Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Wo waren bloß die Aale?

Es war ein unruhiger Tag. Ich gewann mit Ela im Mixed-Wettbewerb des Tiereerkennens. So erlebte ich ihn:

Nach dem Finale
gab’s die Pokale,
dazu noch eine Schale.

Dann sahen wir die Wale,
dazu noch die Schakale.
Wo waren bloß die Aale?

Am Abend, in einer Art Rückschau auf den Tag, entwickelte ich folgendes Mantra:

Elanif Elakop Elasch
Elaw Elakasch Elaa

Dieses Mantra betete ich so lange, bis sich die Unruhe des Tages in Ruhe verwandelt hatte.

Für einen Rückblick auf das Jahr empfehle ich folgendes Mantra: Jahresrückblick

Sus und Mari (Zwei Schwestern)

Sus und Mari haben als Zweitnamen den Namen ihrer Mutter, nämlich Anne, weshalb sie Susanne und Marianne heißen. Sie haben nicht den selben Vater. Sus und Maris Mutter Anne schimpft über die Väter ihrer Töchter, von denen sie sich jeweils kurz nach der Zeugung getrennt hat. Keiner der beiden Väter ist bei der Geburt von Sus und Mari dabei gewesen. Keiner ist später im Leben der beiden dabei. Es ist ein Heranwachsen ohne Väter. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die beiden als Kinder beschließen, Nonnen zu werden.

Sus und Mari stellen gerne Situationen dar: Sus schwimmt durch einen Fluss, während Mari am Ufer bleibt. Als Sus am anderen Ufer ankommt, rufen sie einen Kameramann, der sich mit seiner Kamera auf einem Boot in der Mitte des Flusses befindet, er solle bitte ein Bild machen. Das Bild zeigt Mari auf der einen, Sus auf der anderen Seite des Flusses. Sus und Mari nennen das Bild Hierzulande und dortzulande, hier mit und dort ohne Gewande, denn Sus hat sich zum Schwimmen ausgezogen und steht nackt dort, während Mari sich hier Sus‘ Kleid so über den Kopf gezogen hat, dass nur ein Schlitz für ihre Augen freibleibt. Das Bild ist sehr bekannt. Es macht die beiden berühmt. Die Feuilletonisten stürzen sich auf das Bild, rätseln über sein Motiv und kommen fast einhellig zu dem Ergebnis, dass man dort, in der Fremde, nackt ist, und hier, in der Heimat, sich lächerliche Verkleidungen über seinen Körper wirft. Sus und Mari meinen dazu, das könne schon so sein. Kleidung werde schrecklich ideologisiert: Im Winter gehe ich gerne vollverschleiert, sagt Sus, weil es mich im nackten Gesicht genauso friert wie am restlichen Körper. Deswegen bin ich keine Muslime. Ich dagegen schon, sagt Mari, auf das berühmte Bild zurückkommend: Als ich mir Sus‘ Kleid über den Kopf zog, wollte ich eine Muslime sein. Oder war ich doch eine Christin, der das Kopftuch zu weit in das Gesicht gerutscht ist? Ich mit meinen rötlichen Haaren bin die nackte Hexe am anderen Ufer, sagt Sus. Wo ist der Scheiterhaufen?

Mari kennt Wolfgang und sagt: Wolfgang heißt Thomas, aber ich nenne ihn Wolfgang, denn er hat einen Gang wie ein Wolf. Von Wolfgang gibt es ein Bild, das ihn auf einer Kloschüssel sitzend zeigt. Das Bild heißt: Wolfgang beim Stuhlgang.

