Alle Beiträge von EmilHinterstoisser

Björn Borg – eine schwedische Spießergeschichte

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten geheiratet und nannten sich fortan Herr und Frau Borg. Sie leisteten sich ein kleines Häuschen am Rande der Stadt, und in dem lebten sie auch. Sie wünschten sich zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und die bekamen sie auch. Sie nannten ihre Kinder Jörn und Inge. Damit hatten sie alles erreicht, was sie im Leben erreichen wollten. Sie hätten nun genauso gut sterben können, aber es war halt so, dass sie lebten, und so mussten sie sich das Leben irgendwie vertreiben.

Zwecks dieser Vertreibung gingen sie eines Abends in das Kulturzentrum am Stadtrand, zum Tanzabend. Sie tanzten und tranken und später gingen sie in leicht angeheitertem Zustand nachhause. In diesem angeheiterten Zustand bestiegen sie beide ihr Ehebett und befanden es eine gute Idee, sich wieder einmal körperlich nahe zu kommen. Es kam zum Koitus in dieser Nacht des angeheiterten Zustands, und das muss deshalb gesagt werden, weil es nicht irgendein Koitus war, sondern ein Koitus, der das Leben von Herrn und Frau Borg, in dem doch alles nur noch seinem Ende entgegenzutrudeln schien, entscheidend änderte.

Zwei Monate später war es nämlich Gewissheit: Durch diesen Koitus war Frau Borg schwanger geworden.
„Johan!“ sagte Frau Borg zu ihrem Mann: „Wie konntest du nur so leichtsinnig sein! Du weißt doch, dass ich auf keinen Fall mehr ein drittes Kind wollte!“
„Ich leichtsinnig? Du hattest mir gesagt, du verhütest!“
„Habe ich auch. Aber es ist wohl schiefgegangen.“
„Schiefgegangen? Du hast einfach nicht darauf geachtet! Nach dem Motto: Wird schon nichts passieren!“
„Du hättest dir einen Gummi überziehen können, dann wäre nichts passiert!“
„Wieso soll ich mir einen Gummi überziehen, wenn du verhütest? Außerdem weißt du, dass ich es mit Gummi nicht so gern mag.“
„Hängt also wieder alles an mir! Wenn du schon keinen Gummi überziehst, dann hättest du ihn wenigstens rausziehen können bevor du abspritzst!“
„Mach ich nächstes Mal und spritz dir mitten ins Gesicht! Bin gespannt, ob du das besser findest!“
„Werd nicht unverschämt!“ schrie Frau Borg und fing zu heulen an.
„Alma, beruhige dich! Ist es so schlimm, wenn wir noch ein Kind kriegen? Unser Häuschen ist doch groß genug!“
„Nein, ist es nicht!“

Trotz dieser schwierigen Voraussetzungen wuchs das Kind in Alma Borg heran und kam planmäßig und ohne Komplikationen auf die Welt. Es war ein Junge. Kaum waren jedoch die ersten Anstrengungen der Geburt überwunden, entstand eine neue Diskussion zwischen Herrn und Frau Borg, wie der Junge denn heißen soll:
„Ich wollte nur einen Jungen, und der sollte Jörn heißen. Das weißt du genau! Es gibt keinen anderen Namen als Jörn für einen Jungen in meiner Welt!“ erzürnte sich Frau Borg.
„Es kann doch nicht ein so großes Problem sein, einen anderen Namen als Jörn für einen Jungen zu finden!“
„Doch, kann es!“
„Weil du eines daraus machst!

Ein minutenlanges Schweigen breitete sich anschließend zwischen den beiden aus. Bis Johan Borg eine Idee kam: „Weißt du was, ich habe die Lösung: Wir nennen ihn einfach auch Jörn!“
„Wie?“
„Der zweite Jörn. Wenn unser Land so liberal ist wie es sich gerne gibt, werden wir unseren zweiten Sohn doch wie unseren ersten nennen dürfen!“

Der Junge durfte Jörn genannt werden und wurde – zur Unterscheidung von seinem größeren Bruder – B-Jörn gerufen. Als B-Jörn schon zur Schule ging und den Buchstaben B lernte, stellte er fest, dass B im Wort nicht Be gesprochen wird, sondern nur B. Nach Schulschluss rannte er schnell nachhause, wo er an diesem Tag seinen Vater antraf, und sagte aufgeregt: „Papa, ich habe heute gelernt, dass ich gar nicht B-Jörn bin, sondern Björn!“
„Na gut, von mir aus!“ sagte Herr Borg: „Dann bist du ab heute Björn. – Jetzt müssen wir nur noch deine Mutter davon überzeugen…“

 

Der Kommunikationsberater

Der Kommunikationsberater öffnete die Fahrertür seines Porsche, drehte sich noch einmal zu uns um und sagte: „Es gilt jetzt, alle mitzunehmen!“

Ich ging daraufhin zur Beifahrertür, öffnete sie und setzte mich in den Wagen.
„Das wird schwierig!“ sagte ich, mich im Wageninneren umsehend.

