Drei Katzenkinder und Emil von vor vielen Jahren

Diese Woche durfte ich dem freudigen Ereignis einer Katzengeburt beiwohnen. Drei Stück wurden geboren, zwei Mädchen und ein männlicher Nachzügler. Der hatte einen recht großen Kopf und daher eine etwas anstrengende Geburt. Das Ereignis lässt sich am besten so zusammenfassen:

Zwei Katzenkinder auf der Welt:
Beate und Renate.
Das dritte kommt mit rotem Kopf,
das nennt man dann – Tomate.

Außerdem habe ich am Dienstag, dem 20. Oktober, wie jedes Jahr mit einer großen Feier meinen halben Geburtstag zelebriert. (Mein ganzer ist am 20. April.) Da ich allmählich in ein Alter komme, wo ich ab und zu auch zurückblicke, habe ich auf dieser Feier spontan die Rubrik „Emil von vor vielen Jahren“ erfunden, um folgende Geschichte aus meinem Frühschaffen vorzutragen. Es handelt sich um ein Historiendrama mit dem bedeutungsschweren Titel „Firmians Erkenntnis“. Die Verhandlungen mit dem ZDF zur Verfilmung laufen:

Firmians Erkenntnis

Damals in Debalzewe

Im Februar dieses Jahres ließ mich eine Nachricht aufhorchen: Die heftig umkämpfte ostukrainische Stadt Debalzewe ist bei Kämpfen zwischen prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee völlig zerstört worden. Man wisse nicht, wieviele der geschätzten fünftausend verbliebenen Einwohner die Kämpfe überlebt haben. Mir gefiel der Name dieser Stadt: Debalzewe. Umso tragischer empfand ich es, dass diese Stadt nun zerstört ist. Erst jetzt wusste ich, dass es sie gibt, und musste gleichzeitig erfahren, dass es sie nicht mehr gibt.

Heute morgen, mehr als ein halbes Jahr danach, erinnerte ich mich wieder an diese Nachricht, und an die Schönheit des Namens dieser Stadt, die zerstört wurde. Aber ich wusste ihren Namen nicht mehr. Ich wusste nur noch, dass es ein schöner Name ist. Ich recherchierte im Internet und fand bald heraus, dass der Name dieser Stadt Debalzewe ist. Ich wollte mehr herausfinden. Ich wollte herausfinden, was jetzt ist mit dieser Stadt, ein gutes halbes Jahr nach ihrer Zerstörung. Doch die letzten Netzeinträge, die Debalzewe betreffen, sind vom März dieses Jahres und berichten vom großen Ausmaß der Zerstörung.

Ich recherchierte weiter, was davor war in Debalzewe, vor den Kämpfen im Februar. Die Stadt ist ein strategisch wichtiger Verkehrsknotenpunkt, vor allem der Eisenbahn. Wegen der Eisenbahn wurde sie 1878 als kleines Dorf gegründet, wuchs zu einer Stadt heran, ehe sie von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Danach wurde sie von den Russen wieder aufgebaut, ehe sie im Februar dieses Jahres von den Russen wieder zerstört wurde. Gibt es Menschen in Debalzewe, die beide Zerstörungen erlebt haben?

Wieso übt der Name Debalzewe eine derartige Faszination auf mich aus? Ich glaube nicht, dass einer meiner Großväter mir als Kind eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt hat mit dem Titel Damals in Debalzewe und sie deshalb noch so schön in meinen Ohren nachklingt. Oder doch? Wie wäre es, nach Debalzewe zu reisen? Züge fahren keine mehr seit den Kämpfen. Mit dem Auto sind es laut Google von München aus 2.528 Kilometer zu fahren. Es gibt lediglich zwei Baustellen auf der Route, eine in Polen, eine in der Zentralukraine. Fahren wir nach Debalzewe – wer kommt mit? Am besten jemand, der Russisch kann oder Ukrainisch oder noch besser beides… Das könnte über Leben und Tod entscheiden.

25.000 Menschen lebten bis 2014 in Debalzewe, vor den Kämpfen wurden die meisten von ihnen evakuiert. 5.000 aber sind geblieben. Wo sind die 20.000 Evakuierten hin? Gibt es die 5.000 noch, die geblieben sind? Wieviele sind bei den Kämpfen gestorben?

