Archiv der Kategorie: Wisuelles

Wo alle Worte zuwenig wären, da hilft vielleicht Wisuelles.

Das Au-Tor

und die Torheit des Autors

Ich lief durch die Gegend und überlegte, was ich aufschreiben soll. Soll ich aufschreiben, was ich erlebe, oder soll ich erleben, was ich aufschreiben will?

Völlig in diese Gedanken versunken stieß ich gegen ein Tor.
Au! rief das Tor, du hast mir weh getan!
Als ich wieder zu mir kam, sah ich die Beule im Tor und sagte zu ihm: Au, das hat weh getan. Du hast sicher Schmerzen. Und da ich nicht wusste, ob das Tor weiß, was Schmerzen sind, sagte ich weiter: Du bist jetzt ein Au-Tor.

Und du bist ein Tor, dass du einfach so gegen mich rennst, erwiderte das Au-Tor. Deine Torheit stinkt zum Himmel!
Nein. Ich bin ein Autor, entgegnete ich, auf der Suche nach etwas zum Schreiben. Und selbst wenn ich ein Tor bin – schon Erasmus von Rotterdam schrieb: ein Lob der Torheit!

Das Au-Tor schien mich nicht zu verstehen, jammerte und klagte stattdessen.
Kann ich dir helfen, Au-Tor, deine Schmerzen zu lindern?
Ja, sagte das Au-Tor. Du kannst ein Werkzeug holen, um meine Beule auszuklopfen.

Auf der Suche nach einem Werkzeug, um die Beule des Au-Tors auszuklopfen, fand ich ein Mark-Stück. Da fiel mir wieder ein, was ich aufschreiben wollte: Ich wollte etwas über das Gesichtsbuch-Unternehmen des Mark Zuckerberg schreiben. Bevor ich jedoch dazu Weiteres schreibe, will ich mich diesem Thema zunächst nur bildlich nähern, da ich jetzt die Beule des Au-Tors ausklopfen werde:

Abb 1: Mark

Abb 1: Mark

Abb 2: Zuckerberg

Abb 2: Zuckerberg

 

In Salzburg stehen zu viele Kirchen

In Salzburg stehen zu viele Kirchen

Etwas trieb mich hierher, obwohl ich Grübeldinger seit Jahren nicht gesehen habe. Grübeldingers Bruder hat mich angerufen, und ich habe daraufhin den nächsten Zug nach Salzburg genommen.

Grübeldinger hat immer gesagt, in Salzburg stehen zu viele Kirchen. Oben auf dem Mönchsberg, den er fast täglich beschritten hat, hat er sie gezählt, immer wieder, die Salzburger Kirchen. Er hat gesagt: Ich kann einen Gott, der in diesen Kirchen wohnt, nicht lieben. Aber ich bin gezwungen, diesen Gott zu lieben, der in diesen Kirchen wohnt. Etwas in mir zwingt mich, diesen Gott zu lieben. Eines Tages werde ich es nicht mehr aushalten, diesen Gott zu lieben, dann werde ich mich von hier, vom Mönchsberg, auf die Kirchen stürzen. Ich sagte ihm, er solle öfter zur Richterhöhe gehen, auf die andere Seite des Mönchsbergs, um von dort nach Süden zu blicken, raus aus der Stadt. Das geht nicht, sagte Grübeldinger, denn wenn er nach Süden blickt, dann sieht er die Schlösser, die sich die prunksüchtigen Erzbischöfe gebaut haben. Einmal sei er auf die Richterhöhe gegangen, und als er von dort Schloss Hellbrunn erblickte, hat er einen Wutanfall bekommen und laut zu schreien begonnen. Hellbrunn, sagte er, sei der Gipfel der Heuchelei, wodurch sich die Erzbischöfe schließlich verraten hätten. Denn in den Kirchen von Gott zu predigen, dem sich jeder zu unterwerfen habe, und in Hellbrunn den weltlichen Freuden zu frönen, das hätte ihnen das Volk nicht mehr abgenommen, sagte Grübeldinger, und das Volk hätte zu zweifeln begonnen, ob es an diesen Gott glauben soll, denn das Volk hat erkannt, dass dieser Gott nur vorgeschoben war, um es ruhig zu halten. Doch das Volk heute, sagte Grübeldinger, ist auch nicht viel gescheiter, nur dass die Mächtigen heute nicht mehr Erzbischöfe heißen, und dass sie den Gott, von dem sie sprechen, nicht mehr Gott nennen.

