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Zart, ganz zart – oder: Wenn Mütter ihre Söhne verlieren (Teil 2 der Hirsch-Dilogie)

In diesem Moment passierte alles. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, sie, diese harte Frau, die so hart zu sich selbst war und so hart zur Welt. Alles war klar in diesem Moment. Ich spürte sie, die Klarheit. Ich wusste sie nicht. Sie war ungewusst. Die harte Frau löste den Dutt in ihrem weißen Haar und ließ es frei fallen, über Schulter und über Rücken, was sie sonst nie tat. Es beeindruckte mich, es hatte etwas Sinnliches und Zartes.

Dann ging sie, schluchzend, um Fassung ringend. Beschämt, dass sie mir ihre Tränen gezeigt hatte. Sie ging zur Anrichte und nahm von ihren Herztropfen, die nahm sie schon immer. Seit ich sie kannte, seit ich auf der Welt war, und das war für mich immer. Heute weiß ich: Sie nahm die Tropfen, seit ihr Herz gebrochen war. Heute weiß ich: Drei Jahre vor meiner Geburt war ihr Sohn gestorben. Nicht ihr leiblicher, sie hatte nur eine Tochter: meine Mutter. Ihr Ziehsohn. Ihre Schwester hatte ihn ihr anvertraut, weil er ledig geboren war und die Schwester ihn nicht versorgen konnte. Ihr Ziehsohn, sie hatte ihn geliebt wie eine Mutter ihren Sohn liebt. Das hat mir meine Mutter erzählt. Aber der Ziehsohn rebellierte, wusste nicht wohin mit seiner jugendlichen Kraft. Er zog in die weite Welt, kam zurück, verwirrt. Ging in seiner Verwirrung in die Berge, um zu sich zu kommen. Sah nur Abgründe und stürzte sich auf seiner verzweifelten Suche in diese.

Was für eine Trauer! Den eigenen Sohn zu verlieren! Aber die Trauer durfte nicht sein. Die Trauer war tief, abgrundtief. Machte Angst. Fassung war gefragt. Contenance. Sie ging nach dem Tod ihres Ziehsohns nie mehr auf Begräbnisse. Zu groß war die Trauer. Sie hatte Angst, dass sie wieder hochkommt. Die Trauer wurde immer größer. Ihre Gefasstheit, mit der sie die Trauer unterdrückte, war zuviel für ihr Herz. Es musste fortan mit Tropfen gestützt werden.

Ich war ein pubertierender Rebell. Wusste nicht wohin mit meiner Kraft. Ich hatte Lust auf die Abgründe in ihr, wollte sie rauskitzeln. Ich rüttelte heftig an ihrer Ordnung, ich brachte sie aus der Fassung, die Trauer war nicht mehr zu unterdrücken, sie kam hoch und mit ihr die Tränen, und mit ihnen die Angst, einen weiteren Sohn zu verlieren: ihren Enkelsohn.

In diesem Moment passierte alles, war alles klar. Ich war fassungslos ob der Trauer und der Angst, die sie mich durch ihre Tränen spüren ließ, auch wenn sie sofort ging und sich wieder fasste. Dieser Moment genügte, um das Ungewusste gewusst zu machen.

Nach ihrem Schlaganfall besuchte ich sie am Pflegebett. Sie befahl mir, das Geschirr zu spülen, obwohl keines da war, für sie war es da, Ordnung und Contenance behalten, gefasst sein: Mach es ordentlich, mein Sohn! Sei auf der Hut vor deinen Gefühlen! Sie sind zu groß für mich und auch für dich! Diese Warnung kam zu spät: Ich hatte mittlerweile ihre Gefühle übernommen, durch die vielen verbrachten Kinderstunden mit ihr, sah mich als traurigen und ängstlichen Menschen.