25.000 Menschen aus Debalzewe gegen Millionen von Menschen, die gerade nach Europa flüchten. Aus 2.528 Kilometern Entfernung schreibe ich betroffene Worte, die doch keine Ahnung vermitteln. Denn ich war nicht dabei, gottseidank, damals in Debalzewe.

Goldener Herbst, zwei bis drei Sekunden lang

Ich habe heute nicht viel zu sagen. Es ist eine Woche vergangen seit letztem Donnerstag. Es wäre also die Geschichte dieser vergangenen Woche zu erzählen. Ich bin ein Freund der Chronologie. Ich werde nun eine Chronologie der Ereignisse liefern, der Ereignisse seit letztem Donnerstag.

Der Herbst ist golden, wird jeden Tag goldener. Wohin wird das führen? Zu goldenen Blättern. Die Blätter werden fallen. Doch noch sind die meisten an den Bäumen, bis der erste nächtliche Frost sie lockert.

Das Glück des Lebens ist eine Momentaufnahme von maximal zwei bis drei Sekunden, die mich sprachlos macht. Wieviele Momente passieren in einer Woche? Die Vergangenheit ist vergangen. Zu oft missbrauche ich sie als Erklärung für meine Gegenwart. Die Gegenwart ächzt unter diesen Vergangenheitsbeschwichtigungen. Ehe ich die Gegenwart greifen kann, ist sie vergangen, obwohl sie gerade noch Zukunft war.

Die Chronologie der Ereignisse der vergangenen Woche mündet darin, dass ich sie nun niederschreibe. Am wichtigsten scheint mir zu sagen, was die vergangene Woche betrifft, dass der Herbst golden ist und jeden Tag goldener wird. Doch das habe ich bereits gesagt.

Es gibt noch etwas, das ich erwähnen möchte: Ich habe viele Leute getroffen letzte Woche. Manche lächelten, manche waren traurig, aber die meisten waren – gar nichts. Die haben nicht geschaut mit ihren Augen, die waren nicht hier. Es ist schade, dass sie nicht hier sind. Aber es ist ihre Sache. Ich lerne, dass Leute nicht hier sein wollen, in diesen zwei bis drei Sekunden der Gegenwart.

Ich wollte auch mal nicht hier sein, und jetzt weiß ich warum: Weil mir diese zwei bis drei Sekunden viel zu unbedeutend erschienen, um ihnen Beachtung zu schenken. Ich sah das Leben in großen Chronologien der Ereignisse, und die Größe dieser Ereignisse gab meinem Leben erst Bedeutung. So bemerkte ich nicht, dass ich es versäume, in diesen zwei bis drei Sekunden Dinge zu entscheiden und zu tun, die meinem Leben Richtung geben. Ich wurde entschieden und getan und mein Leben hat gewissermaßen ohne mich gelebt. Mein Leben ohne mich – ist das nicht gelebtes Unglück?

Soeben habe ich entschieden, weiterzuschreiben. Ich möchte noch einmal betonen, dass der Herbst golden ist, seit einer Woche, und immer goldener wird. Ansonsten gibt es nichts zu sagen, was ich im Moment sagen könnte. Weil ich sprachlos bin vor Glück.

Stehen auf dem Gehsteig

Ich stehe auf dem Gehsteig und stelle mir vor, dass ich auf dem Gehsteig liege. Die ernsten Dichter werfen schwere Worte auf mich. Die Surrealisten schütteln ihre Wortkalauer durch die Gegend. Die Wortkalauer schweben unreflektiert davon und bleiben an den Häuserfassaden hängen.

