Beg Inn: Zum hundersten Todestag von Begor Inninger

Am 20. April des Jahres 1889 wurden Bettina und Gregor Inninger mitten in Europa Eltern eines Sohnes. Sie nannten ihn Begor.

An Begors fünfzehntem Geburtstag sagte sein Vater Gregor beim Essen am Familientisch: Hier geht alles den Bach runter. Wir leben in einer Resig-Nation. Das deutsche Volk ist das einzig wahre Volk. Begors Mutter Bettina, an sich ein fröhlicher, lebenslustiger Mensch, fing zu weinen an, als Begors Vater Gregor das gesagt hatte. Von diesem Tag an weinte Begors Mutter immer mehr. Fast jeden Tag sah Begor sie weinen.

An Begors zwanzigstem Geburtstag sagte seine Mutter Bettina: Wenn nur der Kaiser nicht stirbt! Der hält alles zusammen. Der sorgt dafür, dass wir uns alle noch vertragen. Aber er ist ja schon so alt! Nachdem sie das gesagt hatte, fing sie wieder bitterlich zu weinen an, während Vater Gregor aufstand und den Tisch verließ.

Nicht nur der Kaiser ist alt, dachte Begor. Alles ist alt hier. Deshalb beschloss er an diesem Tag, seinem zwanzigsten Geburtstag, nicht mehr hier leben zu wollen, mitten in Europa, wo er geboren war, in dieser Alten Welt, sondern auszuwandern in die Neue Welt.

Einige Wochen vor seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag hatte er genügend Geld gespart. Er reiste zum Atlantik und bestieg dort am 10. April ein riesiges Schiff, das ihn in die Neue Welt bringen würde. Am Abend des fünften Tages der Reise mit dem Schiff lag Begor auf seinem Schlafplatz und sehnte sich nach dem Land, nach Erde unter seinen Füßen. Tagelang, wochenlang nur auf dem Wasser sein, das kannte er nicht als Mitteleuropäer. Plötzlich, mitten in seine Sehnsucht hinein, wackelte und knarzte es im ganzen Schlafsaal. Begor lief an Deck und sah, dass das Schiff an einem Eisberg entlangschrammte. Angst. Dann war zunächst alles wieder ruhig. Begor blickte zum Himmel: Die Nacht war sternenklar. Doch unter ihm drang Wasser ins Schiff. Panik brach aus. Rettungsboote wurden zu Wasser gelassen. Menschen drängten sich, um auf ihnen Platz zu finden. Begor hielt sich vom Gedränge fern und bemerkte einen Mann neben sich, der am ganzen Leib zitterte. Begor zog seine Jacke aus und gab sie ihm. Der zitternde Mann sah ihn ungläubig an, nahm die Jacke und lief davon, um einen Platz auf einem der Rettungsboote zu ergattern. Begor blieb bis zuletzt auf dem Schiff. Als es sank, sprang er ins Wasser um sich zu retten, wurde aber von seinem Sog in die Tiefe gerissen. Im Wasser erfasste ihn ein Sog von Luft, der aus dem sinkenden Schiff drückte und ihn wieder an die Oberfläche schleuderte. War das eine Wiedergeburt? Begor, der Neugeborene, klammerte sich an ein Stück Holz, das im Wasser trieb. Jetzt sah er wieder die Sterne am Himmel. Er begann zu träumen. Er flog hoch zu den Sternen. Die Erde unter ihm wurde immer kleiner, aber es machte ihm nichts. Er flog weiter zu den Sternen und fühlte sich frei. Die wahre Freiheit ist in mir, und ist sie nicht in mir, so ist sie nirgendwo.

Dann erwachte er aus seinem Traum, obwohl er nicht erwachen wollte. Er wollte frei sein! Statt auf den Sternen landete er auf einem Rettungsboot. Die Neue Welt wartete auf ihn. Kurz vor seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag kam Begor in der Neuen Welt an, an den Piers von Manhattan. Es war ein zweiter Beginn seines Lebens. Begor blieb in New York und eröffnete eine Kneipe, der er den Namen The Beg Inn gab. Weil sein Leben neu begonnen hatte.

Viele Englischsprachige nahmen den Namen der Kneipe wörtlich: Sie bettelten um Bier und zahlten keine Zeche. Ein paar Jahre ging es gut mit der Kneipe, aber schließlich wurden die bettelnden Gäste zuviel und Begor konnte es sich nicht mehr leisten. Er brauchte Geld. Der Krieg kam ihm recht, und er meldete sich zum Dienst für seine neue Heimat.

Bei der Überfahrt nach Europa blickte Begor zum Himmel. Er war wolkenverhangen. Keine Sterne sichtbar, zu denen er hätte fliegen können. So träumte er wieder von den Sternen: Die wahre Freiheit ist in mir, und ist sie nicht in mir, so ist sie nirgendwo.

Begor Inninger starb am 8. Februar 1918 bei einem Angriff auf die Alte Welt.