenen und ihm recht unrechtmäßig erscheinenden Zustand, sprang er geistesgegenwärtig ins eiskalte Wasser des Baches, tauchte unter und hoffte, dass bis zu seinem Auftauchen die Polizei wieder verschwände. Die Polizei verschwand jedoch nicht, sondern das Herz von Carl-Philipp hörte im eiskalten Wasser auf zu schlagen. Er trieb leblos im Wasser, die Polizei barg ihn, alle Wiederbelebungsversuche waren erfolglos. Der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen und entschied aufgrund der Umstände, den Toten in die Liste der COVID-19-Toten aufzunehmen.
Den Angehörigen Carl-Philipps wurde zu ihrem Trost mitgeteilt, dass er sich trotz seines tragischen Todes nichts habe zuschulden kommen lassen.
Zurück ins Leben
Vor ein paar Wochen war mir noch nicht klar, dass dünnes, saugfähiges, leicht auflösbares Papier, das der westliche Mensch nach dem Stuhlgang zur Gesäßreinigung verwendet, absolut überlebensnotwendig ist. Als es mir ausging, war schon Krise, und es gab keines mehr. Also nahm ich Küchentücher. Als mir auch die ausgingen, reinigte ich mein Gesäß mit Wasser, die Endreinigung nahm ich mit Baumwolltüchern vor, die ich dann zur Kochwäsche gab. Ich überlebte.
Gestern ging ich in den Drogeriemarkt. Es roch stark nach Desinfektionsmittel. Aber es gab Klopapier. Einfach so. Das Regal war gut gefüllt. Ich konnte mir eine Packung nehmen, ohne Bedenken. Vor einer Woche wollte ich die einsame Packung, die noch im Regal war, nicht kaufen – vielleicht braucht sie jemand anderer dringender. Die Not(durft) muss groß sein, so leer wie die Regale sind, dachte ich mir. Und jetzt – Klopapier für alle! Was für ein glücklicher Moment! Was für ein großer Schritt zurück in die Normalität! Was für ein großer Schritt zurück ins Leben!
Danke Herr Söder! Das ist sicher eine der Packungen, zwischen denen Sie medienwirksam gestanden haben, um die Produktion dieser überlebenswichtigen Papiere voranzutreiben!
Infidelia ziert sich
Zunächst sei Folgendes erwähnt: Ein Virus kam um die Ecke und wollte Infi zieren, doch Infi zierte sich, sich mit dem Virus zu zieren. Das kann man als Wortspiel ohne Sinn abtun, da Infi gar nicht Infi, sondern Infidelia heißt, womit das Wortspiel mit infizieren gar nicht mehr möglich ist, worauf sich Infi meldete und meinte, ein Virus könne sie ruhig zieren, weil sie sich ohnehin krank fühlt, seit ihrer Geburt sei sie ein krankes, moralisch verwerfliches Wesen. Ihre Mutter, sagt Infi, bezeichnet sich selbst als eine Hure, ihre Mutter sagt, Hure bedeute lieb und begehrlich, was für sie als Frau ein großes Kompliment sei, deshalb habe sie beschlossen, sich selbst als Hure, Infis Bruder als Hurensohn und Infi als Hurentochter zu bezeichnen. Ich, sagt Infi jedenfalls, bin aus einer Affäre meiner Mutter mit einem Engländer entstanden, der kurz nach meiner Zeugung zu meiner Mutter sagte: Your infidelity makes me sick, I don’t want to see you anymore! Meine Mutter sagt, das gefiel ihr, dass ihn ihre Untreue, ihre Infidelity, krank machte, denn Krankheit sei das Ehrlichste was es gibt, zu ehrlich, um geliebt zu werden, aber gerade deswegen liebe sie sie. Einmal hatte meine Mutter heftige Zahnschmerzen, erinnert sich Infi, und sie sagte: Danke Welt, dass du mich erinnerst, dass ich ein kleiner Mensch bin, der nicht so verbissen sein sollte!
Meine Mutter wollte mich Huora nennen, sagt Infi, nannte mich dann aber Infidelia, aufgrund der Aussage des Engländers, meines Vaters. Lange wollte ich Fidelia heißen, denn durch die Hurerei meiner Mutter erschien mir Treue als etwas sehr Erstrebenswertes. Außerdem bedeutet fidel in der deutschen Sprache nicht vorrangig treu, sondern vor allem lustig und vergnügt. Eine meiner liebsten Weisen lautet: Ich bin fidel, ich bin fidel, bis dass der Teufel holt meine arme Seel.
Als ich das meiner Mutter vorspielte, war sie kurz am Hadern, ob sie mich nicht doch Fidelia hätte nennen sollen. Oder Fidelia Huora, meinte sie in ihrer Euphorie: Was für ein wundervoller Doppelname!
Mittlerweile bin ich jedoch sehr zufrieden mit meinem Namen, weiß ich doch, dass die Untreue die Treue, der Kummer die Vergnügtheit, die Krankheit die Gesundheit einschließt und umgekehrt, weiß ich doch, dass das Leben alles einschließt, weshalb ich es leben will bis zum Tod.