Ich liege nicht auf dem Gehsteig, denn auf dem Gehsteig geht man. Ich stehe auf dem Gehsteig. Da kommt einer vorbei und sagt zu mir: „Geh doch, das ist doch kein Stehsteig!“ Ich gehe einen Schritt zur Seite und sage: „Ich mache dir Platz, dann kannst du gehen auf deinem Gehsteig. Und ich bleibe stehen auf meinem Stehsteig.“

„Da legst dich nieder, bei dem was du daherredest!“ sagt der Geher im Vorbeigehen. Der Bayer sagt das gerne, dass du dich niederlegst. Er verlangt nach so einer Aussage jedoch nicht von seinem Gegenüber, dass er sich niederlegt noch legt er sich selber nieder, sondern drückt dadurch sein Erstaunen aus. Trotzdem greife ich seine Worte gerne auf:

„Das wollte ich machen, mich niederlegen, aber Niederlegen, dachte ich mir, wäre doch eine grobe Nutzentfremdung eines Gehsteigs.“ Ich überlege kurz, ob ich Dichter und Surrealisten erwähnen sollte. Ich erwähne sie nicht.

Der Geher legt sich, wie zu erwarten war, nicht nieder, bleibt aber stehen. Ich stelle fest: Wir stehen beide auf dem Gehsteig. Oder ist es jetzt ein Stehsteig? Die schweren Worte der ernsten Dichter liegen unter uns. Beim Blick auf die Häuser fällt mir auf, dass die Kalauer der Surrealisten lustig an deren Fassaden hängen. Es gefällt mir, wie wir beide so auf dem Gehsteig stehen.

App-Laus

Ich möchte auf folgende Frage zurückkommen: Wieso spricht man von Lausbuben und nicht von Lausmädchen? Die Haarpracht der Mädchen bietet oft eine reichere Fülle als die der Buben. Die Läuse haben dort mehr Platz, sich einzunisten. Es ist also anzunehmen, dass Läuse Mädchenköpfe Bubenköpfen vorziehen. Bei den Buben ist es ja zudem so: Wenn sie älter werden und sich gern Männer nennen, verlieren sie oft ihr Kopfhaar, sodass für die Laus wenig bis gar kein Platz zum Verstecken bleibt. Manche der Buben rasieren sich gar freiwillig die Haare vom Kopf. Dafür beobachte ich neuerdings, dass viele sich einen umso mächtigeren Bart im Gesicht wachsen lassen, der wiederum ein hervorragendes Rückzugsgebiet für Läuse darstellt. Mädchen, die sich mit solchen bärtigen Buben einlassen, rechnen wohl mit lausigen Küssen. Oder haben gemerkt, dass nicht die Haare, sondern der Bart einen Buben zu einem Lausbuben macht.

Aber ich will nicht zu negativ werden. Neben der Kopf- beziehungsweise Bartlaus gibt es eine Laus, die durchaus positive Gefühle weckt, nämlich die Applaus. Schauspieler und Bühnenschaffende freuen sich sehr über ihr Erscheinen. Sie können süchtig werden nach dieser Laus, und bleibt sie aus, kann sie das in eine schwere Schaffenskrise stürzen. Nun hat sich neuerdings eine Unterart der Applaus entwickelt, die zwiespältige Gefühle in mir hervorruft: Die sogenannte App-Laus (sprich: Äpp-Laus). Die App-Laus nistet sich in jeglichen Smartphones ein und befällt die auf ihr gespeicherten Anwendungen. Benutzt jemand auf seinem Smartphone so eine befallene App, sorgen die App-Läuse dafür, dass derjenige seinen Blick nicht mehr von seinem Smartphone abwenden kann. Das habe ich schon mehrmals beobachtet. Rote Ampeln, hupende Autos – alles ist ihm egal, weil ihn die App-Laus in seinem Bann hält. Nicht der Affe laust, sondern die App. Ich brauche nicht hinzuzufügen, dass so eine befallene App lebensgefährlich ist. Wäre es nicht sinnvoll, zu warnen vor diesen lebensgefährlichen Kreaturen? Doch ich weiß nicht, ob Warnen etwas bringt.

