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La Li Berta – aus dem Leben des H.N.R. Lindner

Hubert Norbert Robert Lindner, besser bekannt als H.N.R. Lindner, ist ein in Paris lebender Sänger klassischer Musik, der ursprünglich aus dem Dorf Linden im oberbayrischen Voralpenland stammt. Kürzlich hatte er einen umjubelten Auftritt in Deutschland. Doch wer ist dieser H.N.R. Lindner eigentlich?

Fragt man die Leute in Linden nach ihm, so sagen sie: Ja mei, der Lindner Bert, unser Franzose! Der war schon immer ein komischer Vogel!
Der Lindner Bert, wie er in seiner Heimat genannt wird, ist als Bub mit dem Bus zum nächstgrößeren Dorf in die Schule gefahren. In dem Bus saß auch die Lindner Berta, die auch aus Linden war und ins nächstgrößere Dorf in die Schule gefahren ist. In Linden heißen sehr viele Menschen Lindner, sie schreiben sich so, wie man im Dorf sagt, und es ist in Linden ein Volkssport, zu diskutieren, ob man mit einem anderen Lindner verwandt ist oder nicht. Bert fragte seine Eltern, ob er mit Berta aus dem Schulbus verwandt ist, und sie verneinten, und so fragte er seine Oma, und die verneinte auch. Bert war enttäuscht, denn wenn er mit Berta verwandt wäre, wäre er ihr näher, dachte er. Und das war alles, was er wollte: Berta nahe sein, nicht nur im Schulbus. Aber Berta ignorierte ihn weitestgehend, sogar im Schulbus mied sie es, sich neben Bert zu setzen. Voller Sehnsucht nach Berta streifte Bert nach der Schule durch die Wälder um Linden. Um seine Sehnsucht zu besänftigen, fing er zu singen an, stundenlang. Nur beim Singen bin ich bei mir, ansonsten wäre das Leben für mich nicht lebenswert, sagte Lindner kürzlich in einem Interview, und diese Leidenschaft hat wohl damals in den Wäldern um Linden begonnen.

In Linden gibt es ein Tagungshaus nahe am Wald, und an diesem Tagungshaus schlenderte Bert an einem Tag gedankenverloren und singend vorbei, als dort gerade ein Musikprofessor tagte. Der Professor hörte Bert singen, lief zu ihm und nahm ihn anschließend gleich mit auf die Musikhochschule. Bert fühlte sich überrumpelt: Der plötzliche Abschied von Linden, von seinen Wäldern, und vor allem: der Abschied von Berta. Er sang doch nur wegen Berta. Sang er nur wegen Berta? In München gestaltete sich das neue Leben für Bert schwierig, für ihn, der immer nur in Linden und seinen Wäldern oder maximal in der Schule im Nachbardorf war. Gottseidank