Mari hat ein Kind geboren. Ob Wolfgang oder Thomas der Vater ist, weiß sie nicht. Am liebsten sei ihr die Vorstellung, sie habe ein Kind von zwei Männern, sagt sie. Das Kind ist – nach langem Kampf – bei der Geburt gestorben. Mari hat dabei viel Blut verloren. Sus hat ein Bild gemacht mit Mari in ihrem verlorenen Blut. Sie nennen das Bild: Das ist mein Blut, das für euch Männer vergossen wird, zur Vergebung der Sünden. Ein Feuilletonist kommentiert das Bild entnervt mit: Die kranken Schwestern, woraufhin Sus meint: Mari und ich werden keine Nonnen mehr, wie wir das als Kinder wollten, sondern Krankenschwestern. Denn die kranke Gesellschaft braucht ihre Schwestern.

Morgen hat gebrochen

Winter war es, irgendwann im Dezember oder Januar, wenn die Tage am kürzesten sind. Ich war früh erwacht, etwa um sieben denke ich, denn beim Blick aus dem Fenster erahnte ich das erste Morgenlicht. Ich beschloss, rauszugehen in den Morgen.

Als ich aus dem Haustor trat auf den Gehsteig, hörte ich Würgelaute. Jemand erbrach sich. Er trug dabei eine rote Mütze, und da wusste ich, es muss Dezember sein, irgendwann vor Weihnachten. Zu vermuten ist folgendes Szenario: Der Erbrechende hatte auf der Weihnachtsfeier maßlos getrunken, Alkohol war reichlich in seinen Körper geflossen, hatte ihn vergiftet, und nun wollte dieser Körper das Gift wieder loswerden. Ich ersann eine freie Übersetzung des Cat Stevens-Klassikers Morning has broken: Morgen hat gebrochen, es hat schlecht gerochen. So begann also mein Morgen, mein Morgen im Dezember.

Es sollte ein sonniger Tag werden, bald würde die Sonne flach am Horizont erscheinen, kalt und klar. Ich ging in den Park, und dort war es so: Die Dohlen hockten hart am Teich. Der Morgen passt besser zum Frühling als zum Winter. Ein Frühlingsmorgen, an dem der nasse Tau von der warmen Sonne bestrahlt wird, das ist ein Morgen, an dem die Dohlen weich am Teich weilen. Ein Wintermorgen ist kein Morgen. Winter ist Kerzenlicht in der Dunkelheit. Umso überraschender kommt der Morgen im Winter. Er ist wie der erste Morgen, an dem das Licht in die Dunkelheit kommt, als wäre es das allererste Licht.

Ich ging weiter, eine Amsel flatterte aus einem kahlen Busch mit leisem Gezeter, man könnte sagen: Im Geäst schwamm ein Klang in Moll. Langsam rollte sich die Sonne zum Horizont empor, und der Morgen, der zunächst auf den Gehsteig gebrochen hatte, war nun angebrochen, wie der erste Morgen. Die Dohlen hockten immer noch hart und weilten nicht weich. Die kalte Kälte trieb mich in meine warme Stube, dort hörte ich das Rauschen des heißen Wassers im Heizkörper. Gibt es etwas Schöneres als eine warme weiche Stube an einem kalten klaren Wintermorgen?

Ich sah meine Gitarre und mein Klavier und ich meine, ich spielte auf beiden gleichzeitig und sang dazu. Oder war jemand bei mir und spielte am Klavier und noch jemand der an der Gitarre spielte? Sang ich selbst, oder ließ ich singen? Es musizierte in mir und durch mich, es erklang ein Lied, und dieses Lied war für mich die einzige Möglichkeit, meine überwältigenden morgendlichen Erlebnisse zu verarbeiten:

Der Morgen ist angebrochen wie der erste Morgen. Die Amsel hat gesungen wie der erste Vogel. Ein Loblied auf ihren Gesang, ein Loblied auf den Morgen. Sie haben heute die Welt neu erschaffen.