Vor kurzem war ich wandern und sah einen, der Steine einsammelte. Das ist nicht gefährlich, doch plötzlich nahm er die Steine in den Mund und verschluckte sie. Ich sagte zu ihm: Iss doch keine Steine!, woraufhin er brüsk antwortete, es sei seine Entscheidung, ob er Steine esse oder nicht und dass mich das überhaupt nichts angehe. Er schickte mich weiter, sagte, ich solle verschwinden. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich, wie er einen richtig großen Stein verschluckte. Mich würgte es bei dem Anblick. Jemand hat mir erzählt, dass er daran gestorben sei, an seinem Steineschlucken. Ich stellte mir vor, wie so ein harter Stein seinen weichen und gewundenen Darm durchbohrte und er unter großen Schmerzen elendig verreckte. Steineschlucken ist also gefährlich. Soll man jetzt vor Steinen warnen? Soll man Gebiete, in denen Steine vorkommen, zu Sperrgebieten erklären?

Als Erklärung für das Verhalten dieses Mannes könnte ich in Betracht ziehen, dass die Steine, die er verschluckte, wohl von der Steinlaus befallen waren. Oder tue ich den Läusen unrecht, wenn ich sie für alles verantwortlich mache, was mir nicht gefällt? Vielleicht gibt es die App-Laus gar nicht und ich habe sie nur erfunden? Das wäre wissenschaftlich noch zu untersuchen.

Fest im Fluss

Fremd ist der Fremde nur in der Fremde, sagt Karl Valentin. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich nur in der Fremde bin, wenn ich nachts in meine Träume versinke.

Ich habe mir als Kind die Gewissheit erworben, dass ein Fluss etwas Trennendes ist. Auf der einen Seite des Flusses ist dieses Land, auf der anderen Seite jenes Land. Obwohl die Länder auf beiden Seiten des Flusses sich sehr ähneln, hat der Fluss irgendwann entschieden, das Land in zwei Hälften zu teilen. Die Menschen auf beiden Seiten des Flusses akzeptieren diese Entscheidung. Sie akzeptieren diese Entscheidung nicht nur, sie sind dem Fluss sehr dankbar dafür. Warum sollten sie sonst an den Brücken über den Fluss bewaffnete Männer aufstellen, um dem Fluss bei seiner Trennung hilfreich beizustehen?

In meinem Traum stand ich am Ufer des Flusses. Am anderen Ufer stand mir eine ganze Heerschar von Menschen gegenüber. Diese Heerschar rief laut im Chor: „Wir wollen nichts mit dir zu tun haben!“ Der Fluss hat gut entschieden, dass er uns trennt, die Heerschar und mich. Denn ich möchte sagen, dass die Heerschar am anderen Ufer einen recht wütenden Eindruck auf mich macht. Der Fluss ist quasi ein gottgegebenes Sperrgebiet, das Trennung und Distanz aufrechterhält. Ich könnte doch jetzt meinen Traum beenden und beruhigt weiterschlafen.

Doch dann steige ich in den Fluss. Zuerst mit den Beinen, dann bis zur Hüfte und schließlich mit dem ganzen Körper. Das Wasser trägt mich. Wo sind sie, die am anderen Ufer? Habe ich den Kopf über oder unter Wasser? In der Mitte des Flusses liegt ein Stein, ein großer Stein, ein Felsen. Ich komme auf ihm zum Stehen. Ich stehe auf dem Stein und sehe sie wieder, die Heerschar am anderen Ufer. Vielleicht erinnere ich mich falsch, doch ich habe ihre Gesichter starr in Erinnerung. Diese Starre hält an, bis ein schriller Ruf ertönt, der so gar nicht in diese Starre passen will.  Der schrille Ruf bringt Unruhe in die Heerschar am Ufer. Ratlose Blicke. Hat einer von ihnen diesen Schrei ausgestoßen?

