Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Franz Vorderbrandner

Vorderbrandner sagt, in seiner Familie gebe es keine Tradition der Vornamen mit V, wie man von seinem Vornamen Valentin und dem seiner Schwester Veronika ableiten könnte. (Die ihre Töchter Valerie und Viktoria genannt hat.) Eher gebe es eine Tradition der Vornamen mit F, sagt Vorderbrandner, denn mein Vater hieß Felix, und mein Onkel, sein Zwillingsbruder, hieß Franz.

Felix und Franz, Söhne des Ferdinand Vorderbrandner, waren ein ungleiches Zwillingspaar. Felix, der ruhige, introvertierte, hatte einen traurigen und nachdenklichen Blick. Er zog sich in seine Werkstatt zurück und fertigte Dinge aus Metall, denn das hatte er lernen dürfen: Tröge, Gitter, Zäune, Tische, Stühle, Regale, aber auch maßstabgetreue Nachbildungen von Fahrzeugen, Häusern und Kirchen, und Skulpturen wie einen Reiter auf seinem Pferd. Es gab fast nichts, was er nicht aus Metall erschuf, und er war ständig am Schaffen, sodass seine Frau Eleonore, meine Mutter, sagt Vorderbrandner, über das Schaffen ihres Mannes klagte: Bei uns ist alles aus Metall! Während der Klagen seiner Frau trug Felix seinen traurigen und nachdenklichen Blick, um anschließend wieder in die Werkstatt zu gehen und weiterzuschaffen.

Felix war der tragische Teil der Zwillingsbrüder. Franz hingegen, der Jüngere, der gut zwei Stunden später aus dem Mutterbauch gekommen war, war eine Ausgeburt an Fröhlichkeit. Kam er in eine Runde, heiterte er sie mit einem Witz auf. Fiel ihm kein Witz ein, ließ er wenigstens einen lustigen Spruch von sich. Manchmal ging so ein Spruch auch zu Lasten seines Bruders Felix, wenn Franz etwa sagte:
Schaut meinen tragischen Bruder Felix an, wie er traurig und nachdenklich dreinschaut. Obwohl er Felix, der Glückliche, heißt. Gäbe es mich nicht, wäre der Name Vorderbrandner ein einziges Jammertal!
Felix nahm die Aussagen seines Bruders schweigend zur Kenntnis und ging, was Franz irritierte. Aber er lächelte über seine Irritation hinweg. So wie er über alles hinweglächelte. Sein Leben schien ein einziges Lächeln zu sein.

Mir imponierte am meisten, sagt Vorderbrandner, dass Franz viel besser Fußballspielen konnte als mein Vater Felix. Das machte ihn für mich zum Star, zum Licht, und meinen Vater zum Verlierer, zum Schatten, der alleine in der dunklen Werkstatt werkt, während Franz sich von den anderen feiern lässt.

Plötzlich und unerwartet starb Felix, nicht mehr jung aber auch noch nicht alt. Das hat Franz tief getroffen. Das Hinweglächeln über alles fiel ihm fortan schwerer. Wenn Franz und ich uns begegneten, sagt Vorderbrandner, waren regelmäßig Tränen in seinen Augen. Franz! sagte ich und wollte ihn in meine Arme nehmen. Aber er ging weg und kam nach einer Weile lächelnd wieder.

Die letzten drei Jahre seines Lebens – Felix, mein Vater, war schon über zwanzig Jahre tot – hat Franz im Pflegeheim verbracht. Er schaffte es nicht mehr, hinwegzulächeln. Er saß da und schaute ins Leere. Als ich ihn einmal mit Marga, seiner Frau, besuchte, fragte sie ihn:
Erkennst du ihn, Franz, den Valentin, den Sohn vom Felix?
Natürlich! sagte Franz ungehalten: Natürlich!
Für einen Moment glaubte ich in seinem Blick etwas zu erkennen, das jenseits seiner Leere und seines Lächelns war.

Vergangenen Sonntag, sagt Vorderbrander, ist Franz gestorben.

Morgens Pro, abends Mus, dazwischen Tes, Tan und Tis

Sein Morgen und sein Abend ist klar strukturiert, und im Prinzip auch der Tag dazwischen. Doch dazu später.

