Boris Bru

Boris lebte am Fluss Bru, der das nach ihm benannte Brutal durchfloss. Dunkle hohe Auwälder säumten den Bru, riesige alte Bäume streckten ihre gewaltigen Äste über das Wasser, sodass sich kein Sonnenstrahl auf ihm reflektierte. Niemand wusste, wieso Boris im Brutal lebte, wie er dort hingekommen war. Niemand wagte sich in die dunkle tiefe Welt des Bru. Manche sagten sogar, im Brutal würden noch Dinosaurier leben.

Der Bru vereinigte sich mit einem anderen Fluss namens Fa, und als gemeinsam weiterfließender Fluss wurden sie Le genannt. Auf dem Le, der an jenem Tag sehr gemächlich dahinfloss, ruderte Joris flussaufwärts, um Doris zu besuchen, die am Fa wohnte. Um Doris rankten sich keine solchen Mythen wie um Boris, man kannte sie, hatte sie schon öfter besucht. Auch war der Fa ein offener Fluss mit lichtdurchfluteten Auwäldern und grasgrünen Lichtungen. Sein Wasser glitzerte in der Sonne. Dennoch wurde Doris mit Boris in Verbindung gebracht, manche sagten, Doris sei die weibliche Form von Boris.

Joris ruderte also auf dem Le dahin, und ihm ging die Geschichte von Boris durch den Kopf, von dieser sagenumwobenen Gestalt aus dem Brutal, und Joris kam auf die tollkühne Idee, statt auf dem Fa zu Doris zu rudern, dessen unter die Blätterdächer der riesigen Bäume am Bru zu tauchen, um Boris zu suchen. Sein Herz fing immer mehr zu klopfen an, je näher er dem Zusammenfluss von Bru und Fa in den Le kam.

Joris konnte nicht ahnen, dass Doris beschlossen hatte, das Fatal zu verlassen, um künftig bei ihm im Letal zu leben. Noch weniger konnte er ahnen, dass Boris den Bru flussabwärts fuhr, um erstmals in seinem Leben das Brutal zu verlassen.

Joris ruderte also nichtsahnend weiter den Le flussaufwärts, als er links schon den Bru unter den gewaltigen Blätterdächern erblickte und rechts den unter freiem Himmel dahinfließenden Fa. Er sah zu seiner Überraschung Doris auf dem Fa, ihm entgegenkommend. Er freute sich sie zu sehen und er bedauerte es gleichzeitig, denn er wollte doch eigentlich das Tollkühne wagen und weiter den Bru hinauffahren statt den Fa, um in die Welt des Boris zu tauchen. Just als er diesen Gedanken gedacht hatte, tauchte Boris aus den Tiefen des Brutals auf. Er war eine mächtige muskulöse Gestalt, die Furcht und Schrecken einjagte. Boris aber sah Joris nicht, sondern Doris, die im genau gleichen Moment aus dem Fa kam. Boris erschrak sehr, erzählte Joris später, denn er stieß einen lauten Schrei aus und schlug mit seiner Ruderstange brutal auf Doris ein. Wie konnte sich so eine mächtige muskulöse Gestalt so über ein zierliches Wesen wie Doris erschrecken? Nach Boris brutalen Schlägen lag Doris blutüberströmt und reglos auf ihrem Floß. Boris gab flennende Laute von sich. Erbärmlich klangen diese Laute, von ihm, der eben noch so laut gebrüllt und kräftig geschlagen hatte. Dann stieß er Doris leblosen Leib vom Floß ins Wasser, machte kehrt und verschwand wieder im Dunkel des Brutals, ohne Joris bemerkt zu haben.

Joris versuchte für einen Moment, Doris toten Leib aus dem Wasser zu retten, aber schnell begriff er, dass es zwecklos war, gegen die Fluten des Les anzukämpfen. Traurig überieß er ihren Leib dem Le und ließ sich flussabwärts treiben, und als er an Land ging, erzählte er den Menschen des Letals, was er erlebt hatte. Die Menschen fragten ihn, ob er wirklich Boris gesehen habe, oder ob Doris nicht in jenen Strudel an der Mündung geraten sei, der so vielen schon den Tod gebracht habe und von dem das Letal seinen Namen trage? Ob er sich Boris nicht nur einbilde, um Doris Tod zu überwinden?

Nein, sagte Boris: Der Le ist nicht todbringend – der Le ist der Tod! Und fortan nannte er den Le Tot und das Letal Total.