In jedem Fall, sagte Grübeldinger, bin ich seit diesem Wutanfall nicht mehr auf die Richterhöhe gegangen und beabsichtige auch nicht, es noch einmal zu tun. Stattdessen versuche ich seitdem, so nahe wie möglich an der stadtzugewandten Seite des Mönchsbergs zu spazieren. Ich versuche, bei diesen Spaziergängen immer wenigstens einen der vielen Kirchtürme zu sehen, denn so sehr ich die Kirchen auch hasse, in denen der Gott wohnt, den ich so hasse, weil ich dabei an die Erzbischöfe denken muss, so beruhigen mich andererseits diese Kirchen auch, denn hier bin ich geboren, und ich kenne nichts anderes als diese Kirchen, sagte Grübeldinger. So sehr sie ihn auch einengen, so sehr benötige er sie. Neulich habe er sich oben am Mönchsberg durch Bäume und Gebüsch geschlichen und habe eine Stelle entdeckt, wo er in die Tiefe blicken konnte zum St.-Peters-Friedhof. Er sei ganz ruhig gewesen, dort oben, beim Blick in diese Tiefe, habe aber trotzdem überlegt, ob dies der Moment sei, um in die Tiefe zu springen. Aber etwas zwang mich, es nicht zu tun, sagte er.

Ich blicke hinauf zur steilen Felswand und überlege, wo Grübeldinger wohl gestanden hat. Auch ich bin, wie Grübeldinger, in Salzburg geboren, doch ich bin schon lange weggezogen. Waren es die vielen Kirchen, die mich veranlassten wegzuziehen? Ich sagte Grübeldinger, er solle doch wegziehen, zumindest für eine Weile, um etwas Abstand von den Kirchen zu bekommen. Oder mich in München besuchen. Grübeldinger sagte, in München seien die Kirchen noch viel schlimmer, weil sie sich mehr verteilten als hier in Salzburg und die ganze Gegend weitläufig infiltrierten. Hier in Salzburg hingegen stünden sie konzentriert, eingezwängt zwischen Mönchsberg und Salzach. Hier in Salzburg könne er die Wesensart der Kirchen besser studieren, durch ihre Eingezwängtheit. Hier könne er den Gott, den die Erzbischöfe geschaffen haben, besser studieren, da der Gott hier gefangen sei in seiner eigenen Prunksucht. Ich sagte Grübeldinger, er solle doch einmal über die Salzach gehen und am anderen Ufer auf den Kapuzinerberg gehen, um mit etwas Abstand auf die Stadt und ihre Kirchen zu blicken. Grübeldinger erwiderte, das komme für ihn nicht in Frage, denn er wolle in Zukunft immer so nahe wie möglich an der stadtzugewandten Seite des Mönchsbergs spazieren, denn nur so könne er die Kirchen durchdringen, könne diesen Gott begreifen, der von den Erzbischöfen geschaffen wurde. Ich habe Angst vor diesen steilen stadtzugewandten Schluchten, sagte Grübeldinger. Er sei sicher, dass nur hier, in diesen dunklen Schluchten, die Erzbischöfe diesen Gott erschaffen konnten, während sie selbst, die Erzbischöfe, aus diesen dunklen Schluchten nach Hellbrunn geflüchtet seien, weil dieses dunkle Leben in diesen Schluchten nicht zu ertragen sei, sagte Grübeldinger. Deshalb spaziere er jeden Tag auf den Mönchsberg, um vor diesen dunklen Schluchten zu fliehen, aber dennoch gehe er immer ganz nah an diesen dunklen Schluchten entlang. Etwas zwinge ihn, dies zu tun. Zur Richterhöhe könne er nicht gehen, denn dort sieht er Hellbrunn, und das sei noch viel schlimmer als die Kirchen zu sehen. Der Anblick von Hellbrunn beunruhigt mich, während der Anblick der Kirchen mich beruhigt, sagte Grübeldinger.