Günstiger

In Günz haben sie eine Burg, und in Güns, obwohl es viel kleiner ist, haben sie einen Zoo, der in Güns Tsoo geschrieben wird. Auf ihren Tsoo sind sie immer sehr stolz gewesen, die Günser. Zwischenzeitlich überlegte man, den Ort, nach dem Vorbild vom größeren Günzburg, in Günstsoo umzubenennen. Doch seit einiger Zeit überlegt man in eine ganz andere Richtung: Man überlegt, den Tsoo aufzulassen. Die Tiere sind entweder gestorben oder wurden weggegeben. Nur noch ein Tiger ist übrig. In Güns sagt man deshalb nicht mehr Ich gehe in den Tsoo, sondern Ich gehe zum Tiger. Nichtgünser sagen Ich gehe zum Günstiger. Keine Rede mehr vom Günstsoo.

Der Günstiger ist zum Markenzeichen von Güns geworden. Er ist aber mittlerweile recht alt und verursacht hohe Kosten: Er muss rund um die Uhr gepflegt werden. Nahrung bekommt er nur noch intravenös, weil er nicht mehr beißen und kauen kann. Ständig kommt der Tierarzt. Der Bürgermeister von Güns hofft, dass er endlich stirbt, der Günstiger, um das Gemeindebudget nicht mehr zu belasten, doch weil er nicht stirbt, sah er sich in der letzten Gemeinderatssitzung zu folgender Aussage genötigt: Für Güns wäre es günstiger ohne Tiger. Daraufhin herrschte große Empörung unter den Gemeinderäten. Was ist denn Güns ohne seinen Tiger? Schlimm genug, dass es seinen Tsoo nicht mehr hat!

Ein Rat saß während der ganzen Empörung still in seinem Stuhl. Als die anderen auch wieder still in ihren Stühlen saßen, sahen sie ihn an, wie er still in seinem Stuhl saß, und er sagte in die Stille: Herr Bürgermeister, obwohl ich glaube, sie wollten nur einen billigen Wortwitz unter die Leute bringen, sage ich auch nö zum Tiger – anderes haben wir nötiger!

Thea Ter

Im Nachhinein scheint es natürlich selbstverständlich, dass Thea Ter Schauspielerin geworden ist. Theater-Schauspielerin nämlich. Dabei ist sie die Tochter eines Fabrikanten, eines Herstellers von Teekochern, der seine Produkte für den internationalen Markt T-Heater nennt.

Ist es also doch nicht so selbstverständlich, dass Thea Ter Schauspielerin geworden ist?

Lewandowski nickt ein

Ich beginne diese Erzählung im Heute, denn wenn sie nichts mit dem Heute zu tun hätte, würde ich sie nicht erzählen. Heute ist mittlerweile gestern, und das Gestern, das ich meine, ist der 19. Oktober 2019, ein Samstag, an dem die Internet-Seite des Fußballfachmagazins kicker titelt: Lewandowski nickt ein. Drei Worte, die mich schlagartig in ein noch gestrigeres Gestern katapultieren, nämlich zum 7. Juli 1974. Nun fällt es mir jedoch schwer, über dieses Gestern zu berichten, erstens weil ich noch gar nicht geboren war, und zweitens weil Sportberichterstattung zu den schwierigsten Berichterstattungen überhaupt zählt. Doch zu den Fakten: Am 7. Juli 1974, einem Sonntag, gewann die deutsche Fußball-Nationalmannschaft im Olympiastadion von München das Weltmeisterschaftsfinale gegen die Nationalmannschaft der Niederlande und war damit Weltmeister im Fußball. Mit vielen Spielern des FC Bayern München, dem Lieblingsverein meines Vaters: Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Sepp Maier, Georg Schwarzenbeck, Uli Hoeneß, Paul Breitner. Mein Vater war ein glücklicher Mensch an diesem 7. Juli 1974. Er saß vor dem Fernseher und lächelte, und innerlich reckte er die Arme in die Höhe, nur innerlich, denn äußerlich tat er das nie, die Arme in die Höhe recken. Zwei Monate früher, im Mai 1974, war der FC Bayern München zum dritten Mal in Folge deutscher Meister im Fußball geworden. Mein Vater hatte die Arme in die Höhe gereckt, innerlich, im Mai 1974.