Sein Morgen beginnt mit einem Pro. Er schaut in den Spiegel und ist pro irgendetwas. Es ist egal wofür, nur pro etwas, das ist ihm wichtig, niemals kontra. Er macht eine Ausnahme: Pro sich selbst ist er nie, das verstößt gegen seine Ethik, gegen seine Religion, wenn er auch nicht explizit kontra sich selbst ist. Aber er sagt nie morgens zu seinem Spiegelbild: Heute bin ich pro mich selbst.

Seine Abende sind konkreter: Da gibt es immer Mus. Apfel- oder Pflaumenmus, aber auch Exotischeres wie Kartoffel- oder Erbsenmus, ja, es gibt sogar Fleischmus, was andere als Hackfleisch bezeichnen würden.

Nun zu seinem Tag zwischen Morgen und Abend, der mit Tes, Tan und Tis gefüllt ist, und zwar immer in dieser Reihenfolge. Tes bedeutet für ihn die Beschäftigung mit dem Termersetzungssystem, ein formales berechnungsmodell der Theoretischen Informatik, aber auch das Experimentieren mit Tetraethylsilon. Wenn noch Zeit bleibt, spielt er The Elder Scrolls.

Dann kommt Tan dran, wobei er sich dann mit der Winkelfunktion Tangens, manchmal aber auch mit dem ehemaligen kleinen Lehnsfürstentum desselben Namens beschäftigt.

Tis schließlich ist sein härtester Tagespunkt. Es handelt sich hierbei um das Trauma-Institut Süddeutschland. Dieser Beschäftigungspunkt bringt sein Weltbild gehörig ins Wanken, erfährt er doch hier unter anderem, dass sein großes Vorbild Martin Luther nur deshalb seine Thesen in die Welt setzte, weil er schwer traumatisiert war.

Eines Morgens meldet sich sein Therapeut von Tis bei ihm, als er gerade vom Spiegel kommt und begonen hat, sich mit Tes zu beschäftigen. Er ist noch längst nicht bereit für Tan, geschweige den für Tis. Der Anruf des Therapeuten bringt seine Ordnung in völlige Unordnung und ihn in eine schwere Krise. Sein Therapeut besteht aber darauf, dass es heute sinnvoll sei, sich zuerst mit Tis zu beschäftigen, sich vielleicht den ganzen Tag bis zum abendlichen Mus mit Tis zu beschäftigen, und es leuchtet ihm ein, dass es diese Möglichkeiten grundsätzlich gibt: Statt TesTanTis TisTesTan oder TisTanTes zu machen oder nur Tis zu machen, er kann das intellektuell begreifen, doch es ist ihm unvorstellbar, das auch zu tun, es überfordert ihm emotional derart, dass er den Vorschlag des Therapeuten aufs Vehementeste ablehnt, schwebt doch über all seinem Tun ProTesTanTisMus, und zwar genau in dieser linearen Reihenfolge.

Der Therapeut meint, diese zwanghafte Linearität sei eine Verdrängung der darunterliegenden Traumata, mit der nun Schluss sein müsse.

Alles ist ganz anders geworden

Alles ist ganz anders geworden, damals: Ich muss sechs Jahre alt gewesen sein, ja, ich glaube, ich ging schon zur Schule, alles war ohnehin schon anders geworden, als meine Mutter begann, ihre Tage im Bett zu verbringen, im abgedunkelten Schlafzimmer. Ich vernahm nur ein Ächzen und Klagen und Stöhnen, wenn mein Vater zu ihr ins Zimmer ging und dabei die Tür kurz öffnete. Wenn mein Vater wieder aus dem Zimmer kam, schüttelte er seinen Kopf und streichelte mir im Vorbeigehen kurz den meinigen. Starke Kopfschmerzen, war die Erklärung für die Bettlägrigkeit meiner Mutter: Migräneanfälle.

Eines Tages, meine Mutter lag wieder im Bett im abgedunkelten Zimmer, stritt meine sechs Jahre ältere Schwester mit meinem Vater, weil er sie zur Küchenarbeit einspannen wollte aber sie keine Lust dazu hatte. Sie rannte stattdessen ins Wohnzimmer und legte eine Schallplatte auf, ja, jetzt erinnere ich mich genau, wie sie die Platte aus der Hülle nahm und auf den Teller legte. Die Musik erklang, während mein Vater verärgert aus der Küche nach ihr rief.