„Was wird schwierig?“ fragte der Kommunikationsberater irritiert.

„Mit diesem kleinen Auto alle mitzunehmen. Nicht mal die, die jetzt noch dastehen, können Sie damit mitnehmen. Geschweige denn das ganze Team. Dabei haben sie gerade gesagt: Es gilt jetzt, alle mitzunehmen!

„Das war doch auf das Projekt bezogen! Steigen Sie sofort aus meinem Wagen aus, ich hab’s eilig!“

Ich stieg aus, lehnte mich an den Porsche und sagte: „Es wäre ein gutes Zeichen für das Projekt gewesen, wenn Sie mit einem Bus gekommen wären und jetzt alle mitnehmen würden. Stattdessen stellen Sie sich an Ihr Egomanen-Fahrzeug und meinen überhaupt nicht, was Sie sagen.“

„Was fällt Ihnen…“

„Was Sie mit Ihrem Verhalten sagen ist: In unserem auf Egozentrismus aufgebauten Wirtschaftssystem hat man den Sinn für das Gemeinsame verloren. Kommunikation findet nicht statt. Ich habe das erkannt und verdiene mit diesem Mangel mein Geld, den zu beseitigen mir überhaupt kein Bedürfnis ist. Im Gegenteil: Dann würde ich ja kein Geld mehr verdienen.

„Ach lassen Sie mich doch in Frieden! Ich habe Ihre schlauen Reden nicht nötig!“
Der Kommunikationsberater schlug die Tür seines Porsche zu und brauste davon.

Axel Witsel – eine Kritik am deutschen Alphabet

Ich stehe auf einer riesigen Tribüne. Die Tribüne ist mit drei anderen Tribünen verbunden. Die Tribünen stehen im Neunzig-Grad-Winkel zueinander und umschließen ein Fußballfeld. Alle Tribünen sind voll mit Menschen, mit insgesamt etwa achtzigtausend Menschen, wie ich mir sagen ließ. Eine Zahl, die ich gar nicht fassen kann. Sehr sehr viele Menschen auf engem Raum. Gleich wird ein Fußballspiel beginnen. Die achtzigtausend Menschen auf den Tribünen werden zweiundzwanzig Menschen auf dem Rasen beim Fußballspielen zusehen. Ich blicke auf die vielen Menschen um mich. Bei diesem Anblick weiß ich, warum ich als Junge Fußballprofi werden wollte: Achtzigtausend Menschen, die einem beim Spielen zusehen. So viel Aufmerksamkeit hat man sonst nie im Leben!

Der Stadionsprecher brüllt die Namen der Spieler in sein Mikrofon, aber im ohrenbetäubenden Lärm um mich verstehe ich nichts. Ich schaue auf einen der großen Bildschirme und lese den Namen des Spielers mit der Rückennummer 28: Axel Witsel. Ein Name, der mich beeindruckt. Ein Name wie eine eindringliche Forderung. Nämlich das deutsche Alphabet um zwei überflüssige Buchstaben zu kürzen: um das X und um das Z. Das X kann durch KS ersetzt werden, das Z durch TS. Axel Witsel betont auf geniale Weise diese Forderung: In der Schreibung des Vornamens Axel mit X der Hinweis auf den aktuellen Missstand, in der Schreibung des Nachnames Witsel der Protest dagegen durch die Ersetzung des Z durch TS. Wer Axel schreibt, muss auch Wizel schreiben, sagt der kühle Verstand. Wer sich Witsel schreibt, sollte sich auch Aksel schreiben, sage ich.