Am Abend des 7. Juni 1974 war mein Vater also ein glücklicher Mensch, ein sehr glücklicher. Der FC Bayern war Weltmeister, so konnte man dieses Glück kurz zusammenfassen. Er teilte dieses Glück mit meiner Mutter. Im April 1975 wurde ich geboren. Im April 1975 stand bereits fest, dass der FC Bayern nicht zum vierten Mal in Folge deutscher Meister im Fußball werden würde. Mein Vater war nicht glücklich darüber, was eher seinem Normalzustand entsprach. Im Normalzustand war mein Vater ein unglücklicher Mensch, warum, das habe ich nie genau herausgefunden. Nicht nur wurde der FC Bayern München nicht deutscher Meister im Fußball: Mein Vater hatte jetzt einen Sohn, und er wusste nicht, ob das ein Glück oder ein Unglück ist, denn rein äußerlich war es ein Glück, während er innerlich ein Unglück verspürte, warum, wusste er nicht genau, wahrscheinlich, weil er selbst ein unglücklicher Sohn gewesen war. Das ist jedoch nur ein Mutmaßung über das Innenleben meines Vaters, denn er selbst behauptete immer, ein glücklicher Sohn gewesen zu sein, wenngleich diese Behauptung rein äußerlich daherkam und sich nicht sehr innerlich anfühlte.

Die nächsten Jahre nach meiner Geburt waren dürftige Jahre: Erst 1980 schaffte es der FC Bayern wieder, deutscher Meister im Fußball zu werden, mit Paul Breitner und Karl-Heinz Rummenigge. Mittlerweile saß ich mit meinem Vater vor dem Fernseher, wenn die Spieler des FC Bayern München mit ihren roten Trikots in der Sportschau auf dem grünen Rasen aufliefen. Ich sah das Glück in den Augen meines Vaters und wünschte mir, selbst einmal ein Spieler im roten Trikot zu sein, um meinen Vater glücklich zu machen.

Unsere beste Zeit hatten mein Vater und ich zwischen 1985 und 1987, als der FC Bayern dreimal in Folge deutscher Meister wurde. Besonders dramatisch und unvergesslich sind die Umstände der Meisterschaft 1986, die erst am letzten Spieltag errungen wurde. Ich reckte die Arme in die Höhe und tanzte vor dem Fernseher, und mein Vater lächelte. Innerlich reckte er die Arme in die Höhe und tanzte vor dem Fernseher.

Danach erlosch unsere große Begeisterung, daran konnten auch die Meisterschaften 1989 und 1990 nichts ändern, ja nicht einmal der Weltmeistertitel der deutschen Nationalmannschaft im Jahr 1990 vermochte unsere Euphorie neu zu entfachen. Zu wenige Spieler des FC Bayern dabei, sagte mein Vater. Kein Vergleich mit 1974. 1992 spielte der FC Bayern ein sehr schlechtes Jahr. Mein Vater war ein unglücklicher alternder Mann und ich ein unglücklicher junger Mann. Auch die Meisterschaft 1994 konnte daran nichts ändern, nein, sie strich vollkommen unbemerkt an uns vorbei. Was war nur aus uns geworden?