Icn nutzte diese Unruhe, um unauffällig abzuhauen und zu meiner Mutter ins Schlafzimmer zu schleichen. Leise und vorsichtig öffnete ich die Tür. Alles war dunkel. Ich hörte meine Mutter atmen. Sie schlief wahrscheinlich. Jedenfalls hatte sie mich nicht bemerkt. Oder sie war so erschöpft, dass sie reglos liegen blieb, obwohl sie mich bemerkt hatte. Ich kniete mich hin und legte meinen Kopf zu ihr aufs Bett.

Durch die Wand hörte ich meinen Vater und meine Schwester schreien. Dann wurde die Musik ganz laut. Meine Schwester hatte sie wohl aus Trotz hochgedreht. Die Musik übertönte nun alles. Sie drang in mein Herz, das ohnehin schon heftig pochte, weil ich unerlaubt zu meiner kranken Mutter ans Bett geschlichen war. Meine Schwester hatte den Soundtrack zu meinen Gefühlen aufgelegt:

Ich kniete am Bett und beschloss, meine Mutter für immer zu lieben, sie noch mehr zu lieben als bisher. Sie zu retten aus ihrer Krankheit. Ich blickte durch die Dunkelheit auf sie und glaubte, sie zu besitzen, ihr so nahe zu sein wie nie zuvor. Vorsichtig berührte ich mit meiner Hand die ihre. Ja, es war wahrhaftig meine Mutter, die ich in der Hand hatte. Dann schlich ich so vorsichtig aus dem dunklen Zimmer, wie ich hineingeschlichen war. Ich hörte nur die Musik aus dem Wohnzimmer. Kein Laut von meinem Vater und meiner Schwester. Ich schlich weiter den Flur entlang ins Freie.

Es regnete. Aber es machte mir nichts. Ich fühlte mich stark, so stark, dass ich meine Mutter tragen konnte. Ich ging mit ihr auf den Schultern durch den Regen, immer weiter. Immer weiter.

DJ Sister

Über Fall und Überfall

In der Stadt, über die zu berichten ist, gibt es Fälle und Überfälle. Über die Fälle berichtet, und das ist kein Zufall, ein gewisser Faller, über die Überfälle ein gewisser Überfaller. Viele glauben zunächst, Faller sei eine Art Allgemeinberichterstatter und Überfaller eine Art Spezialberichterstatter. Es ist jedoch genau umgekehrt: In der Stadt gibt es nämlich kaum Fälle, aber viele Überfälle. Die Stadt ist auf sehr flachem Gelände erbaut und die Häuser sind in Bungalow-Bauweise errichtet, wodurch es kaum Möglichkeiten für Fälle gibt. Andererseits sind die Bewohner der Stadt sehr offen und so auch ihre Häuser, wodurch es viele Gelegenheiten zu Überfällen gibt, die auch genutzt werden. Überfaller ist also ein vielbeschäftigter Berichterstatter, während Faller nur in äußerst seltenen Fällen herangezogen werden muss. Die Stadtverwaltung hat schon oft versucht, die Bewohner zu mehr Verschlossenheit zu animieren und ihre Häuser in Abwesenheit zu verschließen, um Überfälle zu minimieren, aber vergeblich. die Bewohner sind sehr stolz auf ihre Offenheit und lassen deshalb konsequenterweise in Abwesenheit ihre Häuser offen. Die Stadt wird von manchen Offen genannt, aber bekannt ist sie unter dem Namen Überfall.

Überfall ist keine sehr große Stadt, aber trotzdem erstreckt sie sich weit in die Ebene, weil es nur ebenerdige Bungalows gibt. Überfall war die erste Besiedelung in der Ebene. Vor nicht allzuferner Zeit verließen viele Bewohner die Stadt, weil sie der vielen Überfälle überdrüssig waren. Sie gründeten eine neue Stadt am Rand der Ebene, auf steilem und felsigem Gelände, um gut vor Überfällen geschützt zu sein. Außerdem beschloss die Stadtverwaltung, dass Häuser auf Stelzen gebaut werden müssen, um noch schwieriger zugänglich zu sein, und in Abwesenheit immer verriegelt und verschlossen sein müssen. Viele Bewohner der Stelzenhäuser im steilen und felsigen Gelände ließen außerdem Panzerglas oder Gitter vor den Fenstern anbringen, um Überfälle nahezu unmöglich zu machen. Dieses Verschließen wirkte sich auf die Bewohner der neuen Stadt aus, die als sehr verschlossen gelten, sehr im Gegensatz zur Offenheit der Bewohner von Überfall. In der neuen Stadt mit ihren Stelzenhäusern auf steilem, felsigem Gelände gibt es also kaum Überfälle, aber viele Fälle. Entweder fallen die Bewohner im steilen und felsigen Gelände in die Tiefe, oder sie vergessen, dass sie in Stelzenhäusern wohnen und fallen beim aufwendigen Verschließen und Verlassen ihrer Häuser. Die neue Stadt wird Fall genannt.