Ich hatte Grübeldinger lange nicht gesehen, jahrelang, weil ich genug hatte von seinem Kirchenwahnsinn. Für Grübeldinger gab es nichts anderes als die Salzburger Kirchen, und als ich ihm noch einmal vorschlug, er solle die Salzach überqueren, auf den Kapuzinerberg gehen und von dort, mit etwas Abstand, Salzburg und seine Kirchen betrachten, sagte er, das würde er nicht aushalten, die Stadt und ihre Kirchen in der Totalen zu sehen, genauso wenig, wie er es aushält, von der Richterhöhe Hellbrunn zu sehen. Die Stadt vom Kapuzinerberg zu sehen würde ihn sicher sehr beunruhigen, da sei er sich sicher, während es ihn beruhigt, die Stadt und die Kirchen von oberhalb der stadtzugewandten Schluchten des Mönchsbergs zu sehen, denn hier sei er den Göttern nahe, mit denen die Erzbischöfe die Stadt infiltriert hätten. Diese Götter seien sein Leben und sein Tod zugleich.

Grübeldingers Bruder sagt, dass Grübeldinger in letzter Zeit nicht mehr so oft auf den Mönchsberg gegangen sei, und dass es daher völlig absurd sei, dass er sich jetzt vom Mönchsberg in den St.-Peters-Friedhof gestürzt hat, jetzt, wo er nicht mehr so oft auf den Mönchsberg gegangen sei wie in all den Jahren zuvor.

Ich weiß nicht, wieso ich gekommen bin. Ich habe Grübeldinger seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich habe ein Taxi genommen und bin vom Bahnhof sofort zum St.-Peters-Friedhof gefahren, wo Grübeldingers Bruder auf mich gewartet hat. Ich stehe inmitten der Gräber, blicke hinauf zur steilen Felswand und stelle mir vor, wie Grübeldinger sich in den St.-Peters-Friedhof gestürzt hat, umgeben von den Kirchen seiner Götter.

Ausflug aufs Land (München-Pasing)

Emil, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, möchte der Enge seiner städtischen Bleibe entfliehen und für ein paar Tage aufs Land fahren. Von einem werten Kollegen hat er gehört, dass zu Pasing, westlich der Stadt gelegen, vor längerer Zeit ein Architekt eine geschmackvolle Villensiedlung im Grünen errichten ließ. Emil fährt mit der Bahn nach Pasing. Dort angekommen, verlässt er den Bahnhof Richtung Norden und findet sich in der August-Exter-Straße wieder. Hier muss es sein! Denn so hieß er, der Architekt, der hier auf grünem Land die Villen plante und errichten ließ: August Exter. Emil fühlt sich oft verbunden mit Menschen, nach denen Straßen und Plätze benannt werden. Zu oft, findet er, kommt die Würdigung bedeutender Menschen zu kurz, im Allgemeinen wie im Besonderen.

Emil geht die August-Exter-Straße entlang und sieht ein paar durchaus prächtige Gebäude. Doch insgesamt ist es ihm zu geschäftig, als dass herrschaftliche und erhabene Gefühle aufkommen könnten. Er will die Straße überqueren und wird dabei fast von einem schnöden Omnibus überfahren, der hier auch noch durchfährt. Hier will er nicht wohnen. Das ist kein landschaftliches Wohnen, das er sich vorstellt. Er beschließt, auf die Suche nach ruhiger gelegenen Villen zu gehen. Er sieht einen Herrn mit Hut und Spazierstock aus einer Seitenstraße spazieren, dessen Noblesse ihm geeignet erscheint, ihn für einen Villenbesitzer zu halten. „Verzeihung, mein Herr: Ich bin auf der Suche nach einer ruhigen Villa im Grünen; einer Villa, in der selbst der gesegnete Herr Exter mit seiner anvertrauten Gattin Luise gerne gewohnt hätte.“ Emil präsentiert stolz das Wissen über die Extersche Familie, das er sich angeeignet hat. „Da lang ist der Luisengarten, wenn Sie den meinen“, sagt der etwas verwundert dreinblickende Herr und zeigt auf die Seitenstraße, aus der er gerade gekommen ist. Emil geht die Seitenstraße entlang: Luisengarten, das ist gut – sicher benannt nach der Gattin des Herrn Exter.