Am 19. April 1997, einem Samstag, spielt der FC Bayern unentschieden gegen Borussia Dortmund und ist Tabellenführer der deutschen Bundesliga, drei Punkte vor Bayer Leverkusen. Mein Vater liegt blass und schwach im Bett. Am folgenden Dienstag, dem 22. April 1997, fällt mein Vater ins Koma. Lungenkollaps, Kreislaufstillstand, Wiederbelebung. In den darauffolgenden Wochen kämpft der FC Bayern gegen Bayer Leverkusen um die deutsche Meisterschaft im Fußball, und mein Vater… – gerne möchte ich sagen: Er kämpfte um sein Leben. Aber er kämpfte nicht. Er war eingenickt und wollte nicht mehr aufwachen. Er lag im Bett, angeschlossen an Maschinen, die ihn am Leben hielten. Aber er wollte nicht mehr. Er wollte nicht mehr leben. Am 31. Mai 1997, einem Samstag, bekam die Mannschaft des FC Bayern die Meisterschafts-Schale überreicht. Meinen Vater interessierte das nicht. Mich auch nicht. Am Mittwoch, dem 4. Juni 1997, stellte man die Maschinen ab. Mein Vater war endgültig eingenickt.

Samstag, 19. Oktober 2019. Der FC Bayern spielt in Augsburg, und das Fußballfachmagazin kicker titelt: Lewandowski nickt ein. Lewandowski nickt ein? Wie einst mein Vater? Ein Schrecken fährt durch meine Glieder. – Nein, Lewandowski nickt nicht ein wie mein Vater, sondern befördert den Ball mit dem Kopf ins Tor. Lewandowski nickt ein. Lewandowski nickt ein! Tor für den FC Bayern München!!!

Seit mein Vater gestorben ist, wurde der FC Bayern fünfzehn Mal deutscher Meister im Fußball: 1999, 2000, 2001, 2003, 2005, 2006, 2008, 2010, 2013, 2014, 2015, 2016, 2017, 2018 und 2019. Wird es der FC Bayern mit den Toren von Robert Lewandowski 2020 wieder schaffen, deutscher Meister zu werden? So wie damals, im April 1986, als mein Vater und ich die Hände in die Höhe reckten und vor dem Fernseher tanzten? Durch den Fußball ist mein Vater kein glücklicher Mensch gewesen. Aber durch den Fußball habe ich die glücklichsten Momente mit ihm erlebt, und immer noch glaube ich, dass Siege des FC Bayern München dieses Glück wiederholen. Sonntag, 7. Juli 1974: Lewandowski nickt ein!

Denken und Lieben

Es waren einst zwei Brüder, die hießen Ben und Ken. Sie entstammten der Künstlerdynastie Lieden. Ben und Ken teilten sich alles im Leben, und so beschlossen sie, auch ihren Familiennamen Lieden zu teilen. Ben übernahm Lie und Ken Den. Mit ihrem künstlerischen Talent zogen sie gemeinsam durch die Lande, und obwohl sie aus dem Norden Deutschlands stammten, waren sie vor allem im süddeutschen Sprachraum sehr beliebt. Im süddeutschen Sprachraum wird in der Alltagssprache der Familienname oft vor den Vornamen gesetzt, und so nannten sich die beiden zwecks besserer Vermarktung bald Lie Ben und Den Ken, schließlich ohne Leerzeichen Lieben und Denken.

Eines Nachts – sie waren wieder unterwegs und ruhten nach ihrem Auftritt im Hotel – hatte Ken einen Traum: Er bestand aus einem riesengroßen Kopf. Er hatte keinen Körper mehr, nur mehr einen riesengroßen Kopf. Unerträgliche Gedanken quälten seinen riesengroßen Kopf, und Ben schenkte ihm in dieser Unerträglichkeit eine riesengroße Mütze für seinen riesengroßen Kopf.