Ich stehe auf dem Stein. Das Wasser des Flusses umtost mich, aber reißt mich nicht fort. Das ist nicht logisch, dass ich so fest im Fluss stehe, obwohl mich das Wasser umtost. Doch muss es logisch sein? Ich habe ohnehin den Eindruck, dass sich das Leben konsequent jeder Logik entzieht und trotzdem verstanden werden kann. Träume ich? Bewegung am Ufer. Ist das die Suche nach dem schrillen Schreier? Wieso suchen sie den schrillen Schreier? Suchen sie den schrillen Schreier? Sie bewegen sich, stolpern über Wurzeln und Gras. Viele verschwinden hinter den Büschen am Ufer. Plötzlich springt einer von ihnen mit einer heftigen Bewegung aus den Büschen und steht am Wasser. Ein paar hinter ihm, die sich gerade davonmachen wollten, bleiben auch stehen. Was passiert jetzt? Dann, plötzlich, überraschend, wie sein Sprung soeben aus den Büschen, nicht vorhersehbar, nicht vorhergedacht, stürzt er sich ins Wasser des Flusses. Die anderen hinter ihm, die sich davonmachen wollten, bleiben wie angewurzelt stehen ob der Unvorhersehbarkeit und Undenkbarkeit dieses Moments. Er strampelt und rudert im Wasser, er findet keinen Halt. Vielleicht will er keinen Halt, denn es sieht so aus, als ob er es genießt, sein Strampeln und Rudern. Ein wahres Fest im Fluss scheint er zu feiern. Die anderen am Ufer wollen ihm folgen und stolpern dabei über Wurzeln und Gräser und über sich selbst. „Entsetzlich, entsetzlich!“ rufen sie, während sie so dahinstolpern, und sind gleichzeitig fasziniert von dem, der sich da im Fluss treiben lässt. Hat der Fluss entschieden, das Land nicht mehr in zwei Hälften zu teilen? Darf der Fluss denn das, mir diese Gewissheit nehmen? Oder hat er sie mir gar nie gegeben und ich habe sie mir nur genommen?

Plötzlich, wieder nicht vorhersehbar, nicht vorhergedacht, baut sich eine Brücke auf über dem Fluss. Ein Bewaffneter steht auf dieser Brücke und zielt mit seinem Gewehr auf den Rudernden und Strampelnden im Fluss. Laute Entsetzensschreie der Ufergesellschaft. Ein Fallen und Stolpern, ein Stöhnen und Ächzen im Gebüsch. Der feste Stein unter mir löst sich und ich falle. Plötzlich ist auch der Fluss mit seinem Wasser unter mir weg und ich falle und falle und… jetzt bin ich aufgewacht.

Bin ich jetzt zurückgekehrt aus der Fremde meiner Träume in mein wirkliches Leben?

Es gibt viel zu erzählen (Geschichte eines Sommerabends)

Es gibt viel zu erzählen, doch zunächst nur Folgendes:

An einem großen Sommerabend sitze ich klein im Gras. Ich sitze unter einer alten Linde, die ihre Blätter schützend über mich hält. Die alte Linde bildet freistehend das Zentrum der Wiese, auf der ich mich befinde. Rechts von mir, etwa vierzig Meter entfernt, oder auch fünfzig, ist eine Allee. Rechts von mir, das ist westlich, denn ich sitze mit dem Kopf nach Süden gerichtet. Ich drehe meinen Kopf nach rechts und sehe auf die Allee. Von der Entfernung kann ich Lärchen, Kiefern und auch Laubbäume erkennen. Die Bäume stehen in unregelmäßigen Abständen. An einer Stelle, neben zwei Kiefern, ist ein Loch in der Allee, und ich sehe eine weitere Wiese dahinter. Ist es etwa keine Allee, wegen diesem Loch? Und dann noch die unregelmäßigen Abstände zwischen den Bäumen? Ich bleibe dabei, es ist eine Allee. Sie begrenzt in gewisser Weise meinen Erlebnisradius.

18:23 Uhr. Die Sonne steht schon tief über den Bäumen der Allee. Vor den Bäumen der Allee will ein Junge Volleyballspielen lernen, doch sein Vater, der bei ihm ist, will es nicht. Er sagt immer wieder zu seinem Sohn, was er alles falsch macht. Der Sohn verzagt. Was will der Vater von seinem Sohn? Ist denn dieser Mann der Vater dieses Jungen? Der Schatten der Bäume der Allee erreicht mich bald. Die Sonne wird bald hinter den Bäumen der Allee versinken.

Etwa vierzig Meter links von mir, oder auch fünfzig, in jedem Fall östlich von mir, sehe ich eine prächtige alte Esche im Sonnenlicht. Der Schatten wird die Esche später erreichen als die Linde, unter der ich sitze. Soll ich zur Esche gehen und mich unter ihre Blätter setzen?