Ein paar Jahre nach ihr starb ein weiterer Sohn: ihr Schwiegersohn, mein Vater. Die Mutter meines Vaters, meine andere Oma, lebte da noch. Meine Vater-Oma war zehn Jahre jünger als meine Mutter-Oma, ich glaube, sie hatte ein starkes Herz, aber es war auch verschlossen, wie sonst hätte sie ihr Leben schaffen sollen, als früh Alleinerziehende von vier Söhnen? Wie soll man sein Herz der Liebe öffnen, wenn man es nie gelernt hat? Wenn man nur Unliebe erfahren hat? Am Grab ihres Ältesten, meinem Vater, schluchzte sie ergreifend, es schüttelte mich, und ich glaube zu wissen: Spätestens wenn ihre Söhne sterben, öffnen Mütter ihre Herzen.

So also wurde mein Ungewusstes zu Gewusstem. Ich setzte mich hin, unter die zarten Blätter des Baumes, und ließ mich tief in mich sinken. Ich spürte die Trauer meiner Großmütter, ganz tief. Kein Sichfassen, kein Sichverschließen, nein, ein weites offenes Land der Trauer öffnete sich vor mir. In dieses weite offene Land sang ich ein Lieb hinein, für meine Großmütter, die ihre Söhne verloren haben. Und die Trauer atmete auf und jubelte, dass sie endlich trauern durfte.

Wo ist die Liebe? fragt jeder Moment. In diesem Moment war sie da: zart, ganz zart. Alles war klar.

Gesungenes Lieb

Die Omama (Teil 1 der Hirsch-Dilogie)

Ich habe immer schon viel vorgehabt mit meinem Leben, sagt Vorderbrandner, aber meine Bitterkeit hat mich lange daran gehindert, mir das Viele vorzunehmen. Meine Bitterkeit gegenüber meiner Großmutter zum Beispiel, denn sie war ein sehr bitterer Mensch. Eine erste Wendung in meinem Leben ergab sich an jenem Abend im Jahr 1993. Was war geschehen?

Meine Großmutter war vor Kurzem gestorben, da lud mich ihre damals noch lebende Schwester nach Wien ein. Als Sechzehnjähriger dachte ich mir: Jetzt kriechen sie heraus aus ihren Löchern mit ihrem schlechten Gewissen, und ich soll dafür herhalten, es zu beruhigen. Ich hatte keine Lust, nach Wien zu fahren. Trotzdem stieg ich in den Zug. Wahrscheinlich hatte ich die Hoffnung, es würden sich andere Dinge ergeben, als in der alten muffigen Wohnung der alten Frau herumzusitzen.

Am Tag meiner Ankunft kam Franzi zur Schwester meiner Großmutter. Franzi war drei Jahre älter als ich, sie war die Enkelin der Schwester meiner Großmutter. Meine Großmutter hätte gesagt: meines Geschwisters Kinds Kind – Genitiv in Vollendung, Klarheit in der Sprache. Franzi war ein glühender Verehrer der Musik von Ludwig Hirsch, sie konnte Komm großer schwarzer Vogel mit ihrer Gitarre auswendig vortragen. Sie fragte mich: Kommst du mit ins Konzert heute Abend ins Volkstheater? Ludwig Hirsch war für mich damals ein morbider, lebensmüder Sinnierer mit wenigen lichten Momenten. Kein Wunder, dass Franzi niemand anderen gefunden hatte, der sie begleitet. Aber Franzi gefiel mir, mir gefiel die Vorstellung, ihr junger Begleiter und Liebhaber zu sein. Darf man Liebhaber eines Geschwisters Kinds Kind sein? Was darf man auf dieser Welt? Meine Großmutter hatte mir hauptsächlich erklärt, was man NICHT darf.