Am nächsten Morgen erzählte Ken Ben von seinem Traum, und Ben sagte: Dieser Traum macht Sinn. Deine Disziplin ist das Denken, meine das Lieben. Du denkst, also bist du, ich liebe, also bin ich. Du bist Denken, ich bin Lieben. Nach diesen Worten von Ben schwoll Kens Kopf an und wurde größer und größer und verschlang seinen Körper und machte sich daran, seine ganze Umgebung zu verschlingen. Mit unbändiger Kraft rollte der Riesenkopf über alles hinweg. Es schien sogar, als rollte er gnadenlos über Bens Liebe hinweg, aus Zorn über Bens Aussagen, die so hochnäsig und arrogant daherkamen für den verzweifelt denkenden Riesenkopf, doch wenn man aufmerksam schaute, mit Liebe sozusagen, sah man, dass sich Bens Körper mit einer unglaublichen Elastizität um Kens Kopf schlängelte, und so rollten und schlangen sich die beiden dahin, und am Ende sagten alle Beobachter einhellig, das sei der bisher beste Auftritt der Brüder gewesen, mündend in der Feststellung: Denken und Lieben, das sind zwei große Künstler!

Am Gattengatter

ein Beitrag zur Me-Too-Debatter

Der Gatte steht am Gatter,
singt eine öde Ode.
Die Gattin steht daneben,
langweilet sich zu Tode.
Sie sagt: Das ist mir eine Öde,
zu zweit ist sie genauso blöde.
Im weiten Weiler will ich weilen,
nicht in der Streusiedlung, der steilen.
Und geht vom steilen Gatter weg,
den Gatten schert das einen Dreck,
singt weiter seine öden Oden,
kratzt sich dabei am linken Hoden.
Die Gattin kratzt sich nun im Schritt.
Begatten nimmt einen halt mit.

 

La Li Berta – aus dem Leben des H.N.R. Lindner

Hubert Norbert Robert Lindner, besser bekannt als H.N.R. Lindner, ist ein in Paris lebender Sänger klassischer Musik, der ursprünglich aus dem Dorf Linden im oberbayrischen Voralpenland stammt. Kürzlich hatte er einen umjubelten Auftritt in Deutschland. Doch wer ist dieser H.N.R. Lindner eigentlich?

Fragt man die Leute in Linden nach ihm, so sagen sie: Ja mei, der Lindner Bert, unser Franzose! Der war schon immer ein komischer Vogel!
Der Lindner Bert, wie er in seiner Heimat genannt wird, ist als Bub mit dem Bus zum nächstgrößeren Dorf in die Schule gefahren. In dem Bus saß auch die Lindner Berta, die auch aus Linden war und ins nächstgrößere Dorf in die Schule gefahren ist. In Linden heißen sehr viele Menschen Lindner, sie schreiben sich so, wie man im Dorf sagt, und es ist in Linden ein Volkssport, zu diskutieren, ob man mit einem anderen Lindner verwandt ist oder nicht. Bert fragte seine Eltern, ob er mit Berta aus dem Schulbus verwandt ist, und sie verneinten, und so fragte er seine Oma, und die verneinte auch. Bert war enttäuscht, denn wenn er mit Berta verwandt wäre, wäre er ihr näher, dachte er. Und das war alles, was er wollte: Berta nahe sein, nicht nur im Schulbus. Aber Berta ignorierte ihn weitestgehend, sogar im Schulbus mied sie es, sich neben Bert zu setzen. Voller Sehnsucht nach Berta streifte Bert nach der Schule durch die Wälder um Linden. Um seine Sehnsucht zu besänftigen, fing er zu singen an, stundenlang. Nur beim Singen bin ich bei mir, ansonsten wäre das Leben für mich nicht lebenswert, sagte Lindner kürzlich in einem Interview, und diese Leidenschaft hat wohl damals in den Wäldern um Linden begonnen.

In Linden gibt es ein Tagungshaus nahe am Wald, und an diesem Tagungshaus schlenderte Bert an einem Tag gedankenverloren und singend vorbei, als dort gerade ein Musikprofessor tagte. Der Professor hörte Bert singen, lief zu ihm und nahm ihn anschließend gleich mit auf die Musikhochschule. Bert fühlte sich überrumpelt: Der plötzliche Abschied von Linden, von seinen Wäldern, und vor allem: der Abschied von Berta. Er sang doch nur wegen Berta. Sang er nur wegen Berta? In München gestaltete sich das neue Leben für Bert schwierig, für ihn, der immer nur in Linden und seinen Wäldern oder maximal in der Schule im Nachbardorf war. Gottseidank hatte er das Singen, das machte das Leben für ihn lebenswert.

