Ogatorp, der Protago

Einst gab es Vögel, die waren für den Tag und gegen die Nacht. Deshalb nannte man sie Protagos. Man hätte sie auch Kontranachtos nennen können, doch man dachte sich, es ist besser, das Für-Etwas in ihrem Namen auszudrücken und nicht das Gegen-Etwas. Die Protagos hielten sich immer da auf, wo gerade mehr Tag war, also in einer Hälfte des Jahres weit nördlich auf der Nordhalbkugel und in der anderen Hälfte des Jahres weit südlich auf der Südhalbkugel. Dazwischen mussten sie sehr sehr weit fliegen, was sehr sehr anstrengend war. Deshalb waren die Protagos oft schlecht gelaunt, denn sie wussten, egal ob sie auf der Nord- oder Südhalbkugel waren: Bald müssen wir wieder sehr sehr weit fliegen.

Unsere Erzählung setzt ein, als die Protagos gerade beim Nisten waren, auf der Nordhalbkugel. Dort wurde ein junger Protago geboren, der den Namen Ogatorp erhielt. Das war ein seltener Name für einen Protago, und Papa Protago fragte: Wieso denn Ogatorp? Ich spüre es, sagte Mama Protago: Dieser Junge ist besonders – er soll Ogatorp heißen. Und der junge Ogatorp war tatsächlich besonders: Er hielt sich sehr gerne auf dem Boden auf und vernachlässigte vom ersten Tag an das Fliegen. Seine Eltern und andere Protagos zeterten wild herum, das Zetern war überhaupt ein Hauptmerkmal der Protagos und Ausdruck ihrer permanenten Unruhe, doch mit Ogatorp zeterten sie noch wilder als sonst, sie wollten ihn auffordern, mehr zu fliegen, um sich vorzubereiten auf die lange Reise zur Südhalbkugel. Doch Ogatorp wollte seine Ruhe haben und freundete sich stattdessen mit einem Rentier an. Er saß auf dem Rücken des Rentiers, nährte sich vom Ungeziefer und den Insekten in seinem Fell und sagte: Ich möchte bei dir bleiben und nicht mit meinen Eltern wegfliegen.
Da sagte das Rentier: Du hast es gut, du kannst wegfliegen. Ich kann nicht fliegen, ich muss laufen.
Wieso musst du laufen, wieso kannst du nicht hierbleiben?
Hier ist es im Winter zu kalt und zu dunkel, ich muss nach Süden laufen.
Schade, dann muss ich wohl auch mit meinen Eltern nach Süden fliegen, meinte Ogatorp. Dabei möchte ich so gerne die Dunkelheit kennenlernen! Ich kenne die Dunkelheit überhaupt nicht, ich kenne nur das Helle, die Hellheit.

Die anderen Protagos waren schon aufgebrochen, da verabschiedete sich Ogatorp schweren Herzens vom Rentier und flog mit seinen Eltern Richtung Süden. Ogatorp fiel das Fliegen schwer, er hatte es zu wenig geübt, war er doch die ganze Zeit auf dem Rücken des Rentiers gesessen. Er fiel hinter seine Eltern zurück und segelte schließlich zur Erde hinunter. Dort landete er neben einer Schildkröte. Ogatorp fragte die Schildkröte: Wo bin ich denn hier?
Du bist hier in der Mitte der Erde, sagte die Schildkröte.
Kann ich hier bleiben?
Natürlich kannst du hier bleiben. Ich bin schon sehr lange hier, und es geht mir sehr gut.
Ist es sehr dunkel?
Ja, in der Nacht ist es sehr dunkel und am Tag ist es sehr hell.

Das gefällt mir, dachte sich Ogatorp: Hier will ich bleiben. Da kamen seine Eltern wild zeternd angeflogen und schimpften mit ihm: Was machst du hier? Wir müssen weiter nach Süden!
Ich möchte hierbleiben bei der Schildkröte, sagte Ogatorp.
Die Eltern schüttelten verständnislos ihre Köpfe und sagen einhellig: Ein Protago kann nicht hierbleiben, hier ist es zu dunkel, ein Protago muss ins Helle fliegen, ein Protago ist pro Tag und kontra Nacht.
Dann will ich kein Protago sein, sagte Ogatorp und kuschelte sich an den Panzer der Schildkröte. Die Eltern wurden sehr zornig – oder war es eher ihre Hilflosigkeit, die sich im Zorn ausdrückte, ihre Gefangenheit im Gedankenkorsett eines Protagos? Jedenfalls hackten sie mit ihren spitzen Schnäbeln auf Ogatorp ein, bis dieser leblos und zerhackt neben der Schildkröte liegenblieb.

Als Mama-Protago sah, was sie angerichtet hatten, weinte sie bittere Tränen, doch Papa-Protago sagte: Komm, lass uns weiterfliegen zur Südhalbkugel – Ogatorp hätte die Reise ohnehin nicht geschafft und uns nur aufgehalten, der konnte ja kaum fliegen, weil er immer auf dem Rentier rumhockte.