Die Spieler betreten das Feld. Axel Wizel trägt eine Afro-Frisur. Dunkler Teint. Blaue Augen, die sehr auffallen durch seine sonst dunkle Erscheinung. Das Spiel beginnt. Aksel Witsel bewegt sich grazil und demütig wie eine Gazelle und robust und bestimmend wie ein Löwe, ohne sich dabei zu widersprechen. Wie mich sein Name beeindruckt, so beeindruckt mich sein Spiel. Ich beneide ihn, mit welcher Eleganz und Souveränität er sich auf dem Rasen bewegt und wie ihm dabei achtzigtausend Menschen zuschauen. Axel Witsel – die leibhaftige Kritik am deutschen Alphabet!

Axel Witsel

Ostern in New York

Man kann an Ostern vieles machen. Man kann in ein Flugzeug steigen und nach New York reisen, und wirklich, ich war kurz davor, in ein Flugzeug zu steigen und nach New York zu reisen, doch dann entschied ich mich, in den Zeller Wald zu fahren und dort dem Gesang des Rotkehlchens zu lauschen. Doch je mehr ich mich auf den Gesang des Rotkehlchens freute, desto mehr fing es in meinem Oberkiefer hinten links zu rumoren an. In Zahn Zweisieben, wie ihn die Zahnärzte nüchtern bezeichnen, hatte sich etwas eingenistet, das von Tag zu Tag mehr Schmerzen verursachte, die am Karfreitag so heftig wurden, dass ich nach schmerzensreicher Nacht am nächsten Tag beschloss, die Notfallambulanz aufzusuchen.

Ich saß im Behandlungsstuhl und betrachtete das Hell und Dunkel auf dem Röntgenbild meines Gebisses. Zahn Zweisieben war in einem jämmerlichen Zustand, bereits wurzelbehandelt und tot, ein lebloser hohler Stift mit einer Plastikkrone obendrauf. Und jetzt hatten sich in diesem leblosen Stumpf wütende Bakterien eingenistet und wüteten hemmungslos. Ich spürte die Aufregung und Anspannung des quicklebendigen Nachbarzahns Zweisechs. Einerseits seine Sorge, die Bakterien könnten auch ihn in Beschlag nehmen, ihn, der noch voll im Saft ist und umso mehr leiden müsste. Andererseits seine Trauer, dass er seinen lebenslangen Nachbar und Freund nun endgültig verlieren würde.

Das Ziehen war kurz und schmerzlos. Die Entsorgung einer Leiche. Mit kühlendem Pad lag ich zuhause auf der Couch und bereitete mich auf mein Leben ohne Zahn Zweisieben vor. Meine Osterpläne waren durchkreuzt. Heute noch wollte ich aufbrechen in den Zeller Wald, doch das Rotkehlchen würde ohne meine Anwesenheit singen. Und an New York war schon gar nicht mehr zu denken. In dieser langen Weile, die ich nun vor mir sah, fand ich Gefallen an der Idee, an Ostern einen Western anzuschauen. Einen klassischen Western: Landnahme, Indianervernichtung. Nicht so weichgespültes Zeug wie Winnetou oder Der mit dem Wolf tanzt. Gedacht, getan: Ich saß stundenlang vor dem Bildschirm und sah die Bilder der kämpfenden Heroen in der Prärie.

Nach ein paar Stunden machte ich den Bildschirm aus. Ich erhob mich von der Couch und ging auf den Balkon. Ein Rotkehlchen sang. Ich blieb auf dem Balkon und lauschte. Eine neue Idee in mir – ein Plot für einen Ostern, als Gegenstück zu einem Western. Ich setzte mich hin und schrieb in meinen Notizblock:

Ein Indianerstamm fällt in New York ein. Blutige Kämpfe. Die weißen Ureinwohner New Yorks werden geschlagen. Viele flüchten nach Long Island. Dort sitzen sie in der Falle, und die Indianer kommen, um sie zu töten. Auf Long Island angekommen, überlegen es sich die Indianer anders und errichten ein Bleichgesicht-Reservat, wo die Weißen von nun an leben dürfen.

Meine Wut auf die westliche Welt. Mein Verlust von Zahn Zweisieben. Man kann an Ostern vieles machen. Man kann auch traurig darüber sein, Zahn Zweisieben verloren zu haben.

Der Kot ist ein Segen

Der Kot ist ein Segen, sagte einer der Käfer, und dann fraßen sie weiter an ihren Pillen. Wie kam es dazu?