Als er einmal gedankenverloren und summend in München die Barerstraße im Museumsviertel entlangging, klopfte ihm plötzlich jemand auf die Schulter.
Bert! sagte die Frau, die ihm auf die Schulter geklopft hatte.
Berta! sagte Bert.
Es war tatsächlich die Lindner Berta aus Linden, die aus dem Schulbus, mit der Bert nicht verwandt ist. Berta war in Begleitung eines Asiaten, der, obwohl er Asiate war, viel älter aussah als Berta.
Das ist Mister Li, sagte Berta, wir wollen in Kürze heiraten.
Bert schaute überfordert. Er wollte singen, aber es erschien ihm in der Situation nicht angebracht, und so schüttelte er sich kurz und unterdrückte seinen Singreflex.
Berta, I will go to Alte Pinakothek. Will you join me later? sagte Mister Li.
Berta gab ihm einen Kuss und nickte. Mister Li nickte Bert kurz zu und ging.
Bert fragte Berta: Du hier in München?
Ja, seit einiger Zeit. Ich habe in einer Bar gearbeitet, dort habe ich Mister Li kennengelernt.
Bert schaute in Richtung Alte Pinakothek, wohin Mister Li gegangen war.
Der hat Geld, sag ich dir, meinte Berta weiter, ohne Ende! In China ist es ihm zu dreckig, deshalb will er jetzt in München leben. Stell dir vor: Kürzlich war ich mit ihm in Linden, da hat er, als beim Sommerfest eine Menge Leute um ihn rumstanden, zum Chef des Brauchtumsvereins gesagt: It’s a beautiful village. Can I buy it? Da haben sie mich groß angeschaut, und ich hab gesagt: Er sagt, Linden ist ein schönes Dorf, er möchte es kaufen. Da haben sie geschimpft und haben gesagt, ich soll mich schleichen mit meinem blöden Chinesen. Das habe ich dann auch gemacht, und ich fahr da auch nicht mehr hin, zu diesen eingenähten Idioten!
Berta bebte vor Zorn, und Bert sah Abgründe, die wohl nur mit Musik überwunden werden können, gegen die sich Berta allerdings mit Mister Lis Geld absichern wollte. Bert ging davon, ohne ein Wort, ließ Berta stehen. Alles gefror in ihm, und nicht einmal Musik vermochte ihn aufzutauen.

Berts internationale Karriere als Sänger war zu diesem Zeitpunkt längst am Laufen, und er beschloss, München zu verlassen, die Stadt, in der die Lindner Berta mit Mister Li lebt, und nach Paris zu ziehen. Dort lebt er seit geraumer Zeit mit seinen zwei Möpsen. Sein Entschluss, nach Paris zu ziehen, sei damals wesentlich beeinflusst worden von Morrisseys Lied,

sagte Lindner kürzlich in einem Interview. Warum er sich zwei Möpse angeschafft hat? Die erinnern mich mit ihrer Atemnot immer daran, wie gesegnet ich bin, gut atmen zu können. Denn ohne Atmen kein Singen. Ohne Atmen kein Leben. Und Singen ist mein Leben.

Als er kürzlich in Deutschland war, bei seinem eingangs erwähnten umjubelten Auftritt, besuchte er vorher Linden. Er durchstreifte die Wälder, kam am Tagungshaus vorbei. Dort, wo alles begann. Im Dorf begegnete er Bertas Eltern, die ganz schwarz gekleidet waren. Erschrocken fragte er, was passiert sei.
Die Berta ist tot.
Wieso denn das?
Ihr Mann, der Chinese, hatte sich einen neuen BMW angeschafft und ist mit der Berta die Autobahn Richtung Garmisch entlanggeheizt. Unfall. Tot.
Kränze waren schon am Grab, mit Schleifen daran: Zum Gedenken an Li Berta, geborene Lindner.

