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Gelzer und Gürzer

In einer Wirtschaft in Weichering machte sich ein Mann namens Gelzer Gedanken über die Wirtschaft und dachte sich: Wirtschaften tut der Mensch, um zu leben. Was hat der Mensch zum Wirtschaften? Er hat seine Umwelt, die Erde, und sich selbst, seine Arbeitskraft. Das haben Tiere auch. Also versuchen Menschen und Tiere jeden Tag, kraft ihrer Arbeit ihrer Umwelt das zu entnehmen, was sie zum Leben brauchen. Das ist also das ganze Wirtschaften, dachte sich der Mann namens Gelzer in der Wirtschaft in Weichering.

In einer Wirtschaft in Wasserburg fragte sich ein Mann namens Gürzer, was Menschen von Tieren unterscheide und rief zu diesem Zweck Gelzer in Weichering an. Gelzer sagte daraufhin zu Gürzer, er habe gerade festgestellt, dass Menschen und Tiere, was das Wirtschaften betrifft, sich nicht unterscheiden.

Gelzer bezahlte daraufhin in der Wirtschaft in Weichering, und während des Bezahlens dachte er: Das ist es, was Menschen von Tieren unterscheidet – das Geld. Gelzer dachte weiter: Der Mensch kann seine Arbeitsleistung speichern, und zwar mit Geld. Wenn er gerade nichts benötigt, legt er seine Leistung in Geld an, um später etwas dafür zu bekommen. Wie klug der Mensch ist, das Geld erfunden zu haben, dachte sich Gelzer. Er ging zufrieden nachhause und träumte davon, viel Geld zu besitzen.

Am nächsten Morgen rief Gürzer Gelzer an und sagte ihm, dass er dreißig Millionen Euro in bar besitze und dass er diese auf der Stelle los werden möchte. Er habe nämlich davon geträumt, regelmäßig viel Geld zu bekommen, aber keines mehr zu besitzen. Er sei gestresst von der jahrelangen Geldbesitzerei und seinem zwanghaften Bemühen, es werthaltig zu halten.

Gelzer meinte, dass er ohnehin gerade geträumt habe, viel Geld zu besitzen und er gerne bereit sei, Gürzer die dreißig Millionen Euro abzunehmen. Doch wie willst du regelmäßig viel Geld bekommen, wenn du keines mehr besitzst? fragte Gelzer Gürzer. Indem du, der du es jetzt besitzt, es mir regelmäßig zurückzahlst. Ich habe nämlich beschlossen, wie ein Tier zu leben, ohne auf das Geld zu verzichten.

In einer Wirtschaft in Wien saß ein Quantenphysiker und dachte sich: Alles Immaterielle manifestiert sich im Materiellen. Wie passt das jetzt zum Geld von Gelzer und Gürzer?

Ausflug aufs Land (München-Pasing)

Emil, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, möchte der Enge seiner städtischen Bleibe entfliehen und für ein paar Tage aufs Land fahren. Von einem werten Kollegen hat er gehört, dass zu Pasing, westlich der Stadt gelegen, vor längerer Zeit ein Architekt eine geschmackvolle Villensiedlung im Grünen errichten ließ. Emil fährt mit der Bahn nach Pasing. Dort angekommen, verlässt er den Bahnhof Richtung Norden und findet sich in der August-Exter-Straße wieder. Hier muss es sein! Denn so hieß er, der Architekt, der hier auf grünem Land die Villen plante und errichten ließ: August Exter. Emil fühlt sich oft verbunden mit Menschen, nach denen Straßen und Plätze benannt werden. Zu oft, findet er, kommt die Würdigung bedeutender Menschen zu kurz, im Allgemeinen wie im Besonderen.

Emil geht die August-Exter-Straße entlang und sieht ein paar durchaus prächtige Gebäude. Doch insgesamt ist es ihm zu geschäftig, als dass herrschaftliche und erhabene Gefühle aufkommen könnten. Er will die Straße überqueren und wird dabei fast von einem schnöden Omnibus überfahren, der hier auch noch durchfährt. Hier will er nicht wohnen. Das ist kein landschaftliches Wohnen, das er sich vorstellt. Er beschließt, auf die Suche nach ruhiger gelegenen Villen zu gehen. Er sieht einen Herrn mit Hut und Spazierstock aus einer Seitenstraße spazieren, dessen Noblesse ihm geeignet erscheint, ihn für einen Villenbesitzer zu halten. „Verzeihung, mein Herr: Ich bin auf der Suche nach einer ruhigen Villa im Grünen; einer Villa, in der selbst der gesegnete Herr Exter mit seiner anvertrauten Gattin Luise gerne gewohnt hätte.“ Emil präsentiert stolz das Wissen über die Extersche Familie, das er sich angeeignet hat. „Da lang ist der Luisengarten, wenn Sie den meinen“, sagt der etwas verwundert dreinblickende Herr und zeigt auf die Seitenstraße, aus der er gerade gekommen ist. Emil geht die Seitenstraße entlang: Luisengarten, das ist gut – sicher benannt nach der Gattin des Herrn Exter.