Der Luisengarten

Der Luisengarten

Emil kommt an eine bayrische Wirtschaft, den Luisengarten. Da es noch warm ist, lässt er sich unter der Kastanie nieder. Er sitzt da und träumt davon, mit August Exter und Luise am Tisch zu sitzen und um die Hand einer der drei Exter-Töchter anzuhalten: Eva, Gabriele, Klara – eine schöne als die andere in seinem Kopf. Welche soll er nur nehmen? August Exter ist schon lange tot. Seine Frau auch. Seine Töchter noch nicht so lange, aber tot sind sie auch. Doch Emil lässt sich nicht beirren: Er will eine Villa finden, dort wohnen und von den schönen Exter-Töchtern träumen. Er fragt den Wirt, wo es denn hier eine von Exter erbaute Villa gebe, die ruhig und im Grünen liegt. Er, der Wirt, könne ihm doch sicher helfen, als Besitzer einer Wirtschaft, die nach der hochgeschätzten Luise Exter benannt ist. Der Wirt schweigt, sieht Emil prüfend an, meint dann: „Gehen Sie die Straße weiter, da kommen Sie an den Nymphenburger Kanal. Da ist es grün.“ „Danke“, sagt Emil und erhebt sich vom Tisch. „Und für was brauchen Sie eine Villa?“ „Zum Wohnen.“ Emil geht locker-beschwingt aus dem Wirtsgarten hinaus und weiter die Straße entlang.

Kurz vor dem Kanal mit seinem begrünten Ufer sieht er linkerhand eine schöne Villa in einem großzügigen Garten stehen. Er ist begeistert. Hier will er wohnen! Er geht zum Gartentor und klingelt. Er blickt über den Zaun und bewundert das Anwesen. Ruhig und im Grünen, sehr stilvoll. Hier will er wohnen! Er klingelt ein zweites Mal. Er versucht, die stilistischen Merkmale der Villa architektonisch einzuordnen. Doch sein Enthusiasmus weicht jäh der Ernüchterung. Noch immer öffnet niemand die Tür. Ist niemand zuhause oder hat man beschlossen, ihn am Gartentor stehen sehend, nicht einzulassen? Emil wird unsicher. Soll er nochmals klingeln? Er sieht seinen Traum vergehen, hier in dieser Villa zu wohnen. Ach Eva, ach Gabriele, ach Klara! Womit habe ich das verdient!

Emils Villa

Emils Villa

Wie ein Geschlagener trottet er die Seitenstraße zurück. In der August-Exter-Straße angekommen und auf den Bahnhof zugehend, spricht ihn eine Frau an, die gerade auf den Omnibus wartet: „Junger Mann, Sie sehen so niedergeschlagen aus. Kann ich Ihnen helfen?“ „Ich wollte in einer Villa wohnen, aber niemand war zuhause.“ „In welcher Villa?“ Emil zeigt in die Seitenstraße: „Beim Luisengarten vorbei, am Kanal.“ „Aber die Villen, die stehen doch stadtauswärts, über der Würm“, sagt die Frau. „Stadtauswärts, über der Würm?“ „Ja. Biegen Sie vor dem Bahnhof rechts ab und überqueren Sie anschließend die Pippinger Straße. Da stehen Sie dann, die Villen, in der Alten Allee und der Marschnerstraße.“ „Von August Exter erbaut?“ „Das weiß ich nicht. Kann schon sein.“ „Vielen Dank Luise!“ sagt Emil mit einem Ausruf des Entzückens und will die Frau am liebsten umarmen. „Nichts zu danken. Aber – ich heiße nicht Luise.“ „Natürlich nicht. Entschuldigen Sie, Eva! Und grüßen Sie Gabriele und Klara von mir!“ Emil marschiert schnell weiter. Die Frau, deren wahren Namen wir nicht erfahren, bleibt so verwundert stehen, dass sie vor Verwunderung den Omnibus ohne sie abfahren lässt.