Es war so, sagt Vorderbrandner: Ich ging durch die Stadt, im milden Dämmerlicht, an einem klaren Abend im frühen Frühling. Ich sah durch die erleuchteten Fenster in die Restaurants hinein. Ich sah Menschen um Tische sitzen, sah sie abwechselnd ihre Münder öffnen, um Ess- und Trinkbares in sich hineinzuwerfen. Bei diesem Anblick dachte ich unvermittelt ans Scheißen, denn Scheißen ist ja sozusagen das Gegenteil von dem was ich sah: Das Auswerfen von für den Körper nicht mehr Verwertbarem. Und bei dem, was da alles hinter den Scheiben gegessen wurde, brauchte es keine große Phantasie, um sich vorzustellen, was da alles geschissen werden wird. Essen und Scheißen sind zwei komplementäre Vorgänge, aufs Nächste miteinander verwandt. Ohne Essen kein Scheißen und ohne Scheißen kein Essen. In der menschlichen Kommunikation gibt es zwischen diesen beiden Dingen allerdings ein großes Mißverhältnis: Man redet viel übers Essen, aber wenig übers Scheißen. Lass uns was essen gehen, lautet eine beliebte Ansage. Lass uns was scheißen gehen führt zu Irritation und Abscheu.

Ich ging weiter durch die Stadt, sagt Vorderbrandner, und sah die essenden Menschen hinter den erleuchteten Fenstern. Meine Gedanken waren gefangen zwischen Essen und Scheißen. Ich hatte gerade gegessen, ja, ich hatte keinen Hunger, und ich glaube, Hunger spielte auch bei den Menschen auf der anderen Seite der Fenster nur eine untergeordnete Rolle. Nein, sie aßen gegen die innere Leere und glaubten, sie mit Essen auffüllen zu können. Muss der Mensch wirklich so viel essen, oder isst er bloß so viel, weil er es sich angewöhnt hat? Essen als Droge gegen innere Leere? Ich bekam nun doch Hunger, obwohl ich gerade etwas gegessen hatte. Ich beneide das Meerschweinchen, dass sein Essen immer in sich trägt. Es scheißt dazu das Gegessene und frisst es nochmal, um es in einem zweiten Verdauungsdurchgang besser zu verwerten. Der Mensch verwertet zu gut, sonst könnte er wie das Meerschweinchen das Essen immer in sich tragen.

Es war einst ein König, der so unglücklich über das Scheißen war, dass er Goldklumpen aß, um Gold zu scheißen. Sein Körper konnte die Goldklumpen aber nicht verwerten, sie verletzten seinen Darm tödlich und er starb daran. Er ist rektal verreckt. Der Mensch hat das Scheißen aus seiner Kultur verdrängt. Kommt vom Klo und tut als wäre nichts gewesen. Das war nicht immer so. Bei Rabelais, neben Cervantes der Mitbegründer der europäischen Hochkultur des Romans, wird gefressen und geschmaust was das Zeug hält, um danach zu scheißen und zu furzen was das Zeug hält. Und auch Till Eulenspiegel macht bei jeder Gelegenheit einen Haufen. Ist das Essen ein Fest, ist das Scheißen ein mindestens genauso großes.

Die Dämmerung wich fast schon der Dunkelheit. Ich ging aus der Stadt in den Stadtwald. Unter den Bäumen bekam ich große Lust zu scheißen. Ja, es kann sehr lustvoll sein, nicht nur etwas aufzunehmen wie beim Essen, sondern auch etwas abzugeben wie beim Scheißen, sagt Vorderbrandner. Ich schiss einen beherzten Haufen auf den Boden, und sein Aroma stieg wie ein Wohlgeruch in die Nasen der nahe lagernden Käfer und lockte sie an. Sie flogen heran und freuten sich. Sie nahmen vom Haufen und rollten den Kot zu kleinen Pillen. Deshalb nennt man sie Pillendreher. Als jeder sich eine Pille gedreht hatte, setzten sie sich zu einer Runde zusammen und labten sich daran. Der Kot ist ein Segen, sagte einer der Käfer: Mir ist unbegreiflich, wie man ihn verschmähen kann. Dann fraßen sie weiter unter dem Mond dieser klaren Frühlingsnacht.

 

Penetrations-Workshop

Ich hatte einen eigenartigen Traum, sagt Vorderbrandner: Ich war in einem Penetrations-Workshop. Die Frau, mit der ich übte, war recht locker drauf, und wir mussten beide lachen, als ich mir das Kondom etwas ungeschickt überzog. Schon lange nicht mehr gemacht, sagte ich, sagt Vorderbrandner, und sie meinte, sie nehme jetzt auch Gleitcreme, obwohl sie die normalerweise nicht brauche.