Wir waren recht früh im Volkstheater auf unseren Plätzen. Ich beobachtete die Leute, die in den Saal kamen und ihn füllten. Eine Magie erfasste mich. Als sei ich Teil eines verbotenen Abenteuers. Ich war in Wien, im Volkstheater, neben Franzi, um die verbotenen, dreckigen, morbiden Lieder des Ludwig Hirsch zu hören. Meine Großmutter konnte mich nicht daran hindern. Ich spürte knisternde Erregung in mir. Ich nahm Franzis Hand und drückte sie ganz fest. Franzi, meine Freiheit! Im nächsten Moment schämte ich mich dafür. Gleich danach wurde es dunkel im Saal. Ludwig Hirsch begann, seine Geschichten zu erzählen. Johnny Bertl suonierte auf seiner Gitarre. Als sie Die Omama vortrugen, hatten sie mich endgültig gepackt. Ich dachte daran, wie schlecht meine Oma Märchen erzählen konnte. Wie ich mich ärgerte, wenn sie beim Märchen der Sieben Raben immer von sechs Raben sprach, weil sie an ihre eigenen sechs Brüder dachte. Feen, Prinzen und starke Männer waren nicht ihre Welt – lieber sprach sie von Hexen, bösen Gestalten und Schwächlingen. Gefühle übermannten mich. Oma, du bitterer Mensch, trotz oder wegen der sechs Raben: Ich habe dich so geliebt! Ich saß in meinem Sessel und spürte, wie sehr mich meine Oma geliebt hat, auch wenn sie mir das nur auf ihre bittere Weise zeigen konnte. Franzi nahm mich an der Hand und Tränen flossen über meine Wangen. Jetzt wusste ich, was ich in meinem Leben machen will: die Gitarre spielen wie Johnny Bertl und Geschichten erzählen wie Ludwig Hirsch.

Der Abend im Volkstheater gilt heute als sehr lichter Moment im Schaffen des Ludwig Hirsch, als ein legendärer Vortrag. An der Gitarre, sagt Vorderbrandner, bin ich ein Rhythmusschraddler, weit weg vom Suonieren des Johnny Bertl. Im Geschichtenerzählen habe ich mehr Übung, aber ich erstarre immer noch vor Ehrfurcht, wenn ich daran denke, wie Ludwig Hirsch Die Omama erzählt hat, damals im Wiener Volkstheater im Jahr 1993. Franzi? Kurz nach Ludwig Hirschs Tod kletterte sie, in einer Art letztem Abenteuer, im Dunkel der Nacht auf die Kirche am Steinhof und stürzte sich in die Tiefe.

 

Die Omama 1993 im Wiener Volkstheater

 

In memoriam Franzi: Komm großer schwarzer Vogel

Erinnerungen an eine Zeit der Angst

Klopapier war einst – es ist noch gar nicht so lange her, es war, als ein Virus über unser Land hereinbrach und Angst und Schrecken verbreitete –  ein wertvolles Gut, ein Wertpapier sozusagen. Heute ist es wieder ein gewöhnliches Gebrauchsgut, obwohl seine Herstellung, vor allem unter Berücksichtigung der Klimadebatte, sehr energieintensiv ist.

Es ist nicht selbstverständlich, sich den Hintern mit Klopapier abzuwischen, mit diesem Luxusgut, nein, es ist eine Handlung, die mit großer Demut vollbracht werden sollte. Ich habe mir gerade eine neue Packung dieser tollen Rollen besorgt und habe sie, als ich sie zuhause sorgsam aus ihrer Verpackung geschält hatte, lange und liebevoll betrachet.

Nun werde ich eine davon, aus Solidarität, in den Landkreis Gütersloh schicken. #WeFightCorona. #WeShitTheVirus.