In Fall gibt es viel über Fälle zu berichten, was auch dort ein gewisser Faller übernimmt, ein Verwandter des Fallers aus Überfall, der im Gegensatz zu seinem Kollegen aus Überfall aber vielbeschäftigt ist. Komplementär dazu ist ein gewisser Überfaller, der in Fall über Überfälle berichtet, chronisch unterbeschäftigt.

Über Überfaller, der in Fall über Überfälle berichtet, gibt es jedoch zu berichten, dass er vor kurzem aus Fall ausgewiesen und nach Überfall abgeschoben wurde. Der Bürgerrat von Fall hatte dies verlangt und durchgesetzt, nachdem behauptet worden war, Überfaller verursache durch seine Berichterstattung erst die Überfälle in Fall, ohne seine Berichterstattung wäre Fall komplett überfallfrei.

In Überfall nahm man die Abschiebung Überfallers aus Fall nur am Rande zur Kenntnis, kämpft man dort doch mit neuen bisher unbekannten Problemen: Man hat einige höhere Häuser zwischen die Bungalows gebaut, wodurch sich nun viel mehr Fälle in Überfall ereignen als bisher. Die Fälle ereignen sich hauptsächlich bei Überfällen, da die Überfaller es nicht gewohnt sind, dass sie in Überfall bei Überfällen fallen können. Faller, der in Überfall über Fälle berichtet, ist nun vielbeschäftigt, und Überfaller, nämlich der, der aus Fall abeschoben wurde, hat in Überfall ein neues Betätigungsfeld: Er berichtet über die Überfälle bei den Fällen.

Ein Tankwart namens Dankwart

Es überraschte mich, als mich an der Tankstelle ein Mensch fragte, ob er mein Auto betanken könne. Denn heutzutage trifft man selbst an Kassen immer seltener Menschen, die einen fragen, ob sie Geld kassieren können. Man kommuniziert und handelt mehr und mehr mit elektronischen Maschinen.

Es war also eine Begegnung mit Seltenheitswert, als mich der Mensch an der Tankstelle fragte, ob er mein Auto betanken könne. Ich bejahte, und während er den Stutzen in die Tanköffnung beförderte und der Diesel zu fließen begann, sagte ich zu ihm:

Sie sind also Tankwart?

Ja ich bin Tankwart wie Theodor und heiße Dankwart wie Dora.

Ich hatte es mit einem auskunftsfreudigen Tankwart zu tun, der mir, ohne gefragt zu werden, seinen Vornamen nannte. Seinen Vornamen, der natürlich originell war, denn als Tankwart Dankwart zu heißen – das ist etwas, was mich aufmerksam machte.

Dankwart, der Tankwart, bemerkte meine Aufmerksamkeit und referierte weiter:

Ich heiße Dankwart Dobler, obwohl mein Vater wollte, dass ich Dankwart Danninger heiße.

Wieso wollte ihr Vater, dass sie Dankwart Danninger heißen?

Er hätte mich dann nach meinen Initialen DaDa genannt. Mein Vater ist großer Anhänger des Dadaismus.

Und wieso heißen Sie dann nicht Dankwart Danninger?

Weil meine Mutter es nicht wollte. Meine Mutter, Dorothea Dobler, geborene Danninger, ist Traditionalist und kann mit dem Dadaismus meines Vaters nichts anfangen. Sie wollte, dass mein Vater, Dagobert Dobler, und sie heiraten, und sie – ganz klassisch – den Namen meines Vaters annimmt. Mein Vater stimmte einer Heirat – ganz undadaistisch – zu, wollte aber den Namen meiner Mutter annehmen, um Dagobert Danninger zu heißen und sich DaDa nennen zu können. Das war für meine Mutter aber außerhalb ihres Möglichkeitsraums. So gab mein Vater nach und meine Eltern heißen Dagobert und Dorothea Dobler.