Der Luisengarten

Der Luisengarten

Emil kommt an eine bayrische Wirtschaft, den Luisengarten. Da es noch warm ist, lässt er sich unter der Kastanie nieder. Er sitzt da und träumt davon, mit August Exter und Luise am Tisch zu sitzen und um die Hand einer der drei Exter-Töchter anzuhalten: Eva, Gabriele, Klara – eine schöne als die andere in seinem Kopf. Welche soll er nur nehmen? August Exter ist schon lange tot. Seine Frau auch. Seine Töchter noch nicht so lange, aber tot sind sie auch. Doch Emil lässt sich nicht beirren: Er will eine Villa finden, dort wohnen und von den schönen Exter-Töchtern träumen. Er fragt den Wirt, wo es denn hier eine von Exter erbaute Villa gebe, die ruhig und im Grünen liegt. Er, der Wirt, könne ihm doch sicher helfen, als Besitzer einer Wirtschaft, die nach der hochgeschätzten Luise Exter benannt ist. Der Wirt schweigt, sieht Emil prüfend an, meint dann: „Gehen Sie die Straße weiter, da kommen Sie an den Nymphenburger Kanal. Da ist es grün.“ „Danke“, sagt Emil und erhebt sich vom Tisch. „Und für was brauchen Sie eine Villa?“ „Zum Wohnen.“ Emil geht locker-beschwingt aus dem Wirtsgarten hinaus und weiter die Straße entlang.

Kurz vor dem Kanal mit seinem begrünten Ufer sieht er linkerhand eine schöne Villa in einem großzügigen Garten stehen. Er ist begeistert. Hier will er wohnen! Er geht zum Gartentor und klingelt. Er blickt über den Zaun und bewundert das Anwesen. Ruhig und im Grünen, sehr stilvoll. Hier will er wohnen! Er klingelt ein zweites Mal. Er versucht, die stilistischen Merkmale der Villa architektonisch einzuordnen. Doch sein Enthusiasmus weicht jäh der Ernüchterung. Noch immer öffnet niemand die Tür. Ist niemand zuhause oder hat man beschlossen, ihn am Gartentor stehen sehend, nicht einzulassen? Emil wird unsicher. Soll er nochmals klingeln? Er sieht seinen Traum vergehen, hier in dieser Villa zu wohnen. Ach Eva, ach Gabriele, ach Klara! Womit habe ich das verdient!

Emils Villa

Emils Villa

Wie ein Geschlagener trottet er die Seitenstraße zurück. In der August-Exter-Straße angekommen und auf den Bahnhof zugehend, spricht ihn eine Frau an, die gerade auf den Omnibus wartet: „Junger Mann, Sie sehen so niedergeschlagen aus. Kann ich Ihnen helfen?“ „Ich wollte in einer Villa wohnen, aber niemand war zuhause.“ „In welcher Villa?“ Emil zeigt in die Seitenstraße: „Beim Luisengarten vorbei, am Kanal.“ „Aber die Villen, die stehen doch stadtauswärts, über der Würm“, sagt die Frau. „Stadtauswärts, über der Würm?“ „Ja. Biegen Sie vor dem Bahnhof rechts ab und überqueren Sie anschließend die Pippinger Straße. Da stehen Sie dann, die Villen, in der Alten Allee und der Marschnerstraße.“ „Von August Exter erbaut?“ „Das weiß ich nicht. Kann schon sein.“ „Vielen Dank Luise!“ sagt Emil mit einem Ausruf des Entzückens und will die Frau am liebsten umarmen. „Nichts zu danken. Aber – ich heiße nicht Luise.“ „Natürlich nicht. Entschuldigen Sie, Eva! Und grüßen Sie Gabriele und Klara von mir!“ Emil marschiert schnell weiter. Die Frau, deren wahren Namen wir nicht erfahren, bleibt so verwundert stehen, dass sie vor Verwunderung den Omnibus ohne sie abfahren lässt.

