Archiv der Kategorie: Weises

Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?

Trauma

Während draußen die Nebelschwaden die Wände des Hauses befeuchteten, spielten wir drinnen ein lustvolles Spiel. Die Heizkörper voll aufgedreht, jagten wir uns durch das Haus, und wenn wir uns erwischten, rissen wir uns etwas vom Leib. Unsere Lust schien grenzenlos.

Wir waren längst nackt und rannten noch immer wild hin und her, da packte ich Miriam und riss sie unsanft zu Boden. Ich legte mich auf sie und hielt mit meinen Händen ihre Hände und mit meinen Füßen ihre Füße gefangen. Aber in diesem Moment verspürte ich keine Lust mehr. Ich fühlte mich nicht wie ein Mann, der eine Frau begehrt, sondern wie ein Junge, der seine Mutter um Liebe anbettelt. Oder wie ein verzweifelter Täter, der gewaltsam um Zuneigung kämpft. Ich fühlte die Bedrängnis, die ich ausstrahlte. Ich hielt Miriam noch fester an Händen und Füßen.

Sie begann sich zu wehren. Ich spürte, wie ihre Lust der Angst wich. Sie strampelte und schrie. Ich hielt dagegen. Ich wollte sie demütigen, ich glaubte zu erkennen, dass sie von mir gedemütigt werden will. Es war anstrengend. Wir schwitzten und stöhnten wie zwei Leidende im Todeskampf. Doch plötzlich verließen mich die Kräfte. Ich erstarrte und ließ sie los. Fast ohnmächtig blieb ich liegen, während sie hektisch im Haus herumlief, um ihre verstreuten Klamotten einzusammeln. Mit letzter Kraft schaffte ich es, mich aufzurappeln und Miriam zu suchen. Ich fand sie im Bad vor dem Spiegel: Du magst es nicht, wenn ich mich schminke. Deshalb schminke ich mich! sagte sie mit bebender Stimme, während sie sich mit zitternder Hand dick Lippenstift auf die Lippen strich. Ihr Gesicht war bereits foundiert und gepudert, wie glatt lackiert sah sie aus, und ihre Augen waren entstellt von Lidschatten, Lidstrich und Wimperntusche. Sie packte ihr Täschchen, drängte sich an mir vorbei und zog sich im Gang fertig an. Ich ging zu ihr, schaute ihren hektischen Bewegungen noch immer wie erstarrt zu. Sie zog sich ihre Handschuhe an, um das letzte Stück unbedeckter Haut an ihrem Körper zu bedecken, und mich schrie sie an: Keinen Zentimeter Haut bekommst du mehr von mir, du ekliges Scheusal! Dann öffnete sie die Haustür, knallte sie hinter sich zu und entschwand in den Nebel.

Ich starrte auf die geschlossene Tür. Plötzlich hielten mich meine Beine nicht mehr. Ich fiel zu Boden. Ich legte mich nicht hin: Es legte mich hin. Ich konnte nicht selbst entscheiden. Es hatte mich hingelegt, und der Boden hielt mich fest. Ich hatte keine Möglichkeit, mich aufzurichten und Miriam nachzurennen. Es hatte mich hingelegt und gefesselt. Reglos blieb ich liegen. Es beherrschte mich. Ich drehte mein Gesicht zur Seite und sah zur verschlossenen Tür. Die verschlossen bleiben würde. Für immer.

Ich war zu erstarrt, um zu weinen. Alles war so vertraut, als wäre es schon immer so gewesen. Das ist mein Schicksal: verlassen zu werden.

Es war zweimal ein Mensch

Es waren einmal zwei Menschen, man könnte ebenso gut sagen: Es war zweimal ein Mensch, und doch ist es nicht das Selbe, denn der Mensch, der zweimal ist, existiert ohne jegliche Verbindung zueinander, während der einmalige Mensch seine Zweimaligkeit dazu nutzt, um miteinander in Verbindung zu treten.

So muss in unserem Fall festgestellt werden, dass zweimal ein Mensch war, ein Mensch, der in seiner Zweimaligkeit nicht in die Zweisamkeit kam, sondern zweimalig einsam blieb. Trennung war das große Wort, das zwischen diesen zweimaligen Menschen stand. Dabei wäre die Trennung leicht zu überwinden gewesen, wenn die zwei Menschen einmal gewesen wären, um aus dieser Einmaligkeit in die Zweisamkeit zu treten, wenn sie sich also als verbunden statt als getrennt erlebt hätten. Doch weil sie es vorzogen, sich als getrennt zu erleben, ist es und bleibt es so, dass zweimal ein Mensch war und nicht einmal zwei Menschen.

Somit ist die anfängliche Aussage, dass einmal zwei Menschen waren, nach diesen Überlegungen zu verwerfen und zum Schluss zu folgern: Es war zweimal ein Mensch.

Im herben Herbst oben das Obst

Heute Morgen, als ich aufwachte, war ich glücklich: denn es fiel mir eine Geschichte ein. Wobei: Die Geschichte fiel mir nicht ein, sondern sie kam zu mir, nicht als Geschichte, sondern als Wahrheit: denn es ist immer die Wahrheit, die zu mir kommt, die, besser gesagt, schon bei mir gewesen ist, ohne dass ich es wusste, sodass ich glaube, sie sei gerade zu mir gekommen. So gesehen könnte ich sagen: Die Wahrheit fiel mir in meine Welt ein.

Als kleiner Junge fiel ich vom alten Obstbaum auf den Boden. Meine Schwester, die sechs Jahre älter ist als ich, war vor mir auf den alten Obstbaum geklettert, um Obst zu ernten, es muss also Herbst gewesen sein, ja, ich erinnere mich, es war ein klarer sonniger Oktobertag, an dem das reife rotgelbe Obst am alten Obstbaum in der Sonne glänzte, es lag etwas Herbes in der Luft, die Herbe des Herbsts, und oben, wohin meine Schwester kletterte, oben war das Obst am alten Obstbaum, jetzt, wo ich das schreibe, wird die Erinnerung ganz konkret: Ich sehe mich unten stehen am furchigen Stamm des alten Obstbaums, während meine Schwester nach oben klettert. In der herben Luft des Herbstes blicke ich nach oben zum Obst und zu meiner Schwester, ich möchte auch in diese herbe Welt da oben, aber wie komme ich in diese Welt des Obstes auf dem alten Baum? Hochzuklettern wie meine Schwester traue ich mir nicht zu. Also rufe ich zu ihr nach oben:

Ich herbe, du herbst. Ich obe, du obst.

Ich habe die Verben herben und oben in meine Welt gebracht. Ich wollte mich verbal in den Herbst herben, mich zum Obst oben. Dazu musste ich nach oben. War es das, was ich sagen wollte: Ich muss dringend nach oben zum Obst, um tiefer in den herben Duft des Herbstes einzutauchen? Unterstrich meine Verbalisierung – Substantive und Adjektive völlig außer Acht lassend – wie dringend es war? Jedenfalls rieche ich jetzt ganz deutlich: Der herbe Duft des Herbstes vermischt sich mit dem Duft des rotgelben reifen Obstes am alten Obstbaum, wie es oben an den Zweigen vor dem hellblauen Oktoberhimmel hängt. Der Duft betört mich. Ich muss nach oben! Dringend! Meine Schwester scheint diese Dringlichkeit zu spüren, ruft sie doch vom Baum herab: Ja, kleiner Bruder, im Herbst gibt es Obst. Komm auch nach oben und pflücke mit mir!

Daraufhin greift meine Motorik von der Zunge auf meinen ganzen Körper über: Ich obe mich nach oben, meine kleinen Hände und Füße krallen sich an den furchigen Stamm des alten Obstbaums, und als ich den ersten Ast erreiche, herbt der Herbst, steigt mir der herbe Duft der Obstbaumrinde in die Nase. Dieser Duft, der mir jetzt, beim Anblick der geschriebenen Wörter, intensiv in die Nase steigt, lässt mich vor Glück in die Leere sinken, ich fliege vom Ast und lande im weichen Gras, meine Schwester über mir oben, und hinter ihr der hellblaue Oktoberhimmel.

Versuch ins Gefängnis zu kommen

Es gab eine Zeit, in der war ich meines Lebens sehr überdrüssig. Es gab in dieser Zeit auch Phasen, in denen ich des Lebens nicht überdrüssig war, und in diesen Phasen machte ich mir Sorgen, wie ich das Leben überhaupt überleben soll, ohne den Hungertod zu sterben. Außerdem hatte ich die Stimme meiner besorgten Mutter im Ohr: Bub, wie willst du denn für dich sorgen?

Da hatte ich eine Idee: Im Gefängnis würde für mich gesorgt werden. Ich bekäme immer zu essen, müsten nicht den Hungertod sterben. Wie stelle ich es also an, um ins Gefängnis zu kommen und dann möglichst lebenslange drinzubleiben? Ich muss eine Straftat begehen, eine drastische: Ich nahm mir vor, einen Menschen zu ermorden. Ich steckte mein scharfes Küchenmesser in meine Tasche und ging auf die Pirsch. Ich setzte mich auf die Straße und beobachtete meine möglichen Opfer. Ich sah eine Frau, bei der glaubte ich zu sehen, dass sie auch des Lebens überdrüssig ist. Sie hatte so traurige Augen. Ich fand das traurig, dass sie traurige Augen hatte, denn sie gefiel mir. Und hinter ihren traurigen Augen spürte ich ein liebendes Herz. Allein um sie wiederzusehen, wollte ich nun nicht mehr ins Gefängnis. Ernüchtert brach ich mein Experiment ab und ging nachhause. Dort starrte ich die Wände an. Es muss doch jemanden geben, den ich ermorden kann, um ins Gefängnis zu kommen. Ja, ich wollte nun wieder ins Gefängnis, schöne Frau mit traurigen Augen hin oder her.

Vielleicht gibt es ja jemanden, der ermordet werden will. Ja, der ermordet werden will. Diesen jemand gilt es zu finden. Voll ungewohntem Tatendrang ging ich zurück auf die Straße, um jemanden zu finden, der ermordet werden will. Doch schon bald bemerkte ich, dass ich mein Messer vergessen hatte, ohne das ich die Mordestat an einen bereitwilligen Opfer nicht vollbringen kann. In diesem Moment drang ein freudiges Hallo an mein Ohr. Das Hallo gehörte zu Karl, einem Bekannten von mir, der mich voller Euphorie begrüßte und sagte, dass er sich vorgenommen hatte, den ersten Bekannten, den er heute trifft, zum Essen einzuladen. Ich hatte überhaupt keine Lust auf Karl, aber seine Essenseinladung linderte meine Angst vor dem Hungertod, und so sagte ich zu, am Abend mit ihm ins Emiliano essen zu gehen.

Als ich abends ins Emiliano ging, malte ich mir aus, am Tisch unversehens mein scharfes Pizzamesser zu zücken, um jemanden zu ermorden. Vielleicht sogar Karl. Ja, Karl wäre ein guter Kandidat für einen Mord! Voller Begierde und Tatendrang betrat ich die Trattoria: Karl war schon da, aber er saß nicht allein am Tisch. Eine Frau saß neben ihm, und zwar nicht irgendeine Frau, sondern die Frau, die ich tagsüber gesehen hatte und deren traurige Augen es mir unmöglich gemacht hatten, sie zu ermorden.

Das ist Karla, sagte Karl: Lustig, nicht? Wir haben uns zufällig getroffen und ich habe sie auch eingeladen.
Ich fand Karla in diesem Moment wunderschön. Wahrscheinlich sah ich wieder ihr liebendes Herz. Dann aber sah ich in ihre Augen, und die schauten ins Leere. Ich hatte das Gefühl, sie wollte es tunlichst vermeiden, in meine zu schauen. Ich spürte mein Herz klopfen, heftig klopfte es, und plötzlich wurde mir kotzübel, ich würde keinen Bissen hinunterkriegen, trotz Karls Einladung. Die Angst vor dem Hungertod war verflogen, ich wollte nur raus, raus aus diesem Gefängnis, in das Karlas Augen mich verführten.

Unter der Hose zu meiner Überraschung ein Po

Es war ein warmer Tag, ach, was rede ich: Es war ein heißer Tag: Ich ging unter der sengenden Sonne und hatte vollkommen die Orientierung verloren, als ich trotz meiner Orientierungslosigkeit den Schatten alter Bäume erreichte, und – noch viel wichtiger – das Ufer eines wasserreichen Sees. Ich entledigte mich meiner Kleidung, die schweißnass an mir klebte und wollte gerade ein paar Schritte gehen, um im Wasser des wasserreichen Sees ein kühlendes Bad zu nehmen, als ich wie aus dem Nichts Menschen um mich bemerkte. Sie standen aufgereiht da, mit steifen und strengen Mienen in ihren Gesichtern, und als ich ihren Mienen ein Lächeln entgegensetzte, hellte das selbige auch nicht auf. Sie standen da wie gefroren, was ein signifikanter Unterschied zu mir war, stand ich doch noch immer schweißnass da, ohne ein kühlendes Bad genommen zu haben.

Doch der noch signifikantere Unterschied zwischen ihnen und mir war – das fiel mir jetzt bei näherer Betrachung auf -, dass ich nackt war und alle von ihnen zumindest eine Hose trugen. Einige, etwa die Hälfte von ihnen, trugen auch ein Stück Stoff um die Brust, das waren wohl die Frauen, wie ich später schlussfolgerte. War ihr Bekleidetsein und mein Nacktsein der Grund für ihre steifen und strengen Mienen? Andererseits waren sie spärlich bekleidet: Ich sah ihre nackten Arme, Beine und Bäuche, und die Hosen derjenigen, die ein Stück Stoff um die Brust geschnallt hatten, waren oft aus derart wenig Stoff genäht, dass ihre Pobacken nicht bedeckt waren.

Apropos Pobacken: Als ich einen Schritt Richtung Wasser wagte, drehten sie sich plötzlich alle um und wandten mir ihre Rückseite zu. Da war ich mir sicher, dass sie meine Nacktheit nicht ertragen konnten, so abrupt war ihr Abwenden. Der Anblick meines Körpers musste für sie etwas völlig Fremdes sein. Ich zweifelte, ob es wirklich Menschen waren, mit denen ich zu tun hatte, so fremdartig erschien mir ihr Verhalten. Vorsichtig blickte ich zum Wasser, dann auf die steifen und strengen mir zugewandten Rückseiten. Ich beschloss, mein Bad im Wasser des wasserreichen Sees weiter zu verschieben und mich der Gestalten anzunehmen, die sich um mich abgewandt hatten. Vorsichtig ging ich zu ihnen und zog an einer der Hosen: Und unter der Hose zu meiner Überraschung – ein Po.

Muss ein Dach?

Muss ein Dach,
dass es ist,
erst bedacht werden?

Muss ein Bach,
dass er fließt,
erst bebacht werden?

 

P.S:
Ich dachte an ein Dach
und dachte nach:
War zuerst das Dach,
oder mein Gedachtes danach?

Uteto Fritz und die abgeschiedene Achtsamkeit oder: Alles kommt zu einem knirschenden, mahlenden, reibenden Halt

Uteto Fritz, der sich selbst als Künstler und Psychologen bezeichnet, hat sich seit geraumer Zeit in die Abgelegenheit zurückgezogen. Er experimentierte einst mit Sprache als Energetisiakum, weshalb man ihn als Sprachenergetiker bezeichnete. Er lehnte diese Bezeichnung von Anfang an ab, er sagte, er könne kein Sprachenergetiker sein, wenn er als solcher bezeichnet werde. Er fand jedoch immer mehr Anhänger, die sich von ihm sprachlich energetisieren ließen, bis er schließlich den Glauben an die Sprache als Energetisiakum verlor und sich in die Abgelegenheit zurückzog, um sich von seiner Rolle als Sprachenergetiker frei zu machen und wieder zu sich selbst zu kommen.

Jüngst wurde er jedoch wegen einer Angelegenheit aus seiner Abgelegenheit gerufen, und er folgte diesem Ruf: Eine Frau, die sich selbst als Mädchen bezeichnet, war in ein Loch gefallen. Diese Frau, die sich selbst als Mädchen bezeichnet und zu den sprachenergetischen Jüngern gezählt wird, eine Jüngerin also, hatte einst Uteto Fritzes Tätigkeit als Sprachenergetiker auf digitalen Kanälen bekannt gemacht. Die digitalen Kanäle bezeichnet sie als soziale Medien. Uteto Fritz bezeichnet sie als asoziale Separatoren. Die Bekanntmachung seiner Arbeit als Sprachenergetiker auf digitalen Kanälen hatte bei Uteto Fritz erste Zweifel an seiner Arbeit geschürt und führte schließlich zu seinem Entschluss, sich in die Abgelegenheit zurückzuziehen. Das Mädchen, die Jüngerin, setzte nach Utetos Rückzug die sprachenergetischen Bekanntmachungen auf den digitalen Kanälen fort, wobei ohne Uteto die Inhalte ihrer Bekanntmachungen zunehmend dünner wurden. Uteto würde hier anmerken, dass seine Inhalte nie einen Anspruch auf Dicke hatten.

Nun ist dieses Mädchen in ein Loch gefallen, weswegen Uteto, wie bereits erwähnt, aus seiner Abgelegenheit gerufen wurde. Der Tathergang wurde Uteto am Tatort wie folgt geschildert: Das Mädchen sei spazieren gegangen, mit Kopfhörern in den Ohren, und hörte einen Podcast über Achtsamkeit. Dabei habe es ein Loch in der Straße übersehen, in das es gefallen sei. Uteto sah in das Loch und sah darin das Mädchen leblos liegen. Er nahm jedoch noch Zuckungen an ihrem leblosen Leib war, als würde sie unter Strom stehen. Uteto folgerte: Sie hat zu viel Strom konsumiert, deshalb musste sie in das Loch fallen. Das mobile Funken der digitalen Kanäle ist eine permanente Stromzufuhr, diese permanente Stromzufuhr hat sie nicht mehr ausgehalten und ist in das Loch geflüchtet. Dennoch knirscht und mahlt und reibt es noch an ihrem ganzen Leib, wie man an den Zuckungen sieht. Sie ist ein Junkie, den das Knirschen und Mahlen und Reiben des Stroms noch in das Loch verfolgt.

Während Utetos Ausführungen war die Leiche näher untersucht worden. Dabei war festgestellt worden, dass das Mädchen, die Jüngerin, kurz vor ihrem tödlichen Fall in das Loch nicht mehr den Podcast über Achtsamkeit, sondern das Lied Grinding Halt von The Cure gehört hatte.

Das passt gut, sagte Uteto daraufhin, denn die frühe Musik von The Cure ist ein Knirschen und Mahlen und Reiben von Gitarre, Bass und Schlagzeug, das einem ständig Stromschläge verpasst: Everything Is Coming to A Grinding Halt – Alles kommt zu einem knirschenden, mahlenden, reibenden Halt.

Ganzheitliche Gastronomie

München ist eine wohlhabende und selbstverliebte Stadt, sagt Vorderbrandner. Am Abend sitzen die Leute in Scharen in Restaurants und Wirtschaften und schlagen sich gemeinsam die Bäuche mit Essbarem voll. Und wenn ich sie so in Scharen sitzen sehe, frage ich mich, sagt Vorderbrandner, wann jeder von ihnen sich einzeln davonschleicht und aufs Klo geht. Oder verdrücken sich die meisten ihre Regungen im Darm und gehen später zuhause aufs Klo? In jedem Fall folgt dem gemeinschaftlichen Essen kein gemeinschaftliches Scheißen, was für mich einen Bruch darstellt, denn beides stellt doch einen untrennbaren gemeinsamen Vorgang dar. Aber es gibt riesige Speisesäle und kleine, verwinkelte, versteckte Klos. Eine künstlich hergestellte Getrenntheit, die der Realität nicht standhält. Deshalb schlage ich vor: Restaurants und Wirtschaften nicht nur mit Speise-, sondern auch mit Scheißesälen. Nach gemeinschaftlicher Speise auch gemeinschaftliche Scheiße, um das gastronomische Erlebnis zu einem ganzheitlichen zu machen.

Viele würden vielleicht Widerstand in sich spüren gegen diese neue Gepflogenheit, denn Neues ist immer ungewohnt, auch wenn es der menschlichen Seele gut tut. So könnte es sein, dass dieser Widerstand sich sogar somatisch äußert und den Flüssigkeitskreislauf im Darm unterbricht, der Kot sich verhärtet und nicht aus dem Darm austreten will. Um diesen am Anfang zu erwartenden Widerständen entgegenzutreten, könnte man zum Beispiel einen eigenen Menüpunkt Nach dem Speisen gemeinsam zum Scheisen einführen, das Wort Scheißen absichtlich mit s statt mit ß geschrieben, um es sanfter und genehmer erscheinen zu lassen, denn so gerne viele über das Speisen reden, so ungern reden sie über das Scheisen. Außerdem könnte man im Scheisesaal ein abortives Getränk reichen, um die Darmtätigkeit anzuregen. In jedem Fall würde dieses gastrononische Gemeinschaftserlebnis helfen, unsere gespaltene Gesellschaft wieder zu einer zu machen.

Die gehobene Gastronomie könnte überlegen, für Gäste, die nicht am gemeinschaftlichen Speisen und Scheisen teilnehmen wollen, zumindest übergangsweise Separées einzurichten, wo sie dann alleine speisen und scheisen. Ich persönlich, sagt Vorderbrandner, verbinde Speise immer mit Scheise, deshalb speise ich meist alleine, da ich anschließend auch alleine scheise. Sonst ist mir der Bruch im Erleben zu groß.

Weil mein Ich

Wenn meine Hand die deine nimmt,
bin ich dann noch ich,
oder auch ein bisschen du?

Wenn meine Haut die deine spürt,
bekomm ich Gänsehaut,
und lass es nicht mehr zu.

Wenn deine Höhle meinen Stab verführt,
kommt mein Ich in Panik,
und er erschlafft im Nu.

Weil sich mein Ich so wichtig ist,
bleibst du immer du.
Und ich lebe mein Leben
in angsterstarrter Ruh.

Überall gerne 2

Fortsetzung von Teil 1

Zu Salzburg gehörte der Rupertiwinkel über Jahrhunderte, bis Österreich und Bayern das Land an der Salzach 1816 unter sich aufteilten: Der Rupertiwinkel westlich der Salzach kam zu Bayern und der große Rest zu Österreich. Die Hinterstoissers sagen bis heute von sich, sie seien eine Salzburger Familie: Sie kommen aus dem Rupertiwinkel, vom Högl, in dessen Umgebung sie, mit wenigen Ausnahmen, über die Jahrhunderte blieben. Vom Högl in die zwanzig Kilometer entfernte Stadt Salzburg zu ziehen, was einige taten, galt familienintern als Unverschämtheit. Ein Umzug ins ferne München war unvorstellbarer Verrat. Die willkürlich Grenzziehung von 1816 traf unsere stolze Sippe ins Mark, sagte mein Großvater, und ich, Emil, der ich den Hinterstoisserschen Stolz in mir trage, fühle mich weder als Österreicher noch als Bayer. Ich bin ein Rupertiwinkler.

Wie ging es weiter mit meinen Expeditionen von München Richtung Ostsüdost? Eines Tages, es ist nun schon einige Jahre her – Josefine war gerade in Frankfurt, glaube ich mich zu erinnern, jedenfalls war sie nicht in München – trieb mich alles in mir in den Rupertiwinkel: Ich setzte mich in ein verfügbares Automobil und fuhr auf die Autobahn acht, die den Streifen zwischen München und Rupertiwinkel durchquert, ich rollte ostsüdostwärts wie in Trance, ich hielt nicht am Chiemsee, ich bog auch nicht nach Traunstein ab, und als ich im Rupertiwinkel angelangt war, kam auch eine Weiterfahrt nach Salzburg nicht in Betracht. Stattdessen fuhr ich an den Fuß des Högls. Unweit meines Elternhauses stellte ich das Automobil ab und rannte durch den Wald aufwärts. Ich kam auf die Wiese, wo die Gräser grün und der Löwenzahn gelb in der Sonne leuchteten. Hier war ich hochgerannt als Pubertierender, als mir das sündige Mannwerden zu viel geworden war. Ich rannte keuchend weiter über die Wiese, hoch bis zum Waldrand. Dort blieb ich stehen und blickte talwärts. Die Bäume standen schützend hinter mir. Ich erinnerte mich, dass ich genau an dieser Stelle das erste Mal ejakuliert hatte: Hier hatte mich das sündige Mannsein mit voller Wucht getroffen und mich schluchzend und schamhaft ins Tal zurückkehren lassen.

Ich stand an diesem schicksalshaften Ort, und die Zeit schien keine Rolle mehr zu spielen. Mir wurde klar, dass es die Vergangenheit nicht gibt, nur die Gegenwart mir ihren Gedanken über sie. Ich spürte meine Manneskraft und war gerne in meinem Körper, alles in mir, jede Zelle, jubelte dem Leben zu. Ich hatte nicht gedacht, dass mir das am Högl, im Rupertiwinkel, passieren würde. Trotzdem stieg ich bald wieder ab ins Tal, dort ins Automobil, und fuhr zurück nach München, wo ich am gernsten bin.

Am Högl