18:36 Uhr. Der Schatten schreitet voran. Zwei merkwürdige Männer mit dunklen Sonnenbrillen fahren kurz nacheinander mit Fahrrädern im Slalom über die Wiese. Was suchen diese Männer? Sie fahren ganz nah an einer Frau vorbei, die vor mir, also südlich von mir, im Gras sitzt. Diese Frau sitzt, von mir aus gesehen, hinter ihrem Fahrrad. Ihr Fahrrad liegt vor ihr im Gras und auf den Lenker des Fahrrads hat sie ein Handtuch gehängt. Sie hält sich ihr Handy ans Ohr. Ihr Mund ist dabei von dem Handtuch verdeckt, das über dem Lenker hängt. Ich höre sie nicht sprechen und wegen des Handtuchs sehe ich auch keine Bewegungen ihrer Lippen. Spricht sie? Ich vermute es, doch aussehen tut es für mich, als hätte sie Ohrenschmerzen und hielte sich zur Linderung derselben das Handy ans Ohr. Gibt es vielleicht eine App gegen Ohrenschmerzen? Wie funktioniert so eine App? Ich beschließe, dass es so etwas nicht gibt, eine App gegen etwas, sondern nur eine App für etwas. Ich finde das sehr vernünftig, dass Apps nur für und nicht gegen etwas sein können, weiß aber nicht, ob das stimmt. Das Handtuch hat sich mittlerweile verschoben oder die Frau hat ihre Position um einige Zentimeter geändert, so genau konnte ich das nicht beobachten. Ich sehe jedoch jetzt die Bewegungen ihrer Lippen und kann annehmen, dass sie in ihr Handy spricht und keine Ohrenschmerzen hat. Obwohl ich sie immer noch nicht höre.

Links hinter der Frau mit dem Handy am Ohr, also, um genau zu sein, süd-süd-östlich von ihr, sehe ich ein junges Pärchen. Es ist ein heterosexuelles Pärchen, also ein junger Mann und eine junge Frau. Er liegt auf dem Bauch mit dem Gesicht in meine Richtung. Wenn ich ein Brasilianer wäre, würde ich die beiden nicht als Pärchen identifizieren, denn ich habe gehört, dass ein Brasilianer, wenn er einen Mann auf dem Bauch liegen sieht, ihn als homosexuell identifiziert. Ich weiß aber nicht, ob das stimmt. Ich bin jedenfalls kein Brasilianer und identifiziere deshalb den jungen Mann als männlichen Teil eines heterosexuellen Pärchens. Der junge Mann, der auf dem Bauch liegt, futtert schon seit geraumer Zeit Diverses in sich hinein, während die junge Frau, die neben ihm sitzt und mutmaßlich seine Partnerin ist, nur sehr selten einen Happen zu sich nimmt und ansonsten gelangweilt neben ihm sitzt. Die beiden sehen aus – für mich, nicht für einen Brasilianer – wie ein Pärchen, dass ein Pärchen ist, weil es ein Pärchen ist. Jetzt zieht sie ihr Oberteil an, während er ungerührt weiterfuttert, mit Kaubewegungen wie eine Kuh beim Wiederkäuen. Doch es war untrüglich ein Zeichen von ihr, das Anziehen des Oberteils. Ein Zeichen, dass sie gehen will. Ihr Blick ist jetzt strenger ob seiner Ignoranz. Zur weiteren Recherche ihrer Beziehung wäre es das beste, aufzustehen, zu ihnen hinüber zu gehen und sie darüber zu befragen. Doch das erscheint mir unangebracht.