Emil steht an der Pippinger Straße und ist aufgrund des vielen Verkehrs gezwungen zu warten, bevor er sie überqueren kann. Gegenüber beginnt sie, die Alte Allee. Er sieht zwei alte Villen. Die müssen wohl von Exter sein. Sie sind von Verkehr umtost. Wie Relikte aus vergangenen herrschaftlichen Zeiten stehen sie da. Das ist kein landschaftliches Leben, von dem er träumt. Als er endlich die Pippinger Straße überqueren kann, geht er hurtig an den verkehrsumtosten Villen vorbei. Er gelangt zu einer Kirche. Rechts von ihr geht die Alte Allee weiter, links beginnt die Marschnerstraße. Von beiden Straßen hat die Frau gesprochen, deren wahren Namen wir nicht erfahren haben. Welcher Straße soll Emil entlanggehen? Er entscheidet sich für die Alte Allee. Aus einem Gefühl heraus. Alte Allee klingt erhaben. Hier würde er seine Villa für das Landleben finden. Emil fallen vor allem die alten Bäume an der Alten Allee auf. Es gibt einige Villen, linkerhand, doch es gibt nach wie vor diesen Verkehr, der Emil stört. Rechterhand tut sich eine unbebaute, freie Wiese auf, an deren anderem Ende eine Kirche steht. Emil misst der Entfernung zur Kirche eine Strecke von dreihundert Metern bei. Hier noch einmal so stehen wie Exter, vor dem unbebauten Land, und im Kopf die Villen planen! Emil geht weiter und kommt an einem eher armseligen, kleinen Häuschen vorbei, das einen Outdoor-Shop beherbergt. Soll er sich ein Zelt kaufen und es wie ein Pionier auf der Wiese aufschlagen? Dreihundert Meter freie Sicht nach Osten. Die Sonne würde ihn früh am Morgen erreichen und ihn beleuchten wie einen König der Landschaft.

Mit dem Zelt auf die Wiese?

Mit dem Zelt auf die Wiese?

Doch dann denkt er an die Autos, die aus den Seitenstraßen in die Alte Allee abbiegen und mit ihren Lichtkegeln in der Dunkelheit sein Zelt beleuchten. Er verwirft die Idee. Allmählich bekommt er Hunger. Dieses Landleben beziehungsweise das Suchen nach ihm ist anstrengend. Er blickt die Alte Allee entlang und glaubt zu erkennen, dass sie wohl in einem knappen Kilometer einen Rechtsknick beschreibt, folglich nach einem Kilometer noch immer nicht zu Ende ist. Würde er hier seine Villa finden? Zaghaft geht er ein paar Schritte weiter. Linkerhand sieht er eine Wirtschaft namens Jagdschloss. Er spürt Wut in sich aufkommen über diesen Namen. Wie soll man in diesem Trubel eine Jagd veranstalten? Wer hier das Jagdhorn bläst, verhallt ungehört ob des Autolärms. Er denkt kurz nach, ob wohl die Marschnerstraße eine ruhigere Straße sei, eine Straßen mit vielen noblen Herren in ihren herrschaftlichen Villen. Doch dann hat er nur noch ein Bedürfnis: Nachhause zu fahren, in die Behaglichkeit seiner Stadtwohnung, um sich zu erholen, von diesem anstrengenden Ausflug aufs Land.

Emils Forschungsgebiet im Überblick

Emils Forschungsgebiet im Überblick

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Agathe und das Fenster

Ich wollte heute die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählen. Doch ich begann zu zweifeln an dieser Geschichte. Ich erzählte Bene die Geschichte von Agathe und dem Fenster und er meinte, er würde sie so nicht erzählen. Wie soll ich sie denn dann erzählen?

Ich bin heute bei Agathe vorbeigefahren. Zumindest glaube ich, bei ihr vorbeigefahren zu sein. Ich bin an der Tür vorbeigefahren, wo sie vor zwei Monaten auf mich wartete und mir sagte, dass sie hier wohne, in diesem Haus. Wir sind dann, damals vor zwei Monaten, nicht ins Haus gegangen, sondern haben uns unter die Akazien gesetzt und durch ihre Blätter den blauen Himmel betrachtet.

Dann bin ich weitergefahren, heute, in die Straße wo Josefine wohnt beziehungsweise wo ich vermute dass Josefine wohnt. Vor drei Monaten habe ich Josefine nachhause begleitet und wir standen an einer Tür von der Josefine sagte, das sei die Eingangstür zu dem Haus in dem sie wohne.