Bei seinem anschließenden Auftritt sang Bert die Arie Lascia ch’io pianga. In dieser Arie wird die verlorene Freiheit, la libertà, beweint. Lindner jedoch beweinte, und das wusste nur er, die Li Berta, la Li Berta, seine Liebe aus dem Schulbus von Linden ins Nachbardorf, wo alles begann. Die Feuilletons schrieben nach seinem Auftritt: Lindners Gesang berührt ungemein, denn man hat das Gefühl, dass jedes Wort, das er singt, aus dem tiefsten Grund seines Herzens kommt. Und das ist doch das Höchste, das Kunst erreichen kann: dass sie uns in die tiefsten Tiefen unseres Lebens führt, dorthin, wo es lebenswert ist.

 

Live-Mitschnitt von H.N.R. Lindners Auftritt

Lass mich die Liebe erleben…

Zeit der Verwirrung – Zeit der neuen Möglichkeiten. Wenn es persönlich wird, gehen mir die Worte aus. Keine Konstrukte möglich, um über Umwege etwas auszudrücken. Nur ich und diese Welt, wie ich sie erlebe. Meine Mitmenschen als Spiegel, und je nachdem wie mutig ich bin, schaue ich in diesen Spiegel oder nicht.

Ich habe meine Bewegungsfähigkeit entdeckt, bin gerannt und gerannt. Davongerannt. Vor meiner Erstarrung. Vor meiner Hilflosigkeit. Vor meiner Angst. Nun stehe ich hier, auf der Wiese des späten Abends, und hinter den Bäumen geht der Mond auf. Hurra, Zeit zum Glücklichsein! Doch das Glück stellt sich höchstens auf intellektuelle Weise ein, nicht auf umfassende. Hänge ich mich im Intellekt fest, um mich vor dem Umfassenden zu drücken? Weiterrennen bringt nichts, obwohl es mich drängt, weiterzurennen, um nicht mehr festzuhängen. Der Hamster im Rad hängt auch fest. Rennen ist nicht die Lösung.

Josefine kommt über die Wiese gelaufen. Der Intellekt sagt: Das kann nicht sein, dass Josefine über die Wiese gelaufen kommt. Das ist der Plot eines schlechten Drehbuchs. Weil der Intellekt nicht will, dass Josefine über die Wiese gelaufen kommt. Weil der Intellekt die Erstarrung, die Hilflosigkeit, die Angst gewohnt ist und sich in ihr sicher fühlt. Aber das Umfassende nimmt wahr: Josefine kommt über die Wiese gelaufen.

Die Angst sagt, ruhig stehenzubleiben und Josefine auf mich zukommen zu lassen. Nur nicht zeigen, wie ich mich fühle. Nur keine Schwäche zeigen. Der Mut sagt, Josefine entgegenzulaufen und ihr zu zeigen, wie ich mich freue, dass sie kommt. Angst gegen Mut. Josefine und ich kennen uns sehr lange, sagt der Intellekt. Wir lernen uns jeden Tag neu kennen, sagt das Umfassende.

Plötzlich ist es mir scheißegal, meine Vorsichten, meine Angst vor Nähe: Ich laufe Josefine entgegen und breite meine Arme aus, und Josefine läuft mir entgegen und breitet ihre Arme aus und es fühlt sich umfassend an und der Intellekt hat nichts zu melden. Ich bin doch nur ein kleines Mädchen, das geliebt werden will, sagt Josefine, als wir uns erreicht haben und uns in den Armen liegen. Und ich ein kleiner Junge, der geliebt werden will, sage ich und merke, dass ich noch nie so geliebt habe wie in diesem Moment, so unbedarft und ohne die Angst, auf der der Intellekt seine Gedankengebäude errichtet.