João Baptista und der Krieg am See

Dass ich mir diesen Wunsch erfülle, wieder einmal an den See zu fahren, darüber bin ich glücklich. Ich gehe den Weg am Waldrand entlang, der mich zum See führen wird. Nach einer kleinen Biegung um Gesträuch herum blicke ich nach vorn – und sehe am Weg, ganz eindeutig: Henriette. Henriette! Dass ich bei meinem Ausflug an den See ausgerechnet Henriette treffe, darüber bin ich nicht so glücklich.

Ich sollte erklären, warum ich so gern an den See fahre: Ich fahre an den See, um meinen inneren Frieden zu finden, und hoffe, dabei auf Gleichgesinnte zu treffen. Henriette habe ich als eine Person in Erinnerung, die ihren inneren Krieg in die Welt projiziert und dieser Welt ihren Unmut darüber kundtut. Also als eine Andersgesinnte.

Sie gehen sehr langsam vor mir, Henriette und ihr dunkelhaariger Begleiter. Meine Schritte werden ebenfalls langsamer und ich überlege, ob ich umkehren soll; ob ich im Wald verschwinden soll. Ob ich irgendetwas tun soll, um ein Treffen zu vermeiden. In diesem Moment dreht sich Henriette um, unsere Blicke treffen sich. Zu spät für eine Flucht. Sie und ihr Begleiter bleiben stehen. Ich schreite dem Unentrinnbaren entgegen. Während mein Körper sehr steif wird und meine Beine sehr schwer, spüre ich, wie mein innerer Frieden in eine heftige Schieflage gerät, ja mehr noch, wie sich Krieg in mir ausbreitet.

„Emil, grüß dich!“ sagt Henriette. Ich kenne die Süße in dieser Stimme, die die darunterliegende Aggression verbergen soll, ohne es zu schaffen. Sie zeigt auf ihren Begleiter: „Das ist João Baptista, mein Freund“. João Baptista ist sehr muskulös, wirkt gleichzeitig aber sehr eingeschüchtert. Ohne nachzufragen und weiter darüber nachzudenken, ordne ich ihn als Brasilianer ein.

Ich gehe mit Henriette und João Baptista weiter den Waldpfad entlang zum See. Henriettes Erscheinung ist die einer militanten Grünen, die ihre Umwelt vergewaltigen will. Ihre sackigen Gewänder, mit denen sie sich kleidet, wirken wie eine Waffe, die jederzeit den Tod durch Ersticken herbeiführen kann. João Baptista scheint sich dieser Gewalt widerstandslos zu unterwerfen und sich devot seiner schleichenden Erstickung hinzugeben. Ich stelle mir seine Wirklichkeit so vor: Alle Frauen sind Huren, seine Mutter ist eine Heilige. Da seine Mutter weit weg in Brasilien ist, ist Henriette seine deutsche Ersatzmutter. Ich spüre, wie der Krieg in mir tobt. Dabei bin ich an den See gefahren, um meinen inneren Frieden zu finden.

An der Wiese am See angekommen, breitet Henriette eine Decke aus, auf die sie und ich mich setzen, während João Baptista neben uns im Gras stehen bleibt. Ich bin irritiert und frage Henriette, warum er stehenbleibt und sich nicht zu uns setzt.

„In Brasilien stehen die Männer am Strand immer. Sich zu setzen ist ein Zeichen von Schwäche, von Weichheit.“

„Erstens sind wir nicht in Brasilien, zweitens will ich nicht als Schwächling gelten, nur weil ich mich ins Gras setze!“ sage ich etwas ungehalten. Der Krieg in mir wird heftiger. Mir wird heiß. Ich ziehe mein Shirt aus und lege mich auf den Bauch, um mich zu beruhigen. Als ich auf dem Bauch liegend zu João Baptista aufschaue, bemerke ich Entsetzen in seinen Augen. Er geht hastig einige Meter weg von uns, bleibt dann wie angewurzelt stehen und blickt demonstrativ in die andere Richtung.

„Was hat er denn jetzt?“ frage ich genervt.

Henriette beugt sich zu mir: „Wenn sich in Brasilien ein Mann öffentlich auf den Bauch legt, ist das ein eindeutiges Zeichen, dass er schwul ist. Deshalb ist er irritiert.“

Ich spüre plötzlich eine starke Solidarität mit den Schwächlingen und Schwulen dieser Welt, obwohl ich bis eben noch nicht wusste, dass ich mich diesen Gruppen besonders zugeneigt fühle. Der Krieg ist jetzt endgültig in mir ausgebrochen und bahnt sich einen Weg nach draußen. Ich stehe auf, reisse mir die Hose vom Leib und renne zu João Baptista. Ich tanze nackt um ihn herum, mit heftigen Hüftbewegungen. Dazwischen werfe ich mich vor ihm auf den Boden. Ich strenge mich an bis aufs äußerste, um ihm ein schwuler Schwächling zu sein. João Bapista bleibt während meiner Performance wie angewurzelt stehen, mit starrem Blick. Schickt er Stoßgebete zu seiner Mama nach Brasilien, während die männliche Hure schlimmer als in seinen Albträumen um ihn tanzt?

Ich remple ihn an, rufe: „Sag was, du verklemmter Kraftprotz!“ Er bleibt stoisch stehen. Ich pralle an seinen Muskeln ab. Ich spüre, dass ich diesen Krieg nicht gewinnen kann. Es bedarf einer Abkühlung der Fronten. Ich laufe zur Decke, zu Henriette, sage: „Henriette, zieh dich aus, geh baden mit mir!“

„Aber doch nicht nackt!“

„Doch, nackt! Entblöße dich, zeige dich der Welt, und die Welt wird sich dir zeigen, schöner als du es dir jemals vorstellen konntest!“ Ich laufe mit Freudengeschrei zum Wasser und tauche ein ins kühle Nass. Ich stelle mir vor, wie Henriette ihr sackiges Kriegsgewand über ihren Kopf stülpt und mir nachläuft.

Beim Auftauchen rufe ich: „Der Krieg ist aus, es lebe der Friede!“ und sehe, wie Henriette hastig die Decke zusammenfaltet, um mit João Baptista die Wiese zu verlassen.