Ich wundere mich, warum ich die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählen wollte, wo es doch jetzt um Türen geht und ich viel lieber die Geschichte von Agathe, Josefine und den Türen erzählen würde. Oder habe ich diese Geschichte bereits erzählt?

Ich bin nachhause gefahren und habe dort durch die tiefstehende Sonne festgestellt, dass die Scheiben des Fensters schmutzig sind. Das Fenster sollte geputzt werden. Ich öffne das Fenster, um die Wärme der Sonne hereinzulassen. Bene meint, er sei nicht sicher, ob Agathe und Josefine noch in den Häusern wohnten, deren Türen sie mir vor zwei beziehungsweise drei Monaten gezeigt haben. Ich bin mir sicher, entgegne ich, dass die Akazien mittlerweile ihre Blätter verloren haben und wenn man unter ihnen sitzt man den Himmel besser sieht als vor zwei Monaten. Ich weiß allerdings nicht, ob Agathe das genauso sieht. Das weiß Bene auch nicht.

Als ich das Fenster schließe, ist die Sonne hinter den Häusern versunken. Ich sehe den Schmutz an den Scheiben nicht mehr. Bene meint, er würde die Geschichte von Agathe und dem Fenster jetzt nicht erzählen. Ich sage daraufhin: Ja, ich werde die Geschichte von Agathe und dem Fenster jetzt nicht erzählen.

Gewissheiten

Ich übe täglich, Ungewissheit zu akzeptieren. Das ist meine schwerste Übung. Ich hätte gerne Gewissheit.

Vor kurzem sagte jemand zu mir, die einzige Gewissheit bestehe aus Holz und sei viereckig. Doch nicht einmal dieser Gewissheit stimme ich zu: Was ist, wenn am Tag nach meinem Tod ein Gesetz erlassen wird, das die Verwendung von Holzsärgen verbietet? Dann würde mir die einzige Gewissheit genommen, an die ich in meinem Leben geglaubt habe. Was ist, wenn ich verfüge, verbrannt und in einer Urne bestattet zu werden? Dann nehme ich mir selbst diese Gewissheit.

Ein Großindustrieller baute sich eine Villa und wollte Gewissheit haben, dass nicht eingebrochen wird. Also ließ er dicke Stahlbetonmauern bauen, unterbrochen nur von dicken Stahltüren und Fenstern aus Panzerglas. Die Fenster konnte man aus Sicherheitsgründen nicht öffnen. Das Haus musste aufwändig klimatisiert werden. Als nach seinem Tod niemand mehr in diesem Gefängnis wohnen wollte, hatte man größte Schwierigkeiten, das massive Bauwerk abzureißen. Der Großindustrielle kam zu mir und sagte: Ich wollte Gewissheit haben und habe ein Gefängnis geschaffen.

Ich nehme an, dass morgen die Sonne aufgeht. Ist es gewiss? Ich habe mir angewöhnt, mich jeden Tag überraschen zu lassen von der Sonne und mich zu freuen, wenn sie wieder da ist. Ich glaube zu wissen: Der neue Tag bringt viele Überraschungen, aber ganz gewiss keine Gewissheiten.

München, Schleißheimer Straße

Emil, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, ging die Schellingstraße entlang. Davon wurde an anderer Stelle bereits berichtet: München, Schellingstraße.

Als er das Ende der Schellingstraße erreicht, erinnert er sich, dass er bei seinem Spaziergang die Schleißheimer Straße überschritten hat. In Schleißheim steht ein kurfürstliches Schloss. Emil beschließt, die Schleißheimer Straße entlangzugehen. Emil ist ein gründlicher Mensch. So präzisiert er seinen Beschluss und beschließt weiters, die Schleißheimer Straße von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende zu begehen.