Ich war verwirrt von DaDa, DaDo und DoDa. Als ich wieder klarer wurde, dachte ich mir, dass sich Dorothea Dobler DoDo nennen könnte. Aber wenn Dago Dobler seine Doro Dodo nennen würde, wäre das sicher eine große Belastung für ihre Ehe. Und außerdem: Wer will sich schon nach einem ausgestorbenen Vogel benennen oder benannt werden, dem seine Dummheit sein Leben kostete. Da wäre es schon besser, wenn Dagobert Dobler Dagobert Danninger hieße und sich DaDa nennen könnte.

Der Tank war längst gefüllt, als Dankwart Dobler, vaterlicherseits gewollter Danninger, der Tankwart, mich fragte:

Und wer sind Sie?

Ich? Ich heiße Emil. Emil Hinterstoisser.

Emil Hinterstoisser? Der berühmte Schriftsteller?

Ich? Berühmt?

Natürlich! Könnten Sie mir ein paar Zeilen aufschreiben?

Dankwart Dobler gab mir einen kleinen Zettel, auf den ich ganz schlicht schrieb:

ein Tankwart namens Dankwart
hat mein Auto betankt
und ich habe mich
bei Dankwart dem Tankwart
dafür bedankt

Ich war schon in den Wagen gestiegen, als mir Dankwart nachrief:
Mein Schwester hat einen Doppelnamen – sie heißt Dolores-Daisy Dobler. Vielleicht können Sie das nächste Mal ein paar Zeilen für sie schreiben!

Ttiche

Schon die Gattung der Gele sorgt für Verwirrung, werden doch in ihr unterschiedlichste Arten der Fauna wie Egel, Igel und Vogel zusammengefasst. Doch bei der Gattung der Tiche ist die Verwirrung noch größer, denn hier werden Arten aus Fauna und Flora unter einen Hut gebracht, Arten wie Sittich, Lattich und Rettich.

Strenggenommen handelt es sich hierbei nicht um die Gattung der Tiche, sondern der Ttiche. Die Schreibweise mit tt am Wortanfang ist hierbei zwar eine ungewöhnliche, aber die korrekte. Nachdem wir also die Semantik der Gattung an sich geklärt haben, können wir uns nun den einzelnen Arten zuwenden: dem Sittich, dem Lattich und dem Rettich. Hier fällt sofort auf, dass die Vorsilben si, la und re wie Ausschnitte aus der solmisatorischen Tonleiter do re mi fa so la ti do erscheinen. Und in der Tat sind die Ttiche in dieser solmisatorischen Ordnung klassifiziert. Der Sittich ist in dieser Ordnung eine artfremde Art, doch dem Lattich und dem Rettich sind noch die Arten Dottich, Mittich, Fattich, Sottich und Tittich hinzuzufügen.

Womit wir zu der Herkunft der einzelnen Ttich-Arten kommen, die sich aus den bisherigen Überlegungen leicht feststellen lässt: Der Dottich kommt aus Dortmund, der Rettich aus Recklinghausen, der Mittich aus Minden, der Sottich aus Soest und der Lattich aus Landshut. Es fällt auf, dass eine große Konzentration der Ttiche im Nordrhein-Westfälischen herrscht, einzig der Lattich kommt aus dem bayrischen Landshut. Eine große Ausnahme bildet der Fattich, der nicht aus Deutschland, sondern aus der Türkei kommt, wo er unter der Schreibweise Fatih bekannt ist.

Übersichtstabelle
Herkunft der Ttiche

DO  Dortmund        Dottich
RE  Recklinghausen  Rettich
MI  Minden          Mittich
SO  Soest           Sottich
LA  Landshut        Lattich

FA  Türkei          Fatih

Die Herkunft des Tittich hingegen ist nicht geklärt und muss noch erforscht werden. Viele Ttichologen schlagen deshalb vor, den Tittich als artfremde Art zu klassifizieren und das solmisatorische Klassifizierungssystem von do re mi fa so la ti do zu do re mi fa so la si do zu ändern, womit der Sittich zu einer originären Art der Ttiche hochklassifiziert werden würde. Der Sittich, der im übrigen aus Siegen kommt, einer Stadt, die ebenfalls in Nordrhein-Westfalen liegt.