Emil steht an der Pippinger Straße und ist aufgrund des vielen Verkehrs gezwungen zu warten, bevor er sie überqueren kann. Gegenüber beginnt sie, die Alte Allee. Er sieht zwei alte Villen. Die müssen wohl von Exter sein. Sie sind von Verkehr umtost. Wie Relikte aus vergangenen herrschaftlichen Zeiten stehen sie da. Das ist kein landschaftliches Leben, von dem er träumt. Als er endlich die Pippinger Straße überqueren kann, geht er hurtig an den verkehrsumtosten Villen vorbei. Er gelangt zu einer Kirche. Rechts von ihr geht die Alte Allee weiter, links beginnt die Marschnerstraße. Von beiden Straßen hat die Frau gesprochen, deren wahren Namen wir nicht erfahren haben. Welcher Straße soll Emil entlanggehen? Er entscheidet sich für die Alte Allee. Aus einem Gefühl heraus. Alte Allee klingt erhaben. Hier würde er seine Villa für das Landleben finden. Emil fallen vor allem die alten Bäume an der Alten Allee auf. Es gibt einige Villen, linkerhand, doch es gibt nach wie vor diesen Verkehr, der Emil stört. Rechterhand tut sich eine unbebaute, freie Wiese auf, an deren anderem Ende eine Kirche steht. Emil misst der Entfernung zur Kirche eine Strecke von dreihundert Metern bei. Hier noch einmal so stehen wie Exter, vor dem unbebauten Land, und im Kopf die Villen planen! Emil geht weiter und kommt an einem eher armseligen, kleinen Häuschen vorbei, das einen Outdoor-Shop beherbergt. Soll er sich ein Zelt kaufen und es wie ein Pionier auf der Wiese aufschlagen? Dreihundert Meter freie Sicht nach Osten. Die Sonne würde ihn früh am Morgen erreichen und ihn beleuchten wie einen König der Landschaft.

Mit dem Zelt auf die Wiese?

Mit dem Zelt auf die Wiese?

Doch dann denkt er an die Autos, die aus den Seitenstraßen in die Alte Allee abbiegen und mit ihren Lichtkegeln in der Dunkelheit sein Zelt beleuchten. Er verwirft die Idee. Allmählich bekommt er Hunger. Dieses Landleben beziehungsweise das Suchen nach ihm ist anstrengend. Er blickt die Alte Allee entlang und glaubt zu erkennen, dass sie wohl in einem knappen Kilometer einen Rechtsknick beschreibt, folglich nach einem Kilometer noch immer nicht zu Ende ist. Würde er hier seine Villa finden? Zaghaft geht er ein paar Schritte weiter. Linkerhand sieht er eine Wirtschaft namens Jagdschloss. Er spürt Wut in sich aufkommen über diesen Namen. Wie soll man in diesem Trubel eine Jagd veranstalten? Wer hier das Jagdhorn bläst, verhallt ungehört ob des Autolärms. Er denkt kurz nach, ob wohl die Marschnerstraße eine ruhigere Straße sei, eine Straßen mit vielen noblen Herren in ihren herrschaftlichen Villen. Doch dann hat er nur noch ein Bedürfnis: Nachhause zu fahren, in die Behaglichkeit seiner Stadtwohnung, um sich zu erholen, von diesem anstrengenden Ausflug aufs Land.

Emils Forschungsgebiet im Überblick

Emils Forschungsgebiet im Überblick

Mehr zu August Exter und den Pasinger Villenkolonien

München, Schleißheimer Straße

Emil, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, ging die Schellingstraße entlang. Davon wurde an anderer Stelle bereits berichtet: München, Schellingstraße.

Als er das Ende der Schellingstraße erreicht, erinnert er sich, dass er bei seinem Spaziergang die Schleißheimer Straße überschritten hat. In Schleißheim steht ein kurfürstliches Schloss. Emil beschließt, die Schleißheimer Straße entlangzugehen. Emil ist ein gründlicher Mensch. So präzisiert er seinen Beschluss und beschließt weiters, die Schleißheimer Straße von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende zu begehen.