Am Ende der Schellingstraße stehend, befragt er Vorbeikommende, die er als ortskundig erachtet, wo denn die Schleißheimer Straße beginne.
Einer der Vorbeikommenden sagt: „Hier endet die Schellingstraße. Was weiß denn ich, wo die Schleißheimer Straße beginnt.“
Ein Anderer: „Da gehst jetzt zurück, dann kommst du an die Schleißheimer Straße.“
Emil meint, das wisse er, er habe sie ja bereits überquert, die Schleißheimer Straße, aber er wolle wissen, wo sie beginne.
„Jetzt gehst mal hin zu ihr, zu der Schleißheimer Straße, und dann kannst schauen, wo sie beginnt, oder?“ antwortet der Andere auf Emils Einwand.
Das befriedigt Emil nicht, denn er möchte die Schleißheimer Straße von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende begehen, und nicht grob irgendwo in ihrer Mitte in sie reinstechen. Also schlägt er sich auf eigene Faust durch das Straßendickicht, um zum Beginn der Schleißheimer Straße zu gelangen. Aus Sorge, vor ihrem Beginn auf sie zu stoßen, geht er einen großen Bogen. Vorbeikommende fragt er keine mehr, da sie nach seinen bisherigen Erfahrungen alle als ortsunkundig zu gelten haben. Nach langen Bogengängen, die ihn bis an den Hauptbahnhof geführt haben, landet er auf dem Stiglmaierplatz. Dort ist seine Sorge, dass er die Schleißheimer Straße überhaupt nicht findet, schließlich größer als seine Sorge, ihren Beginn zu verpassen. Er fragt also einen Vorbeikommenden, wo die Schleißheimer Straße sei. „Dort vorne beginnt sie“, sagt der Vorbeikommende und zeigt nach Norden. Emil kann sein Glück kaum fassen, dass der Vorbeikommende tatsächlich sagt: „Dort vorne beginnt sie.“ Als er dort ist, wo der Vorbeikommende hingezeigt hat, steht er auf einem weiteren Platz. Das Schild sagt „Rudi-Hierl-Platz“. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als einen weiteren Vorbeikommenden zu fragen, wo denn die Schleißheimer Straße beginne.
„Die Schleißheimer Straße hat hier mal begonnen“, sagt der weitere Vorbeikommende, „doch sie haben einen autofreien Platz daraus gemacht. So ist die Schleißheimer Straße an ihrem Beginn keine Straße mehr. Dort geht sie weiter“, sagt er schließlich und zeigt nach Norden.

Rudi-Hierl-Platz - Beginn der Schleißheimer Straße

Rudi-Hierl-Platz – Beginn der Schleißheimer Straße

Die Schleißheimer Straße, auf der einst Kurfürsten zu ihrem Schloss ritten, hat keinen Beginn mehr. Emil kann es nicht fassen und wird fast von einem Fahrradfahrer überfahren, der den autofreien Rudi-Hierl-Platz überquert. Etwas missmutig geht er. Wohin? Nun, nicht zum Beginn der Schleißheimer Straße, denn sie hat ja keinen mehr, sondern zur Schleißheimer Straße. Es ist, als ob er irgendwo in sie reinstechen würde, und es schmerzt Emil. Eng und einspurig ist sie auf ihren ersten Metern. Hier ist der Kurfürst entlanggeritten? Bald wird sie zumindest zweispurig. Emil erreicht die Schellingstraße, durch die er vorhin die Schleißheimer Straße überschritten hat. Das Café Emil an dieser Kreuzung lädt zum Verweilen ein. Emil aber ist wie besessen von seinem Vorhaben, das Ende der Schleißheimer Straße aufzusuchen. Umso mehr, als die Auffindung ihres Beginns derart erfolglos verlaufen ist.

Der Blick nach Norden zeigt eine lange, gerade Straße. Schritt für Schritt geht Emil diese lange, gerade Straße entlang, akkurat alle Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf speichernd. An der Stelle, wo links die Lerchenauer Straße abgeht, bemerkt er eine langgezogene Rechtskurve der Schleißheimer Straße. Er ist sehr gespannt, was sich hinter dieser langgezogenen Rechtskurve verbirgt, dass er völlig vergisst, weitere Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf zu speichern. Diese Zählung darf also, wenngleich nicht bewusst, an der Lerchenauer Straße für beendet erklärt werden.

Hinter der langgezogenen Rechtskurve verbirgt sich eine relativ abrupte Linkskurve. Was sich Emil nach der abrupten Linkskurve darstellt, kommt ihm bekannt vor: ein Blick nach Norden, auf eine lange, gerade Straße. Hätte Emil einen Stadtplan bei sich, stellte er fest, dass sein Blick ihm eine fast fünf Kilometer lange, schnurgerade Straße zeigt, die nahezu exakt nach Norden führt. Doch er hat keinen bei sich und sein Blick ist trüb wie das Wetter. Er geht weiter, wieder alle Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf speichernd. Es lässt sich feststellen, dass lediglich die Strecke zwischen Lerchenauer Straße und abrupter Linkskurve von Emil nicht vermessen wurde.