Sonnensehnsucht (Tief im Westen)

Himmel über Aubing

Gegen Abend hin überkam mich eine tiefe Sehnsucht nach der Sonne. Ich fuhr ihr nach, in den Westen, wo sie untergeht. Die Stadt zieht sich weit nach Westen, sie hat, so scheint es, auch die Sehnsucht des Abends nach der Sonne. Wo einst die Könige weilten im Sommer, auf Schloss Nymphenburg, endet diese Sehnsucht nicht, die Stadt dehnt sich weiter aus hinter Nymphenburg, durch den Durchblick durchquerte ich sie bis Schloss Blutenburg, doch die Stadt streckte sich noch immer, bis zum ehemaligen Bauerndorf Aubing, wohin die Bergsonstraße mich leitete. Mächtige Bahnanlagen unterquerend, verlor ich fast die Hoffnung auf die Sonne, meine Sehnsucht schien sich einer Verzagtheit zu ergeben. Diese Stadt hört doch niemals auf! Doch ich trat weiter in die Pedale, als schien eine unsichtbare Kraft mich zu leiten. Ich erreichte den erhaltenen Kern Alt-Aubings, ländliche Idylle stellte sich ein, doch der Blick nach Westen war noch immer nicht frei. Weiter, immer weiter nach Westen, nun, nach Überquerung einer weiteren Bahntrasse, sah ich freies Feld vor mir, endlich. Weit vor mir erhob sich eine grüne Hügelzunge, die wollte ich noch erreichen, als krönenden Abschluss meiner Abendsonnenanbetung. Die Hügelzunge erwies sich als Einhausung der Autobahn A99. Kein Platz zum Verweilen, entschied mein Gemüt, ich fuhr weiter, mein Gefühl leitete mich zur Moosschwaige, ein Kleinod der Einsamkeit. Im Bach kühlte ich meine Füße und mein Gemüt. Endlich – ich hatte die Stadt hinter mir gelassen, ich war tief im Westen angelangt! Ich beobachtete die Sonne auf ihrem abendlichen Weg. Ich spürte das Raumschiff Erde, wie es durch Raum und Zeit schwebt. Demut überkam mich vor der Größe dieser Welt, und ich sprach langsam und bedächtig:

Alles wird wieder groß sein und gewaltig.
Die Lande einfach und die Wasser faltig,
die Bäume riesig und sehr klein die Mauern;
und in den Tälern, stark und vielgestaltig,
ein Volk von Hirten und von Ackerbauern.

Und keine Kirchen, welche Gott umklammern
wie einen Flüchtling und ihn dann bejammern
wie ein gefangenes und wundes Tier -
die Häuser gastlich allen Einlassklopfern
und ein Gefühl von unbegrenztem Opfern
in allem Handeln und in dir und mir.

Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben,
nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn
und dienend sich am Irdischen zu üben,
um seinen Händen nicht mehr neu zu sein.

(Rainer Maria Rilke)

Zufrieden und gestärkt verließ ich die ländliche Idylle, ich trat in die Pedale, über die grüne Autobahnbrücke zurück, da erreichte ich sie wieder, die Stadt, ich hatte sie schon vermisst, blieb andächtig stehen vor dem Himmel über Aubing:

Stationen der Reise von Ost nach West:
Nymphenburg
Durchblick
Blutenburg
Bergsonstraße
Aubing
Moosschwaige

Scheider von Gut und Böse

Ich sah mich mit der Aufgabe konfrontiert, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, ja, die Aufgabe wurde mir aufoktroyiert, indem man mir sagte: Seien Sie der Scheider von Gut und Böse! Ich fing daraufhin zu denken an, denn wie sollte ich diese Aufgabe sonst angehen als denkend: Wenn ich gut bin, sehe ich das Böse. Wenn ich böse bin, sehe ich das Gute. Oder ist es umgekehrt: Wenn ich gut bin, sehe ich das Gute… Ehe ich den Gedanken zuende denken konnte, hörte ich jemanden sagen: Negerin, hör auf mit dem Scheiß! Ich wollte einschreiten, denn es schien ein klarer Fall von Rassismus vorzuliegen, als die Angesprochene die Pistole auf den Rassisten richtete und sagte: Ich knall dich ab, du weißer männlicher Macho! und sie ließ ihren Worten Taten folgen, verballerte ihre ganze Munition, und der weiße männliche Macho, der sich eben als Rassist geoutet hatte, starb in einem roten Blutbad.