Ich war in Sorge, dass meine Erektion weggeht, sobald ich das Kondom übergezogen habe, sagt Vorderbrandner, aber sie ging nicht weg. Im Gegenteil. Ich drang in die Frau ein, und wir lächelten uns an. Ich schob ihn rein und raus, anfangs vorsichtig und langsam, dann wild und schnell. Wir hatten großen Spaß dabei. Unbeschwertheit. Leichtigkeit. Dann erwachte ich aus diesem Traum. Ich war sehr entspannt und hatte in der Tat eine Hammererektion. Nur die Frau war verschwunden.

Am nächsten Tag rief ich Agathe an, sagt Vorderbrandner. Ich sagte ihr, ich müsse dringend bei ihr vorbeikommen, weil ich sie unbedingt penetrieren will. Ob sie denn was dagegen habe? Ich fuhr sofort zu ihr und habe Agathe in die Augen geschaut wie ich ihr noch nie in die Augen geschaut habe. Fordernd und liebevoll zugleich. Wir küssten, spürten und berührten uns. Lange. Innig. Dann habe ich meine Übung aus dem Penetrations-Workshop mit Agathe fortgesetzt, nur dass ich bei Agathe kein Kondom übergezogen habe.

Erschöpft und zufrieden lagen wir uns schließlich in den Armen. Dann begann Agathe zu weinen. Bei mir brechen gerade alle Dämme, sagte sie, ich kann nicht anders. Ich bin so glücklich. Ich sagte nichts, sagt Vorderbrandner. Ich habe Agathe wortlos gestreichelt, und in diesem Moment spürte ich, dass ich sie liebe, ja, dieses Wort will ich jetzt benutzen: Liebe.

Normalerweise ist unser Sex recht frustrierend. Ich bin so angespannt, dass ich keine ordentliche Erektion bekomme. Dann bin ich so enttäuscht, dass ich weinen möchte. Aber meistens fluche ich stattdessen. Ich fluche auf meine christliche Kindheit, die die Vagina zum Himmel und zur Hölle zugleich machte. Jedenfalls zu etwas Übermenschlichem wie die Jungfrau Maria, dem ich nie gerecht werden kann, dem ich unterliege und das ich daher ablehnen muss. Agathe, die meine Schimpftiraden geduldig ertrug, sagte dann oft: Dann mach es dir doch wenigstens selbst, und ich fuchtelte angespannt und nervös an meinem Penis herum, um Samenflüssigkeit aus mir herauszupressen. Schließlich einigten Agathe und ich uns, dass ihre Vagina mit anderen Penissen und mein Penis mit anderen Vaginas in Berührung kommen sollte. Das verschaffte mir gewisse Erleichterung. Die Moralkeule, dass man nur mit einem Menschen intime Kontakte haben darf und alles andere Todsünde ist, hatte mich belastet, sagt Vorderbrandner. Auf diese Weise schafften Agathe und ich es, so etwas wie halbwegs entspannten Sex miteinander zu haben. Dennoch hat sich meine Anspannung beim Sex nie richtig gelegt, egal mit wem ich ihn hatte. Entsprechend nervös war ich vor dem Penetrations-Workshop.

Konnte ich denn ahnen, dass der Workshop so ablaufen würde? Mittlerweile bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich von diesem Workshop wirklich nur geträumt habe, oder ob ich ihn tatsächlich besucht und nur vergessen habe, dass ich ihn besucht habe, sagt Vorderbrandner. Jedenfalls bin ich meiner Übungspartnerin sehr dankbar, kann mich aber beim besten Willen nicht mehr an sie erinnern.

Musik aus dem Penetrations-Workshop

August und Adelheid II

eine Straßengeschichte – zweiter Teil: Adelheid

Die Adelheidstraße in München, benannt nach Henriette Adelheid von Savoyen, Kurfürstin von Bayern, führt vom Josephsplatz etwas über einen halben Kilometer nach Norden. Beim Überqueren der Elisabethstraße schlägt sie einen kleinen Haken nach links und mündet in einem leichten Bogen nach rechts in die Bauerstraße.