Die Schleißheimer Straße ist ab der abrupten Linkskurve teilweise vierspurig. Doch Emil erscheint sie auch hier nicht wie eine kurfürstliche Prachtstraße. Vielleicht ist es dem trüben Wetter oder seinem trüben Blick geschuldet, dass die Häuser am Straßenrand teilweise so grau aussehen. Er kommt an eine Querstraße, die nennt sich Hamburger Straße. Da die Hamburger Straße von Ost nach West verläuft und somit unmöglich nach Hamburg führen kann, kommen ihm ernste Zweifel, ob die Schleißheimer Straße überhaupt nach Schleißheim führt. Er geht weiter.

Viele Häuser und Querstraßen und auch Ampeln weiter: Plötzlich und unverhofft der freie Blick auf die Heidelandschaft. Auch die Schleißheimer Straße weitet sich. Ihre beiden Fahrtrichtungen sind getrennt durch einen großzügigen Grünstreifen. Enthusiasmus in Emil. Hier ist der Kurfürst also entlanggeritten, durch die weite Heide. Erwartungsvoll geht er weiter Richtung Norden. Doch der großzügige Grünstreifen verengt sich bald, und dort, wo die Schleißheimer Straße weitergehen soll, steht ein Straßenschild mit der Aufschrift „Fortnerstraße“. Ganz eindeutig: Nach Süden sagt das Straßenschild „Schleißheimer Straße“, nach Norden „Fortnerstraße“. Beim Blick zurück auf den großzügigen Grünstreifen inmitten der Schleißheimer Straße stellt Emil fest, dass es sich um die ehemalige Wendeschleife einer aufgelassenen Trambahnlinie handelt. Ist der Kurfürst mit der Trambahn hierher gefahren, um dann zu Fuß nach Schleißheim weiterzugehen?

Das Ende der Schleißheimer Straße

Das Ende der Schleißheimer Straße

Emil zieht es in die Fortnerstraße. Er will dieses schnöde Ende nicht akzeptieren. Die Schleißheimer Straße hat nach Schleißheim zu führen. Ist die Schleißheimer Straße etwa zu Ende, bloß weil sie Fortnerstraße heißt? Nach wenigen Metern, an einer Kirche mit dem Namen „Mariä Sieben Schmerzen“, wird die Fortnerstraße schließlich zu einem namenlosen Waldweg. Ist das alles, das von der Schleißheimer Straße übrig bleibt? Acht Kilometer ist sie wohl lang, die Schleißheimer Straße, errechnet Emil jetzt in seinem Kopf, wobei das nur eine ungefähre Zahl sein kann, denn ihr Beginn und ihr Ende sind für ihn nicht abschließend geklärt. Wenn man dieses – wohlgemerkt vorläufige – Ergebnis von acht Kilometern auf die sieben Schmerzen der Maria umlegt, ist jeder Kilometer ein Schmerz und einer schmerzfrei.

Beginn des namenlosen Waldwegs

Beginn des namenlosen Waldwegs

Emil zieht es weiter in den namenlosen Waldweg. Das Konzept der Querstraßen ist belanglos geworden, das der Ampeln sowieso. Wo ist Schleißheim? Emil geht den Weg entlang durch den Wald. Als der Wald zu Ende ist, steht Emil vor einer großen, freien Fläche, die umzäunt ist. Es geht nicht mehr weiter, geradeaus nach Norden, nur nach rechts oder nach links. Als ein Vorbeikommender vorbeikommt, fragt ihn Emil in seiner Verzweiflung: „Wieso ist hier ein Zaun? Hier muss es doch nach Schleißheim gehen!“
Der Vorbeikommende, der sich als ausgesprochen ortskundig erweist, erwidert: „Da geht’s schon lange nicht mehr nach Schleißheim. Da ist schon seit über hundert Jahren ein Flugplatz.“
„Und der Kurfürst, wie ist der dann nach Schleißheim gekommen, zu seinem Schloss?“ fragt Emil weiter.
„Der Kurfürst ist die ersten Jahre mitten durch das Flugfeld geritten, bis ihn ein landendes Flugzeug beinahe überfahren hätte. Dann hat er es auch bleiben lassen.“
Der Vorbeikommende fährt weiter und lässt Emil am Zaun zurück. Emil blickt über das Flugfeld nach Norden, und trotz des trüben Blicks misst er der Entfernung zu Schloss Schleißheim eine Strecke von eineinhalb Kilometern bei.

Mehr zur Schleißheimer Straße

Drei Katzenkinder und Emil von vor vielen Jahren

Diese Woche durfte ich dem freudigen Ereignis einer Katzengeburt beiwohnen. Drei Stück wurden geboren, zwei Mädchen und ein männlicher Nachzügler. Der hatte einen recht großen Kopf und daher eine etwas anstrengende Geburt. Das Ereignis lässt sich am besten so zusammenfassen:

Zwei Katzenkinder auf der Welt:
Beate und Renate.
Das dritte kommt mit rotem Kopf,
das nennt man dann – Tomate.

Außerdem habe ich am Dienstag, dem 20. Oktober, wie jedes Jahr mit einer großen Feier meinen halben Geburtstag zelebriert. (Mein ganzer ist am 20. April.) Da ich allmählich in ein Alter komme, wo ich ab und zu auch zurückblicke, habe ich auf dieser Feier spontan die Rubrik „Emil von vor vielen Jahren“ erfunden, um folgende Geschichte aus meinem Frühschaffen vorzutragen. Es handelt sich um ein Historiendrama mit dem bedeutungsschweren Titel „Firmians Erkenntnis“. Die Verhandlungen mit dem ZDF zur Verfilmung laufen:

Firmians Erkenntnis

Damals in Debalzewe

Im Februar dieses Jahres ließ mich eine Nachricht aufhorchen: Die heftig umkämpfte ostukrainische Stadt Debalzewe ist bei Kämpfen zwischen prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee völlig zerstört worden. Man wisse nicht, wieviele der geschätzten fünftausend verbliebenen Einwohner die Kämpfe überlebt haben. Mir gefiel der Name dieser Stadt: Debalzewe. Umso tragischer empfand ich es, dass diese Stadt nun zerstört ist. Erst jetzt wusste ich, dass es sie gibt, und musste gleichzeitig erfahren, dass es sie nicht mehr gibt.

Heute morgen, mehr als ein halbes Jahr danach, erinnerte ich mich wieder an diese Nachricht, und an die Schönheit des Namens dieser Stadt, die zerstört wurde. Aber ich wusste ihren Namen nicht mehr. Ich wusste nur noch, dass es ein schöner Name ist. Ich recherchierte im Internet und fand bald heraus, dass der Name dieser Stadt Debalzewe ist. Ich wollte mehr herausfinden. Ich wollte herausfinden, was jetzt ist mit dieser Stadt, ein gutes halbes Jahr nach ihrer Zerstörung. Doch die letzten Netzeinträge, die Debalzewe betreffen, sind vom März dieses Jahres und berichten vom großen Ausmaß der Zerstörung.

Ich recherchierte weiter, was davor war in Debalzewe, vor den Kämpfen im Februar. Die Stadt ist ein strategisch wichtiger Verkehrsknotenpunkt, vor allem der Eisenbahn. Wegen der Eisenbahn wurde sie 1878 als kleines Dorf gegründet, wuchs zu einer Stadt heran, ehe sie von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Danach wurde sie von den Russen wieder aufgebaut, ehe sie im Februar dieses Jahres von den Russen wieder zerstört wurde. Gibt es Menschen in Debalzewe, die beide Zerstörungen erlebt haben?

Wieso übt der Name Debalzewe eine derartige Faszination auf mich aus? Ich glaube nicht, dass einer meiner Großväter mir als Kind eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt hat mit dem Titel Damals in Debalzewe und sie deshalb noch so schön in meinen Ohren nachklingt. Oder doch? Wie wäre es, nach Debalzewe zu reisen? Züge fahren keine mehr seit den Kämpfen. Mit dem Auto sind es laut Google von München aus 2.528 Kilometer zu fahren. Es gibt lediglich zwei Baustellen auf der Route, eine in Polen, eine in der Zentralukraine. Fahren wir nach Debalzewe – wer kommt mit? Am besten jemand, der Russisch kann oder Ukrainisch oder noch besser beides… Das könnte über Leben und Tod entscheiden.

25.000 Menschen lebten bis 2014 in Debalzewe, vor den Kämpfen wurden die meisten von ihnen evakuiert. 5.000 aber sind geblieben. Wo sind die 20.000 Evakuierten hin? Gibt es die 5.000 noch, die geblieben sind? Wieviele sind bei den Kämpfen gestorben?

25.000 Menschen aus Debalzewe gegen Millionen von Menschen, die gerade nach Europa flüchten. Aus 2.528 Kilometern Entfernung schreibe ich betroffene Worte, die doch keine Ahnung vermitteln. Denn ich war nicht dabei, gottseidank, damals in Debalzewe.

Goldener Herbst, zwei bis drei Sekunden lang

Ich habe heute nicht viel zu sagen. Es ist eine Woche vergangen seit letztem Donnerstag. Es wäre also die Geschichte dieser vergangenen Woche zu erzählen. Ich bin ein Freund der Chronologie. Ich werde nun eine Chronologie der Ereignisse liefern, der Ereignisse seit letztem Donnerstag.