Ich versuchte gerade, das Erlebte zu verarbeiten, als sie, die ich hier, um dem Lesefluss zu dienen, scheiß Negerin nenne, ohne rassistischen Hintergrund, nur zur besseren Unterscheidung, sagte: Guck nicht so blöd, sonst knall ich dich auch ab! Woraufhin ich dachte: Stimmt, logisch, ich bin auch ein weißer männlicher Macho, wobei der Macho in mir, naja, bin ich nicht eher ein weißer männlicher Weichling?, doch plötzlich überkam mich Angst, die meine Macho- und Weichlingsgedanken verdrängte, und ich beeilte mich zu sagen: Nein, nein, ich guck nicht blöd, im Gegenteil, ich find das gut, klarer Fall von Rassismus, da muss man Zeichen setzen, #notoracism, ■ und so, ja gut, das sind Zeichen, aber ich meine, nur Zeichen?, nein, man muss Taten setzen, es abknallen, dieses weiße männliche Machoschwein, dessen Vorfahren die Neger erst ausgebeutet und dann getötet… Sie winkte ab und ging weg, und ich dachte mir: Wow, krasser Einstieg in meine Tätigkeit als Scheider von Gut und Böse, und folgende Fragestellung drängte sich mir auf: Wäre die scheiß Negerin mit der Pistole ein Bleichgesicht gewesen – wäre es dann Mord gewesen, oder lediglich die Rache einer unterdrückten weiblichen Weißen an einem weißen männlichen Macho? Ich hatte das Gefühl, die Gedanken türmten sich in mir auf, sie zwangen mich in die Knie, und insofern war es gut, dass ich auch diesen Gedanken mit den Weißen beiderlei Geschlechts nicht zuende denken konnte, denn eine Person mit einem kleinen schwarzen Hütchen auf dem Kopf kam mir entgegen, was ich lustig fand. Die Person sagte: Guck nicht so blöd! Das kam mir bekannt vor, doch dann sagte die Person: Bist wohl ein scheiß Nazi, oder was? Ich dachte, ja: Ich dachte schon wieder, und diesmal dachte ich: Vielleicht trage ich die Haare zu kurz?, doch dann begriff ich: Nein, der Nazi ist im Kopf dieser Person mit dem kleinen schwarzen Hütchen auf dem Kopf, ein festes Konzept im Kopf dieser Person, der böse Nazi, ein durchaus plausibles Konzept, ich schien dem Scheiden von Gut und Böse näher zu kommen, als die Person rief: Wir sind das auserwählte Volk und ihr seid alles scheiß Nazis! Schämst du dich denn nicht, du Verbrecher, du Mörder des auserwählten Volkes! Ich böse, Person mit schwarzem Hütchen gut? So denkt zumindest die Person mit dem schwarzen Hütchen, unerbittlich, und in mir blitzte der Gedanke auf, das gut und böse verwerfliche Konzepte sind, Konzepte, die in eine Spirale der Gewalt führen, doch kaum war der Gedanke vom Blitz erleuchtet, fielen Schüsse, begleitet von lauten Schreien – Allahu akbar donnerte es in meinen Ohren, und ich sah die Person mit dem schwarzen Hütchen und mich als die nächsten toten weißen männlichen Machos im roten Blutbad, überhaupt eine ganz schöne Männerveranstaltung hier, war die Negerin nicht doch ein Neger und die Feministin ein Feminist?, doch vor unserem Tod wachte ich schweißgebadet auf und erschrak darüber, wie echt sich dieser Traum angefühlt hatte.

Prozession

Ich weiß nicht mehr, wann es war. Meine Aussicht war jedenfalls so:

Ich war draußen, soviel kann ich aufgrund dieser Photographie feststellen, nicht unter freiem Himmel, nein, unter einem Baum, unter einer Linde, wie ich bei genauer Betrachtung des Blattwerks erkenne, und jetzt erinnere ich mich, ja, ich erinnere mich an ein Hämmern, ich ging diesem Hämmern nach, bis ich einen Buntspecht sah, der auf das Holz der Linde hämmerte. Ich war aufgestanden, um nach dem Buntspecht zu sehen, ich fühlte mich bewegt, etwas bewegte mich. War es die Musik, die ich vernahm,

ohne sie zu hören, die mich bewegte, nein, ich hörte sie nicht, dennoch war sie in meinem Ohr, nein, nicht in meinem Ohr, mehr in meinem Magen, oder in meinem Herz, ja, in meinem Herz: Es öffnete sich. Ich sehe ein ganzes Orchester in der Blumenwiese, Ludwig sitzt ruhig daneben und lauscht seinem Werk. Bist du es wirklich, Ludwig? frage ich, ich bin gerührt, aber da ist er verschwunden, er und das Orchester. Die Musik bleibt bei mir, sie bewegt mich, sie bewegt mich durch die grüne Natur des Frühsommertages. Die Bienen schwirren über die Wiese, mir schwirrt der Kopf, etwas bewegt mich, ich bewege mich fort im Rhythmus der Musik, es ist eine Prozession, ja, endlich habe ich das Wort gefunden, es ist eine Prozession durch das Wunder des Lebens, und ich lebe mitten in diesem Leben, diesem Leben, das ich nun aufzählen will: Da wäre zunächst der Regenwurm unter mir und weiters der Buchfink über mir, aber halt: Ich stoppe mein Aufzählen, mein Aufzählen weicht meinem Staunen. Das Graben des Regenwurms, der Gesang des Buchfinks, aber vor allem Ludwigs Musik, etwas bewegt mich, immer heftiger, ich fliege und drehe mich, bis ich mir schließlich keiner Perspektive mehr sicher bin

und ich spüre: Wie schön ist dieses Leben, wenn ich es mit Liebe betrachte. Ludwig, bist du noch da? Ja, ich glaube, dort hinten im Gras, in den Blumen, da sitzt du. Meine Empfindungen, wie soll ich sie beschreiben? Bei meiner Prozession durch die grüne Natur dieses Frühsommertages. Deine Musik beschreibt doch schon alles.

Andre Ananas – eine Kindergeschichte

Diese Geschichte kann ich im Grunde gar nicht erzählen, sagt Uteto Fritz, denn ich habe aufgehört, mich mit der heilenden Wirkung von Sprache zu beschäftigen und bin deshalb auch nicht mehr als Sprachenergetiker tätig, als ich mich plötzlich mit Andre, Andreas und Anna in einem Raum befand, einem Raum, der wie ein Therapiezimmer wirkte, Familientherapie, sagte Andreas, wir brauchen Familientherapie, so wie wir früher Paartherapie brauchten, sagte Andreas, und blickte Anna an, so brauchen wir jetzt Familientherapie, und blickte Andre an.

Andre blickte neugierig im Zimmer herum, gut, dachte ich, sagt Uteto Fritz, er hat die Neugier eines Kindes noch nicht verloren, die geht ja oft verloren in der Obhut der Eltern, vor allem, wenn sich die Neugier auf das Leben der Eltern erstreckt, denn Eltern – das haben sie von ihren Eltern gelernt – halten ihr Leben gern versteckt, schließlich holte Andre einen Block heraus, einen Schreibblock, und Andreas kommentierte dieses Schreibblockherausholen sofort, er sagte: Ja, Andre schreibt schon, sehr viel, obwohl er erst in die dritte Klasse geht, in die dritte Klasse geht er und schreibt schon so viel, und er ist ein aufgewecktes Kind, wissen Sie, Anna und ich, wir sind stolz auf ihn, dennoch machen wir uns Sorgen, denn Andre isst für sein Leben gern Ananas, aber jetzt isst er nicht einmal mehr Ananas, im Gegenteil, ich reiche ihm eine Ananas und er wirft sie Anna ins Gesicht, mitten ins Gesicht, das geht doch nicht, was sollen wir denn da machen, das Leben ist die beste Therapie, ja, aber doch nicht so ein Leben mit so einem Kind, Familientherapie – Sie sind doch Familientherapeut? – Familientherapie ist unsere letzte Hoffnung, ich meine, das Kind weggeben, wir wollen nicht daran denken, aber es geht doch nicht, dass Anna und ich an diesem Kind zu Grunde gehen, wo wir so viele Jahre mittels Paartherapie an unserer Beziehung gearbeitet haben, Paartherapie, das hat uns geholfen, das hat uns auch das gewünschte Kind gebracht, wir konnten doch nicht ahnen, dass das Kind unser mühsam erarbeitetes Gleichgewicht so durcheinander bringen würde, wir –

Plötzlich stieß Andre einen lauten Schrei aus und richtete seinen Stift wie einen Pfeil gegen Andreas.

Sehen Sie! sagte Andreas, was sollen wir nur tun? Wir sind mit unseren Nerven am Ende!

Ich wandte mich Andre zu, sagt Uteto Fritz, und sagte: Du schreibst doch sehr gerne, Andre – schreib was über dich! Andre lächelte und schrieb, langsam und bedächtig, in seinen Schreibblock:

Beute und Beate 3: Hansis Brief

Fortsetzung von Teil 2

Wir saßen wie hingemalt im Gras, Ute und ich. Das Leben aber ging weiter. In diesem Weiter bestrahlte die tiefer werdende Sonne die grünen Baumkronen, auf denen die Vögel begannen, ihre Abendlieder anzustimmen. Ute schob mir langsam einen zusammengefalteten Zettel in die Hand. Ich faltete ihn auseinander und begann zu lesen:

Meine liebste Beute,

ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, vielleicht Bezogenheit auf dich, es ist auch nicht wichtig, jedenfalls fühle ich mich dir immer noch sehr verbunden, dir, die du in Unliebe zu dir selbst so oft mit dir unverbunden bist. Ich kenne das von mir, habe mich von Unliebe immer wieder anstecken lassen und mich dann selbst nicht geliebt. Vielleicht ist Unliebe die ansteckendste Krankheit dieser Welt, dabei wollen wir die Liebe, alle von uns, aber gleichzeitig haben wir Angst vor ihr, denn die Liebe ist groß und mächtig.

Ich bin fest entschlossen, die Liebe zu leben, durch alle Widerstände hindurch, und deshalb sage ich dir jetzt, dass ich dich nicht mehr sehen will, nicht weil ich dich nicht liebe, sondern weil ich dich liebe und weil ich spüre, dass wir uns in Unliebe verstricken und die Liebe nicht mehr sehen.

Heute Morgen fühle ich mich frei, ich spüre die Liebe. Ich kann über die Wut und Trauer, die ich dir gegenüber auch spüre, hinwegsehen und sagen: Ich wünsche dir und mir und der Welt die Freiheit für die Liebe, ich wünsche mir Begegnungen ohne Mauern, bei denen sich Herzen treffen und miteinander singen.

Fühl dich geliebt, von mir und der ganzen Welt!

                                Hansi

Ich legte den Zettel wieder in Utes Hand. Wortlos blickten wir über die Baumkronen zum blauen Himmel hoch. Lauschten den Abendliedern der Vögel. Die Sonne grüßte tief von Westen. Wir standen auf. Schritten durch grüne Auen. Langsam und bedächtig. Schweigend. Wir erreichten die Stadt. Selbst die harten Straßen lagen mild im sanften Dämmerlicht. Aus einem Fenster klang ein Klavier. Ich blieb unter dem Fenster stehen und sagte zu Ute: Das ist Hansi! Ute fiel mir in die Arme und drückte sich an mich, dass ich ihren Herzschlag spüren konnte.

Beute und Beate 2: Beates Unfall

Fortsetzung von Teil 1

Als Halbwaise, ohne Mutter und mit dem Vater im Gefängnis, zog ich zu Beate, die ein kleines Zimmer frei hatte.

Es war aufregend, bei Beate zu wohnen. Sie hatte viele Freier. Es ging laut und energisch zur Sache, das hörte ich durch die Wände. Ich lag während dieser Liebesorgien auf meinem Bett, fingerte an mir herum und fantasierte von Gruppensex mit Beate und ihren Freiern.

Eines Tages, mitten in diese Liebesidylle, kam ein Brief von Hansi, ganz klassisch, auf Papier mit der Post. Ich saß auf dem Küchentisch, öffnete ihn und begann zu lesen: Meine liebste Beute... Das reichte mir schon. Ich erwartete nichts als Schwachsinn, dummes Gesülze von Liebe und so. Ich legte den Brief weg, ging in mein Zimmer und ließ mich auf mein Bett fallen. Außer mir war niemand zuhause, dachte ich, doch dann hörte ich jemanden in der Küche herumkramen. Es war nicht Beate, es waren nicht ihre Geräusche. Wer war das? Dann klopfte es an meiner Tür. Es war einer von Beates Freiern, ich kannte ihn vom Sehen. Er hielt Hansis Brief in der Hand und sagte: Ich heiß zwar nicht Hansi, meine Liebste, aber willst du meine Beute sein?

Mich erregte, wie er das sagte. Ich war wie gebannt, es lief mir heiß über den Rücken. Ich zog mich aus und ließ mich von ihm ans Bett fesseln. Als ich nackt und gefesselt vor ihm lag, sagte er: Ich komm gleich wieder, muss nur kurz telefonieren. Das erregte mich nur noch mehr. Als er zurückkam, ließ er seine Hose runter und rammte ihn in mich rein. Trotz meiner Erregtheit war mir das zu viel, zu heftig, aber ich dachte: So ist eben Sex mit einem Mann – hart und unerbittlich. Mitten in sein heftiges Rammeln klingelte es an der Wohnungstür, er zog ihn raus, grinste mich mit einem breiten Macholächeln an, ging zur Tür und öffnete. Ich hörte Lärm im Treppenhaus. Mir wurde unheimlich, ich bekam Angst. Plötzlich standen unzählige Typen in meinem Zimmer, sie ließen ihre Hosen runter, sie schwangen ihre Schwänze vor mir, einer packte mich und steckte ihn in meine Muschi, ein anderer steckte ihn mir in den Mund, es würgte mich, sie lachten, ich fühlte mich eklig und schmutzig, aber sie hörten nicht auf, sie bespukten und schlugen mich, sie zogen mich an den Haaren, sie steckten die Schwänze ohne Vorbereitung in mein Arschloch und es tat so weh, ich war mir sicher, gleich zu sterben, da kam plötzlich Beate ins Zimmer und schrie:

AUFHÖREN!!!

Ein Schrei, der das Treiben zum Stillstand brachte. Sie ging auf den Typen los, der mit Hansis Brief ins Zimmer gekommen war, woraufhin er sie heftig ohrfeigte. Sie war wohl kurz bewusstlos und schlug ungebremst mit dem Kopf auf dem Boden auf. Schwere Gehirnschädigung, sagen die Ärzte. Seitdem ist sie ein Spasti und lallt nur mehr statt zu sprechen.

Ute und ich saßen wie hingemalt im Gras. Die Vögel zwitscherten ihre Frühlingslieder.

weiter zu Teil 3