Wahrhaftigkeit

Wahrhaftig muss das Leben sein, sagt sie mir, und deshalb wolle sie wegziehen von hier, von diesem verlogenen Haufen. Sie sagt mir nicht, wo sie hin will und die Wahrhaftigkeit finden will. Und ich habe eine Ahnung, dass sie nicht einmal weiß, wo sie die Wahrhaftigkeit suchen soll. Oder sollte ich sagen: dass sie es nicht wissen will.

Ich ziehe nicht weg von hier. Ich fahre lediglich manchmal hinaus ins Dorf; ins Nazidorf, wie sie es jetzt nennen, seit sie sich dort vor ein paar Monaten nicht darauf einigen konnten, Hitler die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen. Ich streife dort durch Wälder und Wiesen. Ich bin ihnen dankbar, dass sie ihre schöne Natur nicht anpreisen, sondern unter sich sein wollen. Wenn sie mit ihren Angeln am Weiher sitzen, jeder für sich, gehe ich nicht baden daneben. Denn ich will sie nicht stören in ihrem Frieden, den ich mir von ihnen leihe.

Vor kurzem, an einem Abend im April, war ich allein am Weiher. Ich habe ein Bad genommen und mich am schönsten Anglersteg trocknen lassen. Bläßhühner und Enten zogen ruhig über das Wasser. Die Sonne bestrahlte mit ihrem sanften, späten Licht die grünen Bäume und die Wiese gegenüber. Ich habe an sie gedacht, weil ich mich so wahrhaftig fühlte. Wäre das ein Ort ihrer Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit? Kann man denn Wahrhaftigkeit irgendwo finden außer bei sich selbst?

Der sanfte Wind und die Sonne hatten mich getrocknet. Ich stand auf und machte mich auf den Weg. Ich hatte gerade meine Wahrhaftigkeit gefunden, zumindest für den Moment, und merkte, wie unsinnig es war, sich über ihre Wahrhaftigkeit Gedanken zu machen.

Bernd Dürnberger

Es muss 1982 gewesen sein. Im Fernsehen lief Fußball und ich saß mit meinem Vater davor. Ich bemerkte, wie er die Mannschaft mit den roten Trikots anfeuerte. Er tat dies nicht offensichtlich, so als schämte er sich etwas dafür. Aber ich bemerkte seine Euphorie. Die Mannschaft in den roten Trikots war Bayern München. Und die Stars in dieser Mannschaft waren Paul Breitner und Karl-Heinz Rummenigge. Die Stars für meinen Vater waren Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Sepp Maier und Uli Hoeneß. Aber die spielten da schon gar nicht mehr.

Oder war jemand ganz anderer für meinen Vater der Star dieser Mannschaft? Ich weiß heute, wer damals, 1982 vor dem Fernseher, mein persönlicher Star war: Es war Bernd Dürnberger. Damals wusste ich das noch nicht. Ich spürte es nur, wie man als kleiner Bub etwas spürt. Heute weiß ich, dass Bernd Dürnberger dreizehn Jahre lang für den FC Bayern München spielte, und zwar von 1972 bis 1985, gemeinsam mit Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Sepp Maier, Uli Hoeneß, Paul Breitner und Karl-Heinz Rummenigge. Ich weiß außerdem, dass der Ort, in dem Bernd Dürnberger aufgewachsen ist, nur wenige Kilometer entfernt ist von dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin. Und dass ich damals, als Siebenjähriger, den Entschluss fasste, einmal in München leben zu wollen. In dieser Stadt, die so wunderbar sein muss, weil dort solche Helden wie Bernd Dürnberger ihre Taten vollbringen.

Ich glaube ich gehe morgen in den FC Bayern-Fanshop und frage nach einem Trikot von Bernd Dürnberger. Werden sie eines haben?

Erwartungen an den Autor

Was erwartet ihr von mir? Wollt ihr Geschichten hören, oder wollt ihr herausfinden, wer dieser Emil Hinterstoisser ist? Beides hängt unzertrennbar zusammen. Das ist das Glück und die Tragik eines Autors. Alle Geschichten, die ich erzähle, betreffen mich, kommen aus mir. Auf eine Art und Weise, die ich meist selber nicht begreife. Das gipfelt bei Gombrowicz, einem von mir sehr verehrten Autor, in folgender Erkenntnis: Montag – ich, Dienstag – ich, Mittwoch – ich, Donnerstag – ich.

Die Frage ist, ob diese Geschichten, die nur Ich sind, euch erreichen, ob ihr sie interessant findet. Das Ich drückt sich in vielem aus. Unter anderem in der geschriebenen Sprache. Und die soll hier mein Vehikel sein. Jeder Autor wünscht sich Leser. Und wenn er das Gegenteil behauptet, ist er ein Lügner.

Jetzt geh ich raus, und suche meine Geschichten für euch.

Kapitalistischer Sonntag

Das ist ein großer Gedanke für einen Einzelnen wie mich: Der Google-Chef (Wer ist das überhaupt?) ist mächtiger als Angela Merkel. Ein kapitalistischer Diktator regiert die Welt und eine demokratisch gewählte Regierungschefin sieht zu.

Wer zahlt schafft an. Das ist nicht neu. Und doch scheint dieser Grundsatz gerade dramatisch zu eskalieren in einer Welt, die keine anderen Werte als den Kapitalismus für sich zulässt.

Zivilisation

Man sagt immer
die Zivilisation
überforme den Menschen
aber was wäre
ohne Zivilisation?

Wir wären verloren
könnten nicht überleben
auf einer einsamen Insel
ohne Waffen und Geschick
würden wir dann
viel darum geben
in einem überfüllten
Zug zu sitzen
der uns
zum nächsten Supermarkt bringt.

 

München, Schellingstraße

Emil, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, ging aus der Ludwigskirche, die er zuvor noch nie betreten hatte. Er sah die Schellingstraße vor sich und bemerkte, dass sie in der Ferne einen Rechtsknick beschrieb.

Sorgsam schritt er also die Schellingstraße entlang, dabei akkurat alle Querstraßen und Ampeln in seinem Kopfe speichernd. Als er die Schleißheimer Straße überschritten hatte, maß er dem Rechtsknick einen Winkel von 23,71 Grad bei.

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