Adelheidstraße von oben

August blickte nachdenklich zu Boden. Da fragte ihn eine Frauenstimme von der Seite, ob er Feuer hat. Er sah weiße Turnschuhe. Sein Blick ging nach oben, und er sah Beine, die in einer Jeans steckten. Weiter oben sah er eine aufgeknöpfte Jacke über einem weißen T-Shirt, das den Bauch und die Brüste einer jungen Frau bedeckte. Sein Blick schweifte weiter über den blassen, glatten Hals in das Gesicht, in das er sich sofort verliebte. Feuer? fragte die Stimme nocheinmal. August nickte und gab Feuer. Wo kommst du her? fragte die Stimme und setzte sich zu ihm. August machte eine Kopfbewegung nach links.
Augustenstraße?
Ja.
Aha. Und wie heißt du?
August.
Red keinen Scheiß! August aus der Augustenstraße?
August sah in das Gesicht, das nun auf Augenhöhe mit ihm war und in das er sich mehr und mehr verliebte.
Ich heiß Adelheid und komm aus der Adelheidstraße, sagte der schöne Mund in diesem schönen Gesicht. Bescheuerter Name, aber leicht zu merken. Ich heiß wie die Straße, sagte Adelheid, und machte eine Kopfbewegung nach rechts.

Adelheidstraße vom Josephsplatz gesehen

August zündete sich eine Zigarette an, schaute nach rechts Richtung Adelheidstraße, aber eigentlich schaute er nach rechts, um Adelheids Gesicht zu sehen. Ich verliebe mich gerade in eine Großkopferte, dachte er.
Und was machst du so, Adelheid? fragte er, um sich abzulenken und die schöne Stimme aus dem schönen Mund wieder sprechen zu hören.
Nenn mich Heidi. Bitte! Genauso bescheuert wie Adelheid, aber irgendwie doch besser. – Was ich mache? Jetzt geh ich nachhause, weil meine kleine Schwester nachhause kommt und meine Eltern nicht da sind.
Wo ist zuhause?
Am Ende der Adelheidstraße.
Am Ende der Adelheidstraße? August blickte ungläubig.
Begleit mich doch!

August lief es heiß und kalt gleichzeitig über den Rücken. Adelheid begleiten? Natürlich! Aber Adelheid begleiten heißt, dahin zu gehen, wo die normale Welt nicht mehr existiert. Und noch dazu bis ans Ende der Adelheidstraße, also tief in die abnormale Welt der Großkopferten. War es nicht schon dumm genug, sich bis zum Josephsplatz vorgewagt zu haben? Nein, er konnte nicht weitergehen! Mit einer, die den Adel im Namen trägt. Die ist sicher eine Thusnelda wie diese Auguste, nach der die Augustenstraße benannt ist. Aber dann kam der rettende Gedanke: Sie nennt sich Heidi, nicht Adelheid. Vielleicht ist sie als Heidi doch eine wie ich. Er fasste all seinen Mut zusammen und ging mit ihr in die Adelheidstraße.

Vorgärtchen in der Adelheidstraße

Die Welt war wirklich eine andere. Kleine Vorgärten vor den zurückversetzten Häusern, und im Vergleich zur Augustenstraße war jedes der Häuser ein kleiner Palast. August blieb stehen und staunte. Adelheid ging ein paar Schritte voraus. Er sah ihr nach, und staunte wieder. Mit ein bißchen Entfernung fand er sie noch schöner. Ihr Lächeln, als sie sich umdrehte. Schließlich kamen sie zu einem Haus, das wirklich ein kleiner Palast ist. Es liegt versteckt und doch majestätisch am Ende der Adelheidstraße.

Bauerstraße 38a am Ende der Adelheidstraße

Hier wohn ich, sagte Adelheid. Ich hab dir nicht die Wahrheit gesagt. Ich wohn nämlich gar nicht in der Adelheidstraße, sondern in der Bauerstraße 38a, aber schau, sagte sie und drehte sich um: Von hier sehe ich die ganze Adelheidstraße entlang bis zum Turm von St. Joseph.
St. Joseph – das verbindende Element zweier Welten? August sah Adelheid an und Adelheid sah August an. August spürte ein heftiges Verlangen, das schier unerträglich wurde. Und was machen wir jetzt? fragte er, um die Stille zu durchbrechen und sein Verlangen zu besänftigen.