In Zeiten des Krieges
Ich hatte mich noch einmal in die Stadt gewagt. An den leeren Regalen in den Läden erkannte ich: Jetzt ist der Krieg da! Ich habe es immer gewusst: Er war nie wirklich weg, war immer da, hat sich als Trauma tief vergraben in den Tiefen des körperlichen Gedächtnisses, als Trauma, das nie mehr hochgeholt wird, sondern auf dieser tiefen Ebene weitergegeben wird, klammheimlich, und doch mit einer Eindrücklichkeit, die berührt und aufrührt.
Da war er also, der Krieg, in den leeren Regalen, verleihte sich Ausdruck, endlich war ein Grund da, um ihn ausbrechen zu lassen, ich wusste, ich muss raus aus der Stadt, mich zurückziehen auf meinen einsamen Hof, wo ich alles habe, ein paar Tiere, ein paar Hektar Wiese, Obst- und Gemüsegarten, einen kleinen Wald. Sogar eine kleine Mühle am Bach. Nur Getreide habe ich nicht. Das hat mein Nachbar, der hat Felder weiter unten in der Ebene. Ich bekomme Getreide von ihm, dafür bekommt er Holz aus meinem Wald. Was tun, wenn er mir kein Getreide mehr gibt? Vielleicht ist jetzt, in Zeiten des Krieges, die Zeit gekommen, um eigenes Getreide anzubauen. Aber dazu brauche ich das Land des Nachbarn.
Ich kam zuhause am Hof an, der Hund bellte, etwas trieb mich, in Zeiten der Not, in Zeiten des Krieges, da ist es doch gerechtfertigt, an sich zu denken. Jeder ist sich selbst am nächsten. Ich holte mein Gewehr aus dem Schrank und tötete meinen Nachbar mit einem trockenen Schuss.
Jung und Frivol (ein Plädoyer für den Frühling)
Ich hatte den Anfang verpasst, ich war bereits unterwegs: mit Weidmann. Wir fuhren mit einem Bus, ich glaube, es war Weidmanns Bus, seltsam war nur, dass ich am Steuer saß und Weidmann Beifahrer war. Sonst war niemand im Bus, glaubte ich zumindest, aber Weidmann drehte sich immer wieder um, so als wäre jemand im Bus, so dass ich plötzlich das Gefühl hatte, Wendla, Moritz und Melchior wären im Bus, es fühlte sich an wie Frühlingserwachen, obwohl es dunkel war und ich keine Blumen auf der Wiese sehen konnte, nein, ich sah nur den Asphalt im Scheinwerferkegel vor mir.
Weidmann sprach davon, dass wir auf keinen Fall anhalten dürfen, auf keinen Fall, er sagte aber nicht warum, vielleicht fuhren wir von Italien nach Deutschland, durch Österreich, wo wir ja nicht anhalten dürfen, das wusste ich, aber ich dachte nicht an Tankinhalt und Harndrang, die uns zum Anhalten zwingen könnten, diese Gedanken kamen mir überhaupt nicht in den Sinn, ich konzentrierte mich auf den Scheinwerferkegel vor mir, auch Weidmann drehte sich nicht mehr um, zu Wendla, Moritz und Melchior, sondern konzentrierte sich auch auf den Scheinwerferkegel vor uns.
Vermutlich wären wir ohne Anhalten durch Österreich gekommen, als sich die Fahrbahn plötzlich teilte, nach links in ein bläulich kaltes dunkles Licht und nach rechts in ein gelblich warmes helles Licht, und mir war klar, dass für ein Weiterfahren ein Eintauchen in das bläulich kalte dunkle Licht erforderlich gewesen wäre, aber ich hatte Angst, in das bläulich kalte dunkle Licht einzutauchen, wie unter Zwang steuerte ich nach rechts, ins gelblich warme helle Licht, wo uns eine Polizeikontrolle erwartete, das war keine Überraschung, das war völlig klar, ich war willentlich in diese Kontrolle gefahren, obwohl wir doch gar nicht anhalten dürfen, ich sah Weidmann an, und er sah mich an. Ich drehte mich um, aber im Bus saßen nicht Wendla, Moritz und Melchior. Der ganze Bus war eine ebene Fläche, auf der sich niemand befand, nur ein kleines gelbes Büchlein, das sogleich von den Polizisten beschlagnahmt wurde. Solch verwerfliche Ware müssen wir konfiszieren! lautete die Ansage. Ich verstand nicht, von was die Rede war, bis mir einer der Polizisten das Büchlein unter die Nase hielt. Ich las:
Emil Hinterstoisser
Jung und Frivol
ein Plädoyer für den Frühling
Sie zerrten mich aus dem Bus, packten mich:
Sie sind verhaftet!
Aber ich bin doch nur ein Mensch, der das Leben liebt. Lesen Sie das Buch, und Sie werden es verstehen!
Ich wehrte mich, doch sie ließen nicht los, und ich war froh, dass Wendla, Moritz und Melchior nicht im Bus waren, ich bildete mir ein, sie im Mondlicht über die Hügel laufen zu sehen. Frühlingserwachen, ist das schön, dachte ich, und mir kamen vor Rührung die Tränen. Weidmann stand wortlos da, was mich beruhigte, und so sagte ich:
Na gut, gehen wir.
Die Polizisten ließen mich los und schauten mich ratlos an. Ich ging den Asphalt entlang, hinunter zu den grauen Häusern, und sie folgten mir ehrerbietig. Als unser Trauerzug die grauen Häuser erreicht hatte, legte ich mein Schuldgeständnis in musikalischer Form ab: