Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Erinnerungen an eine Zeit der Angst

Klopapier war einst – es ist noch gar nicht so lange her, es war, als ein Virus über unser Land hereinbrach und Angst und Schrecken verbreitete –  ein wertvolles Gut, ein Wertpapier sozusagen. Heute ist es wieder ein gewöhnliches Gebrauchsgut, obwohl seine Herstellung, vor allem unter Berücksichtigung der Klimadebatte, sehr energieintensiv ist.

Es ist nicht selbstverständlich, sich den Hintern mit Klopapier abzuwischen, mit diesem Luxusgut, nein, es ist eine Handlung, die mit großer Demut vollbracht werden sollte. Ich habe mir gerade eine neue Packung dieser tollen Rollen besorgt und habe sie, als ich sie zuhause sorgsam aus ihrer Verpackung geschält hatte, lange und liebevoll betrachet.

Nun werde ich eine davon, aus Solidarität, in den Landkreis Gütersloh schicken. #WeFightCorona. #WeShitTheVirus.

Scheider von Gut und Böse

Ich sah mich mit der Aufgabe konfrontiert, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, ja, die Aufgabe wurde mir aufoktroyiert, indem man mir sagte: Seien Sie der Scheider von Gut und Böse! Ich fing daraufhin zu denken an, denn wie sollte ich diese Aufgabe sonst angehen als denkend: Wenn ich gut bin, sehe ich das Böse. Wenn ich böse bin, sehe ich das Gute. Oder ist es umgekehrt: Wenn ich gut bin, sehe ich das Gute… Ehe ich den Gedanken zuende denken konnte, hörte ich jemanden sagen: Negerin, hör auf mit dem Scheiß! Ich wollte einschreiten, denn es schien ein klarer Fall von Rassismus vorzuliegen, als die Angesprochene die Pistole auf den Rassisten richtete und sagte: Ich knall dich ab, du weißer männlicher Macho! und sie ließ ihren Worten Taten folgen, verballerte ihre ganze Munition, und der weiße männliche Macho, der sich eben als Rassist geoutet hatte, starb in einem roten Blutbad.

Ich versuchte gerade, das Erlebte zu verarbeiten, als sie, die ich hier, um dem Lesefluss zu dienen, scheiß Negerin nenne, ohne rassistischen Hintergrund, nur zur besseren Unterscheidung, sagte: Guck nicht so blöd, sonst knall ich dich auch ab! Woraufhin ich dachte: Stimmt, logisch, ich bin auch ein weißer männlicher Macho, wobei der Macho in mir, naja, bin ich nicht eher ein weißer männlicher Weichling?, doch plötzlich überkam mich Angst, die meine Macho- und Weichlingsgedanken verdrängte, und ich beeilte mich zu sagen: Nein, nein, ich guck nicht blöd, im Gegenteil, ich find das gut, klarer Fall von Rassismus, da muss man Zeichen setzen, #notoracism, ■ und so, ja gut, das sind Zeichen, aber ich meine, nur Zeichen?, nein, man muss Taten setzen, es abknallen, dieses weiße männliche Machoschwein, dessen Vorfahren die Neger erst ausgebeutet und dann getötet… Sie winkte ab und ging weg, und ich dachte mir: Wow, krasser Einstieg in meine Tätigkeit als Scheider von Gut und Böse, und folgende Fragestellung drängte sich mir auf: Wäre die scheiß Negerin mit der Pistole ein Bleichgesicht gewesen – wäre es dann Mord gewesen, oder lediglich die Rache einer unterdrückten weiblichen Weißen an einem weißen männlichen Macho? Ich hatte das Gefühl, die Gedanken türmten sich in mir auf, sie zwangen mich in die Knie, und insofern war es gut, dass ich auch diesen Gedanken mit den Weißen beiderlei Geschlechts nicht zuende denken konnte, denn eine Person mit einem kleinen schwarzen Hütchen auf dem Kopf kam mir entgegen, was ich lustig fand. Die Person sagte: Guck nicht so blöd! Das kam mir bekannt vor, doch dann sagte die Person: Bist wohl ein scheiß Nazi, oder was? Ich dachte, ja: Ich dachte schon wieder, und diesmal dachte ich: Vielleicht trage ich die Haare zu kurz?, doch dann begriff ich: Nein, der Nazi ist im Kopf dieser Person mit dem kleinen schwarzen Hütchen auf dem Kopf, ein festes Konzept im Kopf dieser Person, der böse Nazi, ein durchaus plausibles Konzept, ich schien dem Scheiden von Gut und Böse näher zu kommen, als die Person rief: Wir sind das auserwählte Volk und ihr seid alles scheiß Nazis! Schämst du dich denn nicht, du Verbrecher, du Mörder des auserwählten Volkes! Ich böse, Person mit schwarzem Hütchen gut? So denkt zumindest die Person mit dem schwarzen Hütchen, unerbittlich, und in mir blitzte der Gedanke auf, das gut und böse verwerfliche Konzepte sind, Konzepte, die in eine Spirale der Gewalt führen, doch kaum war der Gedanke vom Blitz erleuchtet, fielen Schüsse, begleitet von lauten Schreien – Allahu akbar donnerte es in meinen Ohren, und ich sah die Person mit dem schwarzen Hütchen und mich als die nächsten toten weißen männlichen Machos im roten Blutbad, überhaupt eine ganz schöne Männerveranstaltung hier, war die Negerin nicht doch ein Neger und die Feministin ein Feminist?, doch vor unserem Tod wachte ich schweißgebadet auf und erschrak darüber, wie echt sich dieser Traum angefühlt hatte.

Beute und Beate 2: Beates Unfall

Fortsetzung von Teil 1

Als Halbwaise, ohne Mutter und mit dem Vater im Gefängnis, zog ich zu Beate, die ein kleines Zimmer frei hatte.

Es war aufregend, bei Beate zu wohnen. Sie hatte viele Freier. Es ging laut und energisch zur Sache, das hörte ich durch die Wände. Ich lag während dieser Liebesorgien auf meinem Bett, fingerte an mir herum und fantasierte von Gruppensex mit Beate und ihren Freiern.

Eines Tages, mitten in diese Liebesidylle, kam ein Brief von Hansi, ganz klassisch, auf Papier mit der Post. Ich saß auf dem Küchentisch, öffnete ihn und begann zu lesen: Meine liebste Beute... Das reichte mir schon. Ich erwartete nichts als Schwachsinn, dummes Gesülze von Liebe und so. Ich legte den Brief weg, ging in mein Zimmer und ließ mich auf mein Bett fallen. Außer mir war niemand zuhause, dachte ich, doch dann hörte ich jemanden in der Küche herumkramen. Es war nicht Beate, es waren nicht ihre Geräusche. Wer war das? Dann klopfte es an meiner Tür. Es war einer von Beates Freiern, ich kannte ihn vom Sehen. Er hielt Hansis Brief in der Hand und sagte: Ich heiß zwar nicht Hansi, meine Liebste, aber willst du meine Beute sein?

Mich erregte, wie er das sagte. Ich war wie gebannt, es lief mir heiß über den Rücken. Ich zog mich aus und ließ mich von ihm ans Bett fesseln. Als ich nackt und gefesselt vor ihm lag, sagte er: Ich komm gleich wieder, muss nur kurz telefonieren. Das erregte mich nur noch mehr. Als er zurückkam, ließ er seine Hose runter und rammte ihn in mich rein. Trotz meiner Erregtheit war mir das zu viel, zu heftig, aber ich dachte: So ist eben Sex mit einem Mann – hart und unerbittlich. Mitten in sein heftiges Rammeln klingelte es an der Wohnungstür, er zog ihn raus, grinste mich mit einem breiten Macholächeln an, ging zur Tür und öffnete. Ich hörte Lärm im Treppenhaus. Mir wurde unheimlich, ich bekam Angst. Plötzlich standen unzählige Typen in meinem Zimmer, sie ließen ihre Hosen runter, sie schwangen ihre Schwänze vor mir, einer packte mich und steckte ihn in meine Muschi, ein anderer steckte ihn mir in den Mund, es würgte mich, sie lachten, ich fühlte mich eklig und schmutzig, aber sie hörten nicht auf, sie bespukten und schlugen mich, sie zogen mich an den Haaren, sie steckten die Schwänze ohne Vorbereitung in mein Arschloch und es tat so weh, ich war mir sicher, gleich zu sterben, da kam plötzlich Beate ins Zimmer und schrie:

AUFHÖREN!!!

Ein Schrei, der das Treiben zum Stillstand brachte. Sie ging auf den Typen los, der mit Hansis Brief ins Zimmer gekommen war, woraufhin er sie heftig ohrfeigte. Sie war wohl kurz bewusstlos und schlug ungebremst mit dem Kopf auf dem Boden auf. Schwere Gehirnschädigung, sagen die Ärzte. Seitdem ist sie ein Spasti und lallt nur mehr statt zu sprechen.

Ute und ich saßen wie hingemalt im Gras. Die Vögel zwitscherten ihre Frühlingslieder.

weiter zu Teil 3

Konzentration auf das Wesen

Ich durchstreifte, wie so oft, die Stadt, was – das behaupte ich – zu meinem Wesen gehört. Nichts lässt sich jedoch festhalten von meinen Streifzügen. Denn was gestern war, ist heute schon ganz anders. Ich schaute also, was heute anders war als gestern, in einer Art Momentaufnahme, nicht wissend, nur ahnend, was morgen anders sein könnte als heute. Ich bewegte mich im Kreis der Zukunft langsam fort, um irgendwann auf die Vergangenheit zu treffen. Bei diesen Bewegungen kam ich an einem Schild vorbei:

Ich war mit dem Fahrrad unterwegs. Eine Durchfahrt war nicht möglich, ohne einen Straftatbestand herbeizuführen. Ich trug keinen Rock und bin auch kein Kind, dennoch hätte ich wohl zu Fuß weitergehen können. Darauf hatte ich jedoch keine Lust. Also beschloss ich, zum Anwesen zuzufahren, was zwei Vorteile bot: Ich verhielt mich korrekt im Sinne des Schildes und ich hatte Gelegenheit, das Anwesen zu betrachten.

Am Anwesen angekommen, sah ich alte hohe Bäume, die das Grundstück umrandeten und in der Mitte die Reste eines abgerissenen Hauses. Niemand befand sich auf dem Grundstück. Ist ein Anwesen, an dem niemand anwesend ist, noch ein Anwesen? Oder ist es ein Abwesen? Es ist wohl ein Abwesen. Natürlich, es ist ein Abwesen. Herrlich, wie logisch Sprache sein kann!

Das Schild, aufgrund dessen ich mich für die Zufahrt zum Anwesen entschieden hatte, hat jedoch seinen Zweck verloren, denn es regelt die Zufahrt zu einem Anwesen, nicht aber zu einem Abwesen. Muss die Zufahrt zu einem Abwesen geregelt werden? Eine Regelung wäre sehr wahrscheinlich ratsam. Das bestehende Schild ist zu ersetzen und ein neues anzubringen mit der Aufschrift: Zufahrt zu Abwesen 1 gestattet, um die Entstehung eines rechtlichen Graubereiches zu vermeiden. Oder plant man, auf dem Grund des Abwesens ein neues Anwesen zu bauen? Man müsste dann das bestehende Schild nicht ersetzen, sondern lediglich mit einem neuen Schild ergänzen, das folgende Aufschrift tragen sollte, um der Historie und dem abwesenden Zwischenstatus des Anwesens gerecht zu werden: Hier stand einst ein Anwesen, dass durch Abriss zum Abwesen wurde. Nun entsteht ein neues Anwesen.

Andererseits: Das sind Gedankenspiele mit der Zukunft. An und Ab sind vergängliche Formen, die nur die Polarität des materiellen Daseins ausdrücken. Vielleicht sollte man sich die Arbeit mit den Schildern sparen und sich statt mit An- und Abwesen zu beschäftigen auf das Wesen konzentrieren, denn irgendwann trifft die Zukunft auf ihrer Kreisbahn durch die Zeit die Vergangenheit.

Markus und die Virologengang

eine aktuelle Einschätzung zur bayerischen Landespolitik von Valentin Vorderbrandner

Ich verstehe nicht, wieso Markus Söder als bayerischer Ministerpräsident nicht zurücktritt. Er könnte einem Virologen seinen Platz überlassen und müsste sich nicht ständig als Sprachrohr von diesem benutzen lassen. Oder streiten sich dann zuviele Virologen um das Amt des Ministerpräsidenten? Und Söder bleibt deshalb im Amt, um einen Virologen-Konflikt in schweren Zeiten wie diesen zu vermeiden? Man hat in diesen Tagen ja das Gefühl, dass es mehr Virologen als Corona-Viren gibt.

Es gibt aber auch einen zweiten Vorteil, den sein Rücktritt böte: Er müsste sich nicht ständig der Ratschläge seines Stellvertreters Hubert Aiwanger erwehren, der Söder kürzlich via Bayerischem Rundfunk vertrauensvoll Folgendes mitteilte:

Lieber Markus! Wenn wir so weitermachen, dann haben wir zwar keine Corona-Toten mehr, aber die Leute verhungern uns! Ja, oder, und da greif ich jetzt vielleicht der Kollegin Huml (bayerische Gesundheitsministerin, Anm.) vor, die Leute erschlagen sich gegenseitig oder sie bringen sich selber um.

Söder hat jedenfalls, als eine Reaktion darauf, eine unabhängige Expertengruppe CSU-naher Virologen und Verfassungsexperten einberufen, die unter Wahrung aller demokratischer Mittel seinen möglichen Rücktritt prüfen sollen. Und ich verspreche Ihnen, sagte Söder abschließend: Ich lasse nichts unversucht, um mich im Amt zu halten!

Carl-Philipps tragischer Tod

Carl-Philipp, den alle nur Gottlieb nannten, war ein sehr ängstlicher Mensch, mit preußischen Vorfahren, das sollte in diesem Zusammenhang vielleicht erwähnt werden, mit entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen zu den von Clausewitz. Carl-Philipp also bewegte sich in Zeiten der COVID-19-Pandemie laufend im Parke fort, um sich körperlich zu ertüchtigen. Er lief nicht, er rannte, im sportlichen Gewande, um keine Zweifel an der Redlichkeit seines Tuns aufkommen zu lassen. Er kam dabei so ins Schwitzen, dass er, als er an einem Bach vorbeikam, auf die Idee kam, sich in dessen Wasser zu erfrischen.

Als er sich gerade seines Gewandes entledigte, bemerkte er eine herannahende Polizeistreife, die das Treiben im Park kontrollierte. Erschrocken über sich selbst, über seinen statischen, niedergelassenen und ihm recht unrechtmäßig erscheinenden Zustand, sprang er geistesgegenwärtig ins eiskalte Wasser des Baches, tauchte unter und hoffte, dass bis zu seinem Auftauchen die Polizei wieder verschwände. Die Polizei verschwand jedoch nicht, sondern das Herz von Carl-Philipp hörte im eiskalten Wasser auf zu schlagen. Er trieb leblos im Wasser, die Polizei barg ihn, alle Wiederbelebungsversuche waren erfolglos. Der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen und entschied aufgrund der Umstände, den Toten in die Liste der COVID-19-Toten aufzunehmen.

Den Angehörigen Carl-Philipps wurde zu ihrem Trost mitgeteilt, dass er sich trotz seines tragischen Todes nichts habe zuschulden kommen lassen.

Ort der Erörterung (ein Bericht von Stephan Katzert)

Ein Mensch namens Katzert stand plötzlich in der Tür, ich hatte ihn noch nie vorher gesehen, und Katzert sprach davon, dass er es gut finde, dass ich die Nachsilbe ert in meine Texte aufgenommen habe: Ert sage soviel mehr als sein übliches Substitut Menge, ein Menschert sei viel plastischer als eine Menschenmenge. Wie man an meinem Nachnamen erkennt, komme ich aus einer Gegend, in der die Nachsilbe ert viel verwendet – ja, ich möchte fast sagen – exzessiv verwendet wird, sagte Katzert. Wobei man in meiner Gegend dem trockenen Menschert noch ge voran- und er zwischenfügt, um es blumiger lauten zu lassen: Man spricht vom Gemenscherert.

Er sei nicht verwandt mit einem gewissen Kratzert, der in derselben Gegend aufgewachsen sei, ja, sogar im selben Ort, das sei reiner Zufall, und das R in Kratzerts Namen mache einen großen Unterschied, so Katzert, denn sein Name bedeute Katzenmenge, was wohl auf ein Bauerngehöft mit vielen dort lebenden Katzen hinweist. Auf dem Katzengehöft, da hockt meine Familie schon seit Jahrhunderten, und alle erstgeborenen Männer heißen Stephan, seit Jahrhunderten, man möchte fast sagen, ein Stephanert, diese Katzerts, auch ich heiße so, Stephan Katzert, ja, Stephan Katzert im übrigen mein Name. Habe ich das bereits erwähnt?

Als Kind ging ich viel in die Kirche, mit meiner Mutter Maria ging ich hinein zur Messe, während mein Vater Stephan draußenblieb, um später zum Frühschoppen beim Kirchenwirt zu gehen. Stephan und Kirchen, das sind die zwei Worte, die mir einfallen, wenn ich an den Ort denke, wo ich aufgewachsen bin. Mein Großvater Stephan, den ich nur mit roter Nase kannte, kam nie zur Kirche, sondern ging gleich zum Kirchenwirt zum Frühschoppen. Wenn er nach dem Frühschoppen nachhause kam, schien mir seine Nase noch röter als sonst, er sprach dann oft vom Gemenscherert, das nach dem Krieg in den Ort kam und auf dem ehemaligen Kasernengelände wohnt. Komische Leute, alle miteinander, ein Gemenscherert halt, sagte Großvater Stephan. Mit denen kannst du nichts anfangen! Er meinte die Siedlung Haidholzen, die Heimatvertriebene nach dem Krieg gründeten, auf dem Gelände eines vormaligen Zwangsarbeitslagers. Mutter Maria wurde bei diesen alkoholgeschwängerten Reden von Großvater Stephan zornig und traurig, stürmte erbost aus dem Zimmer ins Schlafzimmer, um auf ihrem Bett einen Migräneanfall zu bekommen. Sie stammt selbst vom Gemenscherert, ist die Tochter von Heimatvertriebenen, und einmal hörte ich Großvater Stephan zu Vater Stephan sagen: Das verzeih ich dir nie, dass du so eine geheiratet hast, von diesem Gemenscherert. Schau an, wie krank sie dauernd ist! Ein andermal hörte ich Mutter Maria zu Vater Stephan sagen: Im Krieg hat er Leute erschossen, jetzt säuft er ohne Reue. Ich hasse deinen Vater! Als sie bemerkte, dass ich gelauscht hatte, machte sie drei Kreuze und bekam wieder einen Migräneanfall.

Als ich Vater Stephan fragte, was Großvater Stephan im Krieg gemacht hat und warum es Mutter Maria so schlecht geht, sagte er: Bub, wir haben es so schön hier – die Wiesen, die Wälder, der See, die Berge. Dabei blickte er traurig. Und dann lief er über die Wiesen und durch die Wälder, stundenlang, mit mir, und ich mache das heute noch, über Wiesen und durch Wälder laufen, stundenlang, so komme ich zu mir, und oft setze ich mich am See auf einen Stein oder an einen Baum, so wie mein Vater Stephan das oft gemacht hat, und schaue auf das Wasser, und manchmal weine ich, wenn ich auf dem Stein oder an einem Baum sitze und auf das Wasser schaue. Dann wird es leichter, denn ich bin auch ein Stephan, und manchmal ist es schwer, ein Stephan zu sein.

Katzert stand noch immer in der Tür, und sagte: Das wollte ich Ihnen sagen, über den Ort, wo ich herkomme, denn ich finde, ein Ort ist nicht einfach ein Ort. Ein Ort muss erörtert werden. Er wandte sich ab um zu gehen, drehte sich noch einmal um und sagte: Katzert mein Name, Stephan Katzert. Habe ich das bereits erwähnt? Und falls Sie meinen Text in Ihre Sammlung aufnehmen möchten, nennen Sie ihn bitte Ort der Erörterung. Das wäre mir wichtig.

weitere Erörterung…

Die Zeit im Lauf der Zeit

Betrachtungen zum 29. Februar 2020

Am Tag scheint die Sonne und in der Nacht scheint der Mond. Das war meine erste Wahrnehmung der Zeit. Dass eine Woche sieben Tage hat, ignorierte ich als Unwahrheit, denn eine Woche hat sieben Tage und sieben Nächte. Und die Länge dieser Tage und Nächte, zusammen immer vierundzwanzig Stunden, aber zueinander immer unterschiedlich, ist abhängig von den Jahreszeiten. Dem Phänomen der Jahreszeiten ging ich damals noch nicht genauer nach, denn ein Jahr war für mich eine unfassbar unendliche Zeiteinheit: Dreihunderfünfundsechzig Tage und Nächte – eine Ewigkeit. So entdeckte ich zunächst den Monat, mit seiner überschaubaren Zeitspanne von vier Wochen plus zwei oder drei Tagen und Nächten. Aber wieso ist ein Monat vier Wochen plus zwei oder drei Tage und Nächte lang? Was passiert in einem Monat? Der Mond umrundet in einem Monat einmal die Erde, bekam ich als Antwort, deshalb heißt der Monat Monat, abgeleitet vom Mond. Ich folgerte: Im April, Juni, September und November braucht der Mond dreißig Tage und Nächte um die Erde, während er im Januar, März, Mai, Juli, August, Oktober und Dezember etwas rumtrödelt und einen Tag und eine Nacht länger braucht. Im Februar dafür gibt er Gas und braucht nur achtundzwanzig Tage und Nächte, also genau vier Wochen. Im Februar ist sich der Mond scheinbar der Zeiteinheit der Woche bewusst. Aber warum nur im Februar, warum ist es ihm sonst egal? Zu meinem Entsetzen stellte ich außerdem fest – ich glaube es war in der Grundschule, als ich das erste Schaltjahr bewusst erlebte -, dass der Mond alle vier Jahre im Februar neunundzwanzig Tage und Nächte braucht, um die Erde zu umrunden, also vier Wochen und einen Tag und eine Nacht. Der Mond hat ein sehr schlampiges Verhältnis zu den Wochen.

Als ein der Zeit Verfallener und in einem Alter, als mein erstes bewusst erlebtes Schaltjahr schon einige Zeit vorüber war, erfasste ich den Zeithorizont des Jahres. Zwölf Monate ergeben ein Jahr. Der Mond umrundet also in einem Jahr zwölfmal die Erde? Ja, so ungefähr. Aber wichtiger ist eigentlich, dass die Erde in einem Jahr einmal die Sonne umrundet. Das Ungefähr in der Antwort machte mich stutzig, und brachte mich dazu, die Frage zu stellen, die mich schon länger beschäftigte: Wieso braucht der Mond unterschiedlich lang, um die Erde zu umrunden? Wieso sind die Monate unterschiedlich lang? Der Mond braucht nicht unterschiedlich lang: Er braucht siebenundzwanzig Tage, sieben Stunden, dreiundvierzig Minuten und sechsundreißig Sekunden. Die Nächte fehlten mir in dieser Antwort, aber ich hielt mich damit nicht auf, denn aus einem anderen Grund brach eine Welt in mir zusammen: Der Mond hält sich nicht an meine liebgewonnenen Monate beziehungsweise die Monate halten sich nicht an den Mond. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich mich den Wochen zuwandte mit ihren verlässlichen sieben Tagen und sieben Nächten, und erstellte folgende Rechnung (bei der ich die Tage und Nächte nun selbst zusammen vereinfachenderweise als Tage bezeichnete):

Januar      31
Februar     28
März        31
            90 Tage = 13 Wochen - 1 Tag

April       30
Mai         31
Juni        30
            91 Tage = 13 Wochen

Juli        31
August      31
September   30
            92 Tage = 13 Wochen + 1 Tag

Oktober     31
November    30
Dezember    31
            92 Tage = 13 Wochen + 1 Tag

Drei Monate eines Jahresquartals bestehen aus fast exakt dreizehn Wochen. Die dreizehnte Woche teilen sich die drei Monate geschwisterlich untereinander auf. Wobei mich das Fast in dieser Feststellung genauso stört wie das Ungefähr bei den Mondumrundungen der Erde. Ein Jahr besteht nämlich als Folge dieses Fasts nicht aus zweiundfünfzig Wochen, sondern aus zweiundfünfzig Wochen und einem Tag, in einem Schaltjahr sogar aus zweiundfünfzig Wochen und zwei Tagen. Auch die Arithmetik der Wochen befriedigte mich nicht.

Also zurück zu den Monaten: Wieso sind die Monate, mit Ausnahme des Februars, dreißig und einundreißig Tage (Ich verzichte im weiteren aus Vereinfachungsgründen gänzlich auf die Angabe der Nächte.) lang, wenn der Mond nur siebenundzwanzig Tage, sieben Stunden, dreiundvierzig Minuten und sechsunddreißig Sekunden braucht, um die Erde zu umrunden? Weil ein Jahr nicht aus zwölf Mondumrundungen um die Erde, sondern aus einer Erdumrundung um die Sonne besteht. Und die Erde braucht dreihunderfünfundsechzig Tage, fünf Stunden, achtundvierzig Minuten und sechsundvierzig Sekunden, um die Sonne zu umrunden. Der Monat, diese mir so liebgewonnene Zeiteinheit, steht also völlig willkürlich zwischen Tag und Jahr? Einem Jahr, das ich übrigens auch Sonnat nenne, abgeleitet von der Sonne. Unsere Zeitrechnung richtet sich nach der Sonne, nicht nach dem Mond. Und vielleicht sollte die Zeit überhaupt nicht lichtabhängig gesehen werden, sondern in Bezug auf einen fiktiven unendlich weit entfernten Fixstern ohne Eigenbewegung.

Das war zuviel für mich. Ich sah Tage und Nächte dahinschwinden und mich dabei verlieren in unendlicher Schlaflosigkeit im Licht des fiktiven Fixsterns, der die lichtunabhängige Zeit vorgibt. So wie die Dinge für mich sind, stehe ich auf dem Boden der Erde am Ende des Februars. Ich sehe die Sonne hinter den Bäumen untergehen, und zwar später und westlicher als noch vor ein paar Wochen. Der Frühling kommt, es wird lichter:

Bei diesem Anblick träume ich von lauen Sommernächten, in denen ich es mit der Realität wie Rilke halte, ganz fiktionsfrei:

Die Nacht liegt duftschwer auf dem Parke
und ihre Sterne schauen still
wie des Mondes weiße Barke
im Lindenwipfel landen will.

Weitere Betrachtungen zur Zeit

Unnutzenschema nach Hinterstoisser

Die Wirtschaftswissenschaft ist eine putzige Wissenschaft: Menschliche Phänomene, denen nach menschlichen Maßstäben eine Komplexität innewohnt, versucht sie in simple, triviale Formeln zu packen. Sie bedient sich dabei willkürlich und nach Lust und Laune der Psychologie und der Mathematik. In der komplexen Praxis greifen diese simplen, trivialen Formeln viel zu kurz. Sie sind viel zu kurz gedacht. Aber Langdenken geht in der Wirtschaftswissenschaft nicht, sie ist eine anwendungsorientierte Wissenschaft. Alles muss von Nutzen sein. Der Nutzen von Kurzdenken ist höher als der Nutzen von Langdenken, so die innewohnende Logik, denn Denken an sich bringt keinen Nutzen. Vielleicht ist das schon zu lang gedacht.

Ich wollte einmal eine Geschichte schreiben mit dem Titel Der Nutzen des Apfelbutzen, es wurde nur ein unnützes Gedicht daraus: Die Würmer krochen hinein, zersetzten ihn gar fein. Aber was interessiert Apple der Apfelbutzen: Es geht nicht um Würmer, sondern um schnieke Geräte, von denen Menschen abhängig gemacht werden, damit sie glauben, sie zu brauchen, oder, um es wirtschaftswissenschaftlich simpel und trivial auszudrücken: dem stofflich-technischen Grundnutzen wird ein geistig-seelischer Zusatznutzen aufgepfropft. Dies geht aus dem sogenannten Nutzenschema der Nürnberger Schule nach Vershofen hervor, das die Wirtschaftswissenschaft in jenen Bereichen zur Wahrheitsfindung heranzieht, in denen sie es als nützlich erachtet. Wahr ist, was nützlich ist, lautet der Leitsatz der Erkenntnis, kurz gedacht und wahr gemacht.

Als Freund der Dualität der Dinge leitete ich aus dieser Erkenntnis den Satz Unwahr ist, was unnütz ist ab und wollte daraus in einem ersten Schritt ein Unnutzenschema entwickeln, an dem sich die Menschen orientieren, die im Unnutzen mehr Unwahrheit sehen als im Nutzen Wahrheit. Ich kam jedoch bei meiner Arbeit, die ich zunächst am Schreibtisch verrichtete, nicht voran, ich sah keinen Nutzen in ihr und auch keinen Unnutzen, und so beschloss ich, einen physischen Schritt zu tun, einen unnützen, dem keine simple, triviale Formel zugrundelag. Ich ließ dem ersten unnützen Schritt weitere unnütze Schritte folgen, die mich zu meinem Fahrrad führten. Dann fuhr ich mit meinem Fahrrad in die Unnützstraße, eine unnütze Aktion, könnte man sagen, doch ich erhoffte mir dort neue Erkenntnisse, und tatsächlich: In der Unnützstraße hing die Sonne unnütz auf kahlen Bäumen rum:

Agnieszka, die Trampolin

Die Vorteile der U-Bahn weiß ich als Großstadtbewohner durchaus zu schätzen. Mit rasender Geschwindigkeit und ohne Hindernisse im Untergrund von A nach B zu gelangen, wie ein Hochgeschwindigkeitsmaulwurf: Es gibt kein schnelleres innerstädtisches Verkehrsmittel. Dennoch bewege ich mich lieber auf der Oberfläche, mit dem Fahrrad, oder, wenn ich Zeit habe, zu Fuß. Ich bin halt doch ein Mensch und kein Maulwurf.

Vor zwei Wochen, als ich Zeit hatte und es mir zu kalt und zu weit war, um zu Fuß zu gehen, nahm ich die Tram. Im winterlichen Sonnenschein stieg ich am Stachus ein. Ich war glücklich, mich fortzubewegen, dabei etwas zu sehen und mich nicht auf den Verkehr konzentrieren zu müssen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Umgebung, die an mir vorbeizog. Auf die Häuserfassaden in der Sonne und im Schatten und auf die Leute davor auf den Gehsteigen. Auf die kahlen Äste der Laubbäume im flachen Licht und den blauen Himmel dahinter. Die Tram selbst war locker gefüllt, und bei meinem Blick durch den Waggon fiel mir eine Frau auf: Dunkelblond, wohl zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt, hübsch, anmutig. Aber das ist nebensächlich, denn was mich vor allem faszinierte, war ihr Blick. Ein stolzer Blick, der die tiefe Sehnsucht hinter diesem Blick nicht verbergen konnte. Eine zarte Traurigkeit schimmerte durch. Kurz schauten wir uns in die Augen, aber ihr Stolz ließ sie sofort wieder wegschauen. Nach zwei oder drei Fahrminuten ertappte ich sie dabei, wie sie noch einmal zu mir schaute. Sofort schaute sie wieder weg. Für die Gewissheit meiner Bewunderung hätte sie fast ihren Stolz geopfert. Ich fühlte mich stark, begehrt, ich spürte die Liebe. Zufrieden stieg ich an der Schellingstraße aus und ging pfeifend am Gehsteig entlang zu mir nachhause.

All das hätte ich wahrscheinlich schon vergessen und würde es nicht erzählen, wenn ich nicht vor einer Woche wieder mit der Tram gefahren wäre und genau diese Frau wieder getroffen hätte. Unsere Blicke trafen sich, ganz kurz, immer sofort unterbrochen von ihrem Stolz. Ich stieg nicht aus an der Schellingstraße. Am Elisabethmarkt stieg sie aus. Ich auch. Ich folgte ihr durch die Marktstände. Dann ging sie geradeaus weiter in die Agnesstraße. Ich folgte ihr nicht weiter, sondern bog nach links ab. Pfeifend ging ich den Gehsteig entlang und stellte mir vor, dass die Stolze aus der Tram eine Polin ist. Ihre dunkelblonden Haare und ihr blasses Gesicht mit seinen etwas kantigen Zügen machen sie zu einer slawischen Schönheit. Ihr Stolz ist auch slawisch, der Stolz, mit dem sie ihre Unsicherheit überspielen will, ihre große unerfüllte Sehnsucht. Ach, was schreibe ich da über slawische Schönheit! Sie ist eine Polin! Punkt. Weil es mir so gefällt! Weil ich mich durch diese Geschichte noch mehr in sie verliebe. Kurz überlegte ich, ob ich sie Elzbieta oder Agnieszka nenne, entschied mich für Agnieszka und stellte mir vor, wie Agnieszka die Agnesstraße entlanggeht und sich nach der Liebe sehnt.

All das würde ich nicht erzählen, hätte die Geschichte mit Agnieszka nicht gestern eine Fortsetzung gefunden: Ich war in der Sauna. Zwischen meinen Gängen nahm ich ein Fußbad und las in der Charakteranalyse von Reich. Als ich kurz aufblickte, sah ich am anderen Ende des Raumes Agnieszka. Ich sah sie von der Seite, sie trocknete sich ab. Ich fand sie wunderschön mit ihrem nackten Körper. Ich konnte meine Blicke nicht abwenden. Dann blickte auch sie zu mir, und ich bilde mir ein, ja, ich bin mir sicher: Sie hat mich sofort erkannt. Sie drehte sich in meine Richtung und streckte ihren Oberkörper, sodass ihre Brüste, ihr Bauch und ihre Beine voll zur Geltung kamen. Stolz präsentierte sie sich. Flammend spürte ich mein Begehren. Im nächsten Moment warf sie sich ein Handtuch um und mir einen stolzen Blick zu. Dann schaute sie in die Weite, vielleicht in ihre Sehnsucht, und ging an mir vorbei aus dem Raum, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Ich blieb sitzen, legte aber die Charakteranalyse zur Seite, in der ich nicht mehr gelesen, sondern mich nur daran festgehalten hatte. Agnieszka! Nur du! Jetzt! Ich fühlte mich sehr lebendig, vom Leben geküsst. Flammendes Begehren. Was jetzt? Ich nahm eine Dusche. Unter der Dusche sah ich die chaotischen Verstrickungen der Unliebe hinter Agnieszkas Stolz. Enttäuschte Liebe, von Kindheit an. Agnieszka ist verliebt in die Sehnsucht nach der Liebe und hat Angst vor der Liebe. Agnieszka? Wie komme ich überhaupt darauf, sie Agnieszka zu nennen? Was für eine lächerliche Geschichte! Ich gehe aus der Dusche und trockne mich ab. Ich beschließe, nicht weiter über Agnieszka nachzudenken. Ich beschließe, die kurzen liebevollen offenen Momente zwischen uns so zu belassen, wie sie sind, ohne weitere Kommentierung: Agnieszka, die schöne Polin aus der Tram, die ich in der Sauna getroffen habe.

Als ich das Handtuch zur Seite lege, sehe ich sie kommen.