Es ist schade, sagte Adelheid, dass meine Schwester gleich nachhause kommt, denn sonst würde ich dich fragen, ob du mit reinkommst. Ich würde dir zeigen, was unter meinen Klamotten steckt und würde gerne sehen, was unter deinen Klamotten steckt. Ich weiß, ein Mädchen soll nicht so reden, aber ich habe gerade Lust darauf, und warum soll ich nicht sagen, worauf ich gerade Lust habe. Ja, sagte August, und schaute Adelheid mit offenem Mund an und stellte sich vor, die nackte Adelheid zu erforschen und von ihr erforscht zu werden. Adelheid drückte August einen Kuss auf die Lippen. Dann lief sie zur Haustür. Beim Hineingehen drehte sie sich um und rief: Du kommst mich doch wieder besuchen, oder?

Als sie hinter der Haustür verschwunden war, zündete sich August eine Zigarette an. Noch nie hatte er ein Mädchen so zärtlich über Sex reden gehört wie Adelheid eben. Er muss sie wiedersehen! Er muss sie wiedersehen! Auch wenn sie eine Großkopferte ist. Unsicher blieb er stehen, bis er schließlich langsam und mit zittrigen Beinen Richtung Josephsplatz ging. Vorbei an den Palästen mit den kleinen Vorgärten. Eine unwirkliche Welt. Eine Welt außerhalb der Welt. Adelheid, die Außerirdische. Heidi, die Irdische? Am Josephsplatz setzte er sich wieder auf die Stufen vor der Kirche. Noch einmal der Blick zurück in die Adelheidstraße, noch einmal der Blick zurück zu Adelheid. Was war das eben? War das ein Traum? Er bekam plötzlich Angst. Angst, verloren zu sein, in dieser wunderbaren Welt der Großkopferten. Verloren in den Armen Adelheids, der Außerirdischen. Heidi, die Irdische, drang nicht durch. Nein, sie blieb Adelheid in seinem Kopf. Er blickte nach links zur Augustenstraße. Da gehört er hin. Da gibt es Arbeit. Und vielleicht gehört es zum Leben, dass man immer in Gefahr ist, derschossen zu werden. Er blieb noch lange auf den Stufen vor der Kirche sitzen. Er schaute den Eltern zu, die ihren Kindern beim Spielen zusahen. Eine Träne lief über seine Wange. Er wollte zu Adelheid. Heidi! sagte er heimlich und leise zu sich und doch zur ganzen Welt. Schließlich stand er auf und ging wie hypnotisiert die Augustenstraße entlang. Geh immer zum Bahnhof, Bub, denn da gibt’s Arbeit. Alles andere kannst du vergessen! Alles andere musst du vergessen!

August und Adelheid I

eine Straßengeschichte – erster Teil: August

Die Augustenstraße in München, benannt nach Prinzessin Auguste Amalia Ludovika von Bayern, zweigt nahe des Hauptbahnhofs von der Dachauer Straße ab und führt in nordnordöstlicher Richtung auf knapp eineinhalb Kilometern Länge zum Josephsplatz, an dem sie endet.

Augustenstraße von oben

August lebt in der Nähe des Hauptbahnhofs, am Beginn der Augustenstraße, schon immer. Beim Bahnhof gibt es Arbeit, sagt seine Mutter. Was für Arbeit? fragte August, als er noch ein kleines Kind war. Na, Arbeit halt! sagte seine Mutter, damit dein Vater Geld verdient. Sein Vater war oft arbeiten, und manchmal kamen die Leute, mit denen Vater arbeitete, vorbei, und fragten, wo Vater ist, und Mutter sagte diesen Leuten, dass sie nicht weiß, wo er ist. Aber August wusste, dass Mutter wusste, wo Vater ist. Wenn die Leute wieder weg waren, sagte Mutter zu August: Dass du denen fei ja nicht sagst, wo der Vater ist! Hast mich verstanden! Oft kam Vater tagelang nicht nachhause, und August fragte seine Mutter, warum Vater tagelang nicht nachhause kommt, und Mutter sagte nur: O mei Bub, und August fragte, ob er sich denn vor den Leuten versteckt, die immer vorbeikommen und fragen, wo er ist.