Am Ende der Schellingstraße stehend, befragt er Vorbeikommende, die er als ortskundig erachtet, wo denn die Schleißheimer Straße beginne.
Einer der Vorbeikommenden sagt: „Hier endet die Schellingstraße. Was weiß denn ich, wo die Schleißheimer Straße beginnt.“
Ein Anderer: „Da gehst jetzt zurück, dann kommst du an die Schleißheimer Straße.“
Emil meint, das wisse er, er habe sie ja bereits überquert, die Schleißheimer Straße, aber er wolle wissen, wo sie beginne.
„Jetzt gehst mal hin zu ihr, zu der Schleißheimer Straße, und dann kannst schauen, wo sie beginnt, oder?“ antwortet der Andere auf Emils Einwand.
Das befriedigt Emil nicht, denn er möchte die Schleißheimer Straße von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende begehen, und nicht grob irgendwo in ihrer Mitte in sie reinstechen. Also schlägt er sich auf eigene Faust durch das Straßendickicht, um zum Beginn der Schleißheimer Straße zu gelangen. Aus Sorge, vor ihrem Beginn auf sie zu stoßen, geht er einen großen Bogen. Vorbeikommende fragt er keine mehr, da sie nach seinen bisherigen Erfahrungen alle als ortsunkundig zu gelten haben. Nach langen Bogengängen, die ihn bis an den Hauptbahnhof geführt haben, landet er auf dem Stiglmaierplatz. Dort ist seine Sorge, dass er die Schleißheimer Straße überhaupt nicht findet, schließlich größer als seine Sorge, ihren Beginn zu verpassen. Er fragt also einen Vorbeikommenden, wo die Schleißheimer Straße sei. „Dort vorne beginnt sie“, sagt der Vorbeikommende und zeigt nach Norden. Emil kann sein Glück kaum fassen, dass der Vorbeikommende tatsächlich sagt: „Dort vorne beginnt sie.“ Als er dort ist, wo der Vorbeikommende hingezeigt hat, steht er auf einem weiteren Platz. Das Schild sagt „Rudi-Hierl-Platz“. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als einen weiteren Vorbeikommenden zu fragen, wo denn die Schleißheimer Straße beginne.
„Die Schleißheimer Straße hat hier mal begonnen“, sagt der weitere Vorbeikommende, „doch sie haben einen autofreien Platz daraus gemacht. So ist die Schleißheimer Straße an ihrem Beginn keine Straße mehr. Dort geht sie weiter“, sagt er schließlich und zeigt nach Norden.

Rudi-Hierl-Platz - Beginn der Schleißheimer Straße

Rudi-Hierl-Platz – Beginn der Schleißheimer Straße

Die Schleißheimer Straße, auf der einst Kurfürsten zu ihrem Schloss ritten, hat keinen Beginn mehr. Emil kann es nicht fassen und wird fast von einem Fahrradfahrer überfahren, der den autofreien Rudi-Hierl-Platz überquert. Etwas missmutig geht er. Wohin? Nun, nicht zum Beginn der Schleißheimer Straße, denn sie hat ja keinen mehr, sondern zur Schleißheimer Straße. Es ist, als ob er irgendwo in sie reinstechen würde, und es schmerzt Emil. Eng und einspurig ist sie auf ihren ersten Metern. Hier ist der Kurfürst entlanggeritten? Bald wird sie zumindest zweispurig. Emil erreicht die Schellingstraße, durch die er vorhin die Schleißheimer Straße überschritten hat. Das Café Emil an dieser Kreuzung lädt zum Verweilen ein. Emil aber ist wie besessen von seinem Vorhaben, das Ende der Schleißheimer Straße aufzusuchen. Umso mehr, als die Auffindung ihres Beginns derart erfolglos verlaufen ist.

Der Blick nach Norden zeigt eine lange, gerade Straße. Schritt für Schritt geht Emil diese lange, gerade Straße entlang, akkurat alle Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf speichernd. An der Stelle, wo links die Lerchenauer Straße abgeht, bemerkt er eine langgezogene Rechtskurve der Schleißheimer Straße. Er ist sehr gespannt, was sich hinter dieser langgezogenen Rechtskurve verbirgt, dass er völlig vergisst, weitere Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf zu speichern. Diese Zählung darf also, wenngleich nicht bewusst, an der Lerchenauer Straße für beendet erklärt werden.

Hinter der langgezogenen Rechtskurve verbirgt sich eine relativ abrupte Linkskurve. Was sich Emil nach der abrupten Linkskurve darstellt, kommt ihm bekannt vor: ein Blick nach Norden, auf eine lange, gerade Straße. Hätte Emil einen Stadtplan bei sich, stellte er fest, dass sein Blick ihm eine fast fünf Kilometer lange, schnurgerade Straße zeigt, die nahezu exakt nach Norden führt. Doch er hat keinen bei sich und sein Blick ist trüb wie das Wetter. Er geht weiter, wieder alle Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf speichernd. Es lässt sich feststellen, dass lediglich die Strecke zwischen Lerchenauer Straße und abrupter Linkskurve von Emil nicht vermessen wurde.

Die Schleißheimer Straße ist ab der abrupten Linkskurve teilweise vierspurig. Doch Emil erscheint sie auch hier nicht wie eine kurfürstliche Prachtstraße. Vielleicht ist es dem trüben Wetter oder seinem trüben Blick geschuldet, dass die Häuser am Straßenrand teilweise so grau aussehen. Er kommt an eine Querstraße, die nennt sich Hamburger Straße. Da die Hamburger Straße von Ost nach West verläuft und somit unmöglich nach Hamburg führen kann, kommen ihm ernste Zweifel, ob die Schleißheimer Straße überhaupt nach Schleißheim führt. Er geht weiter.

Viele Häuser und Querstraßen und auch Ampeln weiter: Plötzlich und unverhofft der freie Blick auf die Heidelandschaft. Auch die Schleißheimer Straße weitet sich. Ihre beiden Fahrtrichtungen sind getrennt durch einen großzügigen Grünstreifen. Enthusiasmus in Emil. Hier ist der Kurfürst also entlanggeritten, durch die weite Heide. Erwartungsvoll geht er weiter Richtung Norden. Doch der großzügige Grünstreifen verengt sich bald, und dort, wo die Schleißheimer Straße weitergehen soll, steht ein Straßenschild mit der Aufschrift „Fortnerstraße“. Ganz eindeutig: Nach Süden sagt das Straßenschild „Schleißheimer Straße“, nach Norden „Fortnerstraße“. Beim Blick zurück auf den großzügigen Grünstreifen inmitten der Schleißheimer Straße stellt Emil fest, dass es sich um die ehemalige Wendeschleife einer aufgelassenen Trambahnlinie handelt. Ist der Kurfürst mit der Trambahn hierher gefahren, um dann zu Fuß nach Schleißheim weiterzugehen?

Das Ende der Schleißheimer Straße

Das Ende der Schleißheimer Straße

Emil zieht es in die Fortnerstraße. Er will dieses schnöde Ende nicht akzeptieren. Die Schleißheimer Straße hat nach Schleißheim zu führen. Ist die Schleißheimer Straße etwa zu Ende, bloß weil sie Fortnerstraße heißt? Nach wenigen Metern, an einer Kirche mit dem Namen „Mariä Sieben Schmerzen“, wird die Fortnerstraße schließlich zu einem namenlosen Waldweg. Ist das alles, das von der Schleißheimer Straße übrig bleibt? Acht Kilometer ist sie wohl lang, die Schleißheimer Straße, errechnet Emil jetzt in seinem Kopf, wobei das nur eine ungefähre Zahl sein kann, denn ihr Beginn und ihr Ende sind für ihn nicht abschließend geklärt. Wenn man dieses – wohlgemerkt vorläufige – Ergebnis von acht Kilometern auf die sieben Schmerzen der Maria umlegt, ist jeder Kilometer ein Schmerz und einer schmerzfrei.

Beginn des namenlosen Waldwegs

Beginn des namenlosen Waldwegs

Emil zieht es weiter in den namenlosen Waldweg. Das Konzept der Querstraßen ist belanglos geworden, das der Ampeln sowieso. Wo ist Schleißheim? Emil geht den Weg entlang durch den Wald. Als der Wald zu Ende ist, steht Emil vor einer großen, freien Fläche, die umzäunt ist. Es geht nicht mehr weiter, geradeaus nach Norden, nur nach rechts oder nach links. Als ein Vorbeikommender vorbeikommt, fragt ihn Emil in seiner Verzweiflung: „Wieso ist hier ein Zaun? Hier muss es doch nach Schleißheim gehen!“
Der Vorbeikommende, der sich als ausgesprochen ortskundig erweist, erwidert: „Da geht’s schon lange nicht mehr nach Schleißheim. Da ist schon seit über hundert Jahren ein Flugplatz.“
„Und der Kurfürst, wie ist der dann nach Schleißheim gekommen, zu seinem Schloss?“ fragt Emil weiter.
„Der Kurfürst ist die ersten Jahre mitten durch das Flugfeld geritten, bis ihn ein landendes Flugzeug beinahe überfahren hätte. Dann hat er es auch bleiben lassen.“
Der Vorbeikommende fährt weiter und lässt Emil am Zaun zurück. Emil blickt über das Flugfeld nach Norden, und trotz des trüben Blicks misst er der Entfernung zu Schloss Schleißheim eine Strecke von eineinhalb Kilometern bei.