Der Herbst ist golden, wird jeden Tag goldener. Wohin wird das führen? Zu goldenen Blättern. Die Blätter werden fallen. Doch noch sind die meisten an den Bäumen, bis der erste nächtliche Frost sie lockert.

Das Glück des Lebens ist eine Momentaufnahme von maximal zwei bis drei Sekunden, die mich sprachlos macht. Wieviele Momente passieren in einer Woche? Die Vergangenheit ist vergangen. Zu oft missbrauche ich sie als Erklärung für meine Gegenwart. Die Gegenwart ächzt unter diesen Vergangenheitsbeschwichtigungen. Ehe ich die Gegenwart greifen kann, ist sie vergangen, obwohl sie gerade noch Zukunft war.

Die Chronologie der Ereignisse der vergangenen Woche mündet darin, dass ich sie nun niederschreibe. Am wichtigsten scheint mir zu sagen, was die vergangene Woche betrifft, dass der Herbst golden ist und jeden Tag goldener wird. Doch das habe ich bereits gesagt.

Es gibt noch etwas, das ich erwähnen möchte: Ich habe viele Leute getroffen letzte Woche. Manche lächelten, manche waren traurig, aber die meisten waren – gar nichts. Die haben nicht geschaut mit ihren Augen, die waren nicht hier. Es ist schade, dass sie nicht hier sind. Aber es ist ihre Sache. Ich lerne, dass Leute nicht hier sein wollen, in diesen zwei bis drei Sekunden der Gegenwart.

Ich wollte auch mal nicht hier sein, und jetzt weiß ich warum: Weil mir diese zwei bis drei Sekunden viel zu unbedeutend erschienen, um ihnen Beachtung zu schenken. Ich sah das Leben in großen Chronologien der Ereignisse, und die Größe dieser Ereignisse gab meinem Leben erst Bedeutung. So bemerkte ich nicht, dass ich es versäume, in diesen zwei bis drei Sekunden Dinge zu entscheiden und zu tun, die meinem Leben Richtung geben. Ich wurde entschieden und getan und mein Leben hat gewissermaßen ohne mich gelebt. Mein Leben ohne mich – ist das nicht gelebtes Unglück?

Soeben habe ich entschieden, weiterzuschreiben. Ich möchte noch einmal betonen, dass der Herbst golden ist, seit einer Woche, und immer goldener wird. Ansonsten gibt es nichts zu sagen, was ich im Moment sagen könnte. Weil ich sprachlos bin vor Glück.

Stehen auf dem Gehsteig

Ich stehe auf dem Gehsteig und stelle mir vor, dass ich auf dem Gehsteig liege. Die ernsten Dichter werfen schwere Worte auf mich. Die Surrealisten schütteln ihre Wortkalauer durch die Gegend. Die Wortkalauer schweben unreflektiert davon und bleiben an den Häuserfassaden hängen.

Ich liege nicht auf dem Gehsteig, denn auf dem Gehsteig geht man. Ich stehe auf dem Gehsteig. Da kommt einer vorbei und sagt zu mir: „Geh doch, das ist doch kein Stehsteig!“ Ich gehe einen Schritt zur Seite und sage: „Ich mache dir Platz, dann kannst du gehen auf deinem Gehsteig. Und ich bleibe stehen auf meinem Stehsteig.“

„Da legst dich nieder, bei dem was du daherredest!“ sagt der Geher im Vorbeigehen. Der Bayer sagt das gerne, dass du dich niederlegst. Er verlangt nach so einer Aussage jedoch nicht von seinem Gegenüber, dass er sich niederlegt noch legt er sich selber nieder, sondern drückt dadurch sein Erstaunen aus. Trotzdem greife ich seine Worte gerne auf:

„Das wollte ich machen, mich niederlegen, aber Niederlegen, dachte ich mir, wäre doch eine grobe Nutzentfremdung eines Gehsteigs.“ Ich überlege kurz, ob ich Dichter und Surrealisten erwähnen sollte. Ich erwähne sie nicht.

Der Geher legt sich, wie zu erwarten war, nicht nieder, bleibt aber stehen. Ich stelle fest: Wir stehen beide auf dem Gehsteig. Oder ist es jetzt ein Stehsteig? Die schweren Worte der ernsten Dichter liegen unter uns. Beim Blick auf die Häuser fällt mir auf, dass die Kalauer der Surrealisten lustig an deren Fassaden hängen. Es gefällt mir, wie wir beide so auf dem Gehsteig stehen.