August fragte seine Mutter auch, warum denn die Augustenstraße, in der sie wohnten, so heißt wie er? A geh, sagte die Mutter, die heißt doch nicht so wie du, die ist nach irgendsoeiner adligen Thusnelda namens Auguste benannt, die keine Ahnung vom Leben hatte und trotzdem glaubte, einen besseren Dreck zu scheißen als Leute wie wir. Mutter, fragte August weiter, was ist denn das für eine gelbe Kirche, die man am Ende der Augustenstraße sieht? Das ist St. Joseph, und hinter St. Joseph hört die normale Welt endgültig auf, da wohnen die Großkopferten, die glauben, dass sie was Besseres sind als wir. Da brauchst nie hingehen, Bub! Geh immer in die andere Richtung, zum Bahnhof, denn da gibt’s Arbeit.

Am Beginn der Augustenstraße

Eines Tages weinte und fluchte Augusts Mutter, und August fragte, was los ist, und Mutter sagte, dass der Vater nicht mehr nachhause kommt. Wieso denn? fragte August. Muss er so viel arbeiten? Nein. Derschossen haben’s ihn, diesen Deppen, weil er nicht aufgepasst hat. Derschossen, bei der Arbeit? Ja, derschossen bei der Arbeit. Zuviel beschissen hat er die anderen, dein Vater. Man darf schon ein bisserl bescheissen, wahrscheinlich muss man sogar ein bisserl bescheissen, um was abzukriegen vom Kuchen, aber man darf’s nicht übertreiben, weil wenn die anderen merken, dass sie beschissen werden, dann werden sie zornig und derschießen einen. Dann weinte und fluchte sie wieder. August, sagte sie, jetzt musst du Geld verdienen. Geh gleich zum Bahnhof und schau dass du ein Geld verdienst. Und August, obwohl noch mehr Junge als junger Mann, ging zum Bahnhof und schaute, dass er ein Geld verdient. Er machte alles Mögliche, um ein Geld zu verdienen, und traf dabei Leute, von denen er sich nach einiger Zeit sicher war, dass sie es waren, die den Vater derschossen haben. Aber es half ja nichts: Er musste Geld verdienen, und wenn es sein musste, dabei auch diese Leute bescheissen, die seinen Vater derschossen haben. Das Wichtigste war, Geld nachhause zu bringen, für sich und die Mutter.

Einmal saß August zuhause und zählte das Geld und hatte plötzlich das Gefühl, dass er die Leute, denen er das Geld abgenommen hatte, ein bißchen zuviel beschissen hatte. Er bekam Angst. Würden sie jetzt kommen und ihn derschießen, wie den Vater? In seiner Angst beschloss er, die Augustenstraße in die andere Richtung entlangzulaufen, Richtung St. Joseph, denn dort würden sie ihn bestimmt nicht suchen. Auch wenn seine Mutter gesagt hatte, dass er da nicht hingehen braucht.

In der Augustenstraße

Viele Läden hier, dachte sich August, als er die Augustenstraße entlangging, und viel zu essen kann man kaufen. Verhungern tut man hier nicht, wenn man Geld hat. Aber es gibt immer weniger Leute, für die ich arbeiten kann, je weiter ich gehe. Hier kriegt man kein Geld, hier hat man es. Nach etwa einer Viertelstunde erreichte er St. Joseph und staunte über die große Kirche. Er setzte sich auf die Stufen vor dem Eingang und schaute auf den Platz vor sich. Eltern saßen und Kinder spielten. Sind das die Großkopferten, von denen Mutter spricht? Es war ruhig und friedlich. Ungewohnt. Eine andere Welt. Hier hatte er jedenfalls keine Angst, derschossen zu werden.

Ankunft am Josephsplatz

zweiter Teil

Marionette (nicht zuhaus)

Marion fand es nett bei Bernadette und Henriette und blieb über Nacht bei ihnen im Bett. Papa war zuhaus in seinem Bett, und starrte am Morgen auf den Plafond. Neben ihm schlief noch Maman.

Papa überlegte sich folgendes Morgenprogramm: Wecken und necken und lecken, dann recken und strecken und stecken. Da erwachte Maman und fragte: Wo ist Marion? Die ist bei Bernadette und Henriette. Marion dachte im selben Instant: Es wäre doch nett, ich hieße Marionette, dann passte ich besser zu Bernadette und Henriette.

Papa und Maman starteten ihr Morgenprogramm, und weckten und neckten und leckten, und reckten und streckten und steckten. Marion kam nachhaus und rief aufgeregt: Es war so nett bei Bernadette und Henriette, und ich heiß jetzt übrigens Marionette. Hast du denn Hunger? fragte Maman. Nein, sagte Marion: Zu essen gab’s Ecke, zum Haupttisch Schnecke, zum Nachtisch Nussecke.