19:00 Uhr. Der Versuch des Volleyballspielens wurde bereits seit geraumer Zeit eingestellt. Die Frau hat das Handy nicht mehr am Ohr und packt ihre Sachen. Ich sitze längst im Schatten. Der Schatten wird bald die Esche weiter östlich erreichen. Ich werde nicht mehr zur Esche gehen und mich nicht mehr unter ihre Blätter setzen. Wenn ich doch zur Esche ginge – in welche Richtung würde ich mich setzen, wenn ich mich unter die Esche setzen würde? Würde ich mich wieder mit dem Gesicht Richtung Süden setzen, wie jetzt unter der Linde, oder Richtung Westen, um zu warten, bis die Sonne das Loch in der Allee neben den zwei Kiefern erreicht, oder Richtung Osten, um die Baumwipfel zu betrachten, die noch von der Sonne bestrahlt werden? Es würde eine völlig neue Erzählung erfordern, weil sich meine Perspektive völlig geändert hätte. Vorne, links und rechts wären etwas völlig Anderes als bisher. Ich würde die Regungen und Bewegungen der Leute um mich herum völlig anders wahrnehmen.

Ich werde nicht mehr zur Esche gehen und mich nicht mehr unter ihre Blätter setzen. 19:06 Uhr. Der Schatten hat den Stamm der Esche erreicht. Ein sanfter Wind fährt in die Blätter der Linde über mir. Eine Krähe flattert im Geäst. Es gibt viel zu erzählen…

Deutschstunde mit Vera

Ich frage Vera:
Was unterscheidet Verse
von der Ferse?

Sie sagt:
Phonetisch nicht sehr viel,
das Orthographisch-Semantisch-Visuelle kommt ins Spiel.

Ich schreibe:
Danke Wera
für diese wisuelle Worterläuterung.
Phonetisch betrachtet
bleib ich lieber stumm.

Die Dinge der Welt

Mein Freund Georg ist ein ordnungsliebender Mensch, und nichts liebt er mehr, als Dinge in eine Struktur zu bringen. Da ihn jedoch seine Beziehungen mit der Welt regelmäßig in ungeordnete Krisen stürzen, hat er neuerdings die Philosophie als Disziplin für sich entdeckt. Er studiert in letzter Zeit Buch über Buch, gerät dabei jedoch zunehmend in Unruhe.

Ich sitze mit ihm am Tisch, als er zu mir sagt: „Lieber Emil! Was ich erkenne ist, dass die Philosophie viel mit den Dingen dieser Welt zu tun hat. Meine Bücher bringen mich da nicht weiter. Das ist zu theoretisch.“
Er macht eine kurze Pause. Ich signalisiere ihm, er solle fortfahren. Was er tut.
„Lieber Emil, du bist doch ein Mensch, der sich viel mit den Dingen der Welt beschäftigt. Könntest du nicht mal rausgehen zu den Dingen der Welt, fort von den Büchern, und mir dann berichten, was du erfahren konntest?“

Es erscheint mir eine große Aufgabe, die mein Freund Georg mir da stellt. Doch er hat Recht – nichts interessiert mich mehr als die Dinge der Welt. Meine Neugier ist grenzenlos. Ich verspreche also, mich um sein Anliegen zu kümmern.

Eine große Aufgabe beginnt man am besten mit kleinen Schritten. Ich gehe raus ins Freie, das erscheint mir sinnvoll. Da finde ich die Dinge der Welt am ehesten, glaube ich. Ich sehe eine Pflanze am Wegrand stehen. Sie ist zweifelsohne ein Ding der Welt. Ich frage sie: „Wie geht es dir in deinem Grünsein?“ Sie gibt mir keine verbale Antwort. Natürlich nicht. Das wäre doch eine große Überraschung, wenn mir die Pflanze eine verbale Antwort gäbe. Doch gibt sie mir wirklich gar keine Antwort? Sie erscheint mir plötzlich viel grüner als wenn ich sie nicht gefragt hätte. Ich treffe einen Mann und frage ihn: „Wie geht es dir in deinem Mannsein?“ Er schaut mich irritiert an und sagt: „Sonst geht’s dir gut? Du hast vielleicht Probleme!“ Dann geht er weiter. Ich treffe ein Kind und frage es: „Wie geht es dir in deinem Kindsein?“ „Ich verstehe deine Frage nicht“, sagt das Kind, „aber sie ist lustig. Wollen wir etwas spielen?“ Gerne würde ich mit dem Kind etwas spielen, aber ich habe eine Mission: etwas zu erfahren über die Dinge der Welt.