Sehr kontrovers ist die Diskussion über eine weitere artfremde Art der Ttiche, über den aus Bochum kommenden Bottich, da er als Ding weder der Fauna noch der Flora zugerechnet werden kann, was unter Ttichologen zu hitzigen Debatten führte, ob er unter der Gattung der Ttiche geführt werden kann.

Königliches Krippenspiel à la Bach

Dieses Jahr an Weihnachten hörte ich zum ersten Mal die zweite Orchestersuite von Johann Sebastian Bach in voller Länge. Nicht nur das berühmte Menuett und die berühmte Badinerie am Ende, sondern die Ouvertüre am Anfang, das Rondeau, die Sarabande, die Bourrée und die Polonaise zur Mitte und am Ende das Menuett und die Badinerie. Dabei wurde mir klar, dass ich einen Soundtrack für die Weihnachtszeit in meiner Kindheit gefunden hatte.

Als Kind war ich ein begeisterter Krippenspieler. Am ersten Sonntag des Advent stellte ich die Krippe auf. Am Rand des Brettes steckte ich Tannenzweige in vorgebohrte Löcher, um einen Tannenwald rund um die Krippe zu simulieren. Eine alpenländische Krippe. In den Stall stellte ich den Ochsen mit seiner Futterkrippe. Nach und nach kamen die HirtInnen mit ihren Schafen vorbei. Eine ordinäre Landszene, die sich über die ganze Adventszeit hinzog. Eine lange Ouvertüre, wie in Bachs Suite. Ich versuchte sie durch leichte Änderungen im Arrangement zu verkürzen.

Zwei oder drei Tage vor Weihnachten kreuzten dann Maria und Josef mit ihrem Esel auf, um das Lager für die Geburt ihres Sohnes zu beziehen. Jetzt wurde es gemütlich im Tannenhain. Die HirtInnen holten Holz und machten Feuer, während der Ochs, trotz Gesellschaft des Esels, seine Futterkrippe hergeben musste. Josef machte daraus ein Bettchen für das zu gebärende Kind. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass es woanders gemütlicher gewesen wäre für Maria, die Gebärende. Das Rondeau der Suite untermalt diese Gemütlichkeit.

Dann, endlich: Heiliger Abend, dessen feierlichen Charakter die edle und ernste Sarabande unterstreicht. Sie wiegt das Neugeborene in den Schlaf, während die hirtige Krippengesellschaft zu den Klängen der Bourrée aus dem Feiern nicht herauskommt. Zu Sylvester wird dann sogar mit einer Polonaise aufgewartet, und der eine Woche alte Jesus wackelt schon wacker mit. Man wollte nicht aufhören zu feiern, aber damit sich der Kleine beruhigt, wird er zum Menuett in den Schlaf gewiegt.

Inmitten all dieser Feierlichkeiten fragte ich mich spätestens im polonaisschen Sylvestertrubel: Wo sind die heiligen KönigInnen? Wieso brauchen sie bis zum sechsten Januar, um den Stern zu deuten? So weise können sie nicht sein, wenn sie die ganzen Feierlichkeiten verpassen. Da waren die HirtInnen schlauer. Das Menuett machte mich melancholisch. Aber es half nicht: Erst am sechsten Januar kamen sie daher mit ihrem Dromedar, um der ganzen Gesellschaft eine würdevolle Krone aufzusetzen, umtermalt mit der wirbelnden Badinerie. Es war wie eine letzte Ekstase. Denn kaum war der letzte Klang verklungen, sagten sie schon: Bald kommt Herodes, der Kindermörder, um die Ecke.

Das ist die stöhnste Zeit im Jahr

Dieses Jahr kam der Schnee bereits im Advent, ganz am Anfang des Dezembers. Er kam nicht leicht und leis und weiß, sondern schwer und laut und schmutzig. Wie eine Sturzflut kam er herab und beschwerte die Welt.

Als die Sturzflut endete, ging ich am blassen Tag in den Tann, wo die Bäume unter der nassen Last zusammenzubrechen drohten. Ich spürte bereits das schmelzende Wasser, das sich auf die Welt ergießen würde.

Als es dunkelte, ging ich zurück in der Stube, Dort wurde es mir von den brennenden Kerzen unerträglich heiß. Wir rückten unsere schwitzenden Körper auseinander. Ich öffnete das Fenster und ließ das kalte Nass herein. Auch der ferne Glockenschlag kam herein. Du stöhntest laut und sagtest: Mach das Fenster zu – dieser Klang macht mich bang.