Mehr zur Schleißheimer Straße

Deutschstunde mit Vera

Ich frage Vera:
Was unterscheidet Verse
von der Ferse?

Sie sagt:
Phonetisch nicht sehr viel,
das Orthographisch-Semantisch-Visuelle kommt ins Spiel.

Ich schreibe:
Danke Wera
für diese wisuelle Worterläuterung.
Phonetisch betrachtet
bleib ich lieber stumm.

Baum-Begegnung

04 20150625_165539 Riederecksee mit Bergahorn an den Blankenstein-Südwänden

Liebes Bergahorn,

jetzt kenne ich die Bedeutung des Wortes Solitärpflanze. Hoch über den anderen Bäumen lebst du, ohne eigene Artgenossen. Die Gräser liegen dir, nun ja, nicht zu Füßen, sondern zu Stamme. Der See grüßt dich von unten, die Felswand von oben. Und deine Fernsicht ist einfach begeisternd.

Ich habe mich in dich verliebt. Ich habe dich umarmt, und gottseidank bist du kein Pferd, sonst hätte es mit mir wohl ein Ende genommen wie mit dem armen Nietzsche damals in Turin, als er nach dessen Umarmung anschließend dem Wahnsinn verfiel.

Ich ließ dich zurück, in deinem Solitär-Dasein. Doch voller Kraft ging ich weiter meines Weges.

08 20150625_165818 Bergahorn an den Blankenstein-Südwänden invers gesehen

Warten auf Weihnachten

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Mein Vater hat viele Dinge aus Metall erschaffen, die dann, sobald er sie erschaffen hatte, so etwas wie ein Eigenleben entwickelten, also wie lebendig erschienen.

Einmal kam er auf die Idee, Weihnachtsbäume aus Metall zu schmieden. Er meinte, so müsse man nicht jedes Jahr Schlange stehen vor den Ständen, um einen echten Baum zu kaufen. Sondern man hat einen Baum aus Metall zuhause, einen Baum für die Ewigkeit. Und um das ganze abzurunden, schuf er noch einen zweiten Ersatzbaum aus Metall. Meine Mutter überzeugte das jedoch nicht, und so kauften wir fortan weiter echte Bäume.

Ich habe dann, als ich erwachsen wurde und in die Welt zog zum Studieren und Arbeiten, die Bäume aus den Augen verloren. Ich wusste nicht, was aus ihnen geworden war. Ich dachte manchmal daran, dass sie Jahr für Jahr darauf warten, zu Weihnachten im Lichterglanz zu erstrahlen, um dann wieder in einer dunklen Ecke stehen gelassen zu werden. Das Warten metallener Weihnachtsbäume auf Weihnachten stelle ich mir fast schlimmer vor als das Warten Vladimirs und Estragons auf Godot im Stück von Beckett. Ich habe gehört, metallene Weihnachtsbäume haben kein Zeitgedächtnis, und so warten sie ohne ein Gefühl dafür, wie lange es noch dauern könnte, bis endlich Weihnachten ist.

Vor ein paar Tagen dann traute ich meinen Augen nicht. Der metallene Weihnachtsbaum stand da, an einem heißen Sommernachmittag, festlich geschmückt und bereit für das große Fest. Sein Bruder, der Ersatzbaum, hingegen, hat sich seiner Reservistenrolle gefügt und lag schmucklos daneben.

Warten sie auf Weihnachten, oder genießen sie den warmen Sommer, um den Winter wie immer in einer dunklen Ecke zu verbringen? Ich fragte mich, ob metallene Weihnachtsbäume denn einen wirklich heißen Sommertag genießen können. Ihnen muss doch viel heißer sein als uns Menschen aus Fleisch und Blut. Sie blieben stumm. Und trotzdem haben sie mir so viel gesagt, die metallenen Weihnachtsbäume meines Vaters.