Allmählich denke ich mir jedoch, dass mich diese Fragerei nicht weiterbringt. Ich sollte mich aufs Beobachten verlegen. Ich beobachte Menschen. Sie scheinen ganz nett miteinander umzugehen, doch ich werde das Gefühl nicht los, dass sich viele von ihnen dauernd anschreien mit ihren Blicken und Gesten. Sie haben gequälte Gesichter. Ich erinnere mich an meine Großmutter, die hatte oft ein gequältes Gesicht. Aber sie hat nie erzählt, was sie denn so quält. Einmal habe ich sie so lange getriezt deswegen, bis sie zwar nicht geschrien, aber geweint hat. Es klingt komisch, aber das war der schönste Moment, den ich mit meiner Großmutter hatte. So nah waren wir uns vor diesem Moment nicht und danach auch nie mehr wieder. Soll ich die Menschen, die ich beobachte, die scheinbar so nett miteinander umgehen, fragen, ob sie, nur für eine Minute, mal offen miteinander schreien? Vielleicht würde das ihre Gesichter von den gequälten Ausdrücken befreien? Ich befürchte, viele von ihnen würden sagen: Wenn ich zu schreien anfange, müsste ich mich selbst erklären. Das will ich vermeiden. Ich bleibe lieber stumm. Und außerdem: Wenn jeder schreit, wo kommen wir denn da hin? Doch ich will ja keine Fragen mehr stellen, nur beobachten. So ein Gesichtsausdruck sagt mehr als tausend Worte, die ihn widerlegen oder verheimlichen wollen, denke ich mir.

Ein weiterer Gedanke kommt während des Beobachtens zu mir: Der Mensch ist immer auf sich selbst zurückgeworfen. Wenn das stimmt, wieso fällt es mir dann so schwer, mich mit mir selbst zu befassen? Wieso ist es ein scheinbar automatisiertes Muster, auf andere zu zeigen, obwohl ich selbst der Betroffene bin? Was ist so schlimm an mir, dass mir dabei unbehaglich werden könnte? Mir kommt jetzt die entscheidende Frage in den Sinn, die ich mir zu stellen habe: „Emil, wie geht es dir in deinem Emilsein?“ Das ist die entscheidende Frage, und nur wenn ich sie mir beantworte, können die Dinge der Welt einen Sinn für mich ergeben.

Ich breche meine Beobachtungen ab und gehe voller Freude über diese Erkenntnis zu Georg. Ich setze mich zu ihm und sage: „Georg, wenn du den Dingen der Welt auf den Grund gehen willst, dann frage dich zuallererst: ‚Georg, wie geht es dir in deinem Georgsein?‘ Als ich mir selbst diese Frage stellte, erschienen mir die Pflanzen plötzlich viel grüner, die Menschen viel menschlicher und die Sonne viel heller.“

„Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, musstest du rausgehen? Das ist herzlich wenig. Ich habe dich losgeschickt, um etwas über die Dinge der Welt zu erfahren, und du wirfst mir alles wieder zurück? Hättest du mir das nicht gleich sagen können?“

„Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen“, murmle ich für mich, durch Georgs Aussage an meinen eigenen Gedanken mich erinnernd.
„Was?“ fragt Georg
„Nein“, sage ich, „hätte ich nicht. Ich hätte es dir nicht gleich sagen können“, beantworte ich Georgs Frage.
„Nein! Was du gerade gemurmelt hast meine ich!“
„Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen.“

Enttäuscht wendet Georg seinen Blick von mir ab. Er sieht zum Fenster hinaus und beachtet mich nicht mehr. Ein gequälter Ausdruck liegt in seinem Gesicht. Ein stiller Schrei liegt in der Luft. Ich entscheide mich zu gehen. Georg jetzt allein zu lassen erscheint mir das einzig Sinnvolle. Leise schließe ich die Tür. Ein Gedanke kommt zu mir: Um sich selbst zu erfahren, geht der Mensch hinaus zu den Dingen der Welt und begegnet ihnen.

„Emil, wie geht es dir in deinem Emilsein?“ frage ich mich. Ich gehe hinaus in den Tag, der noch lange nicht zu Ende ist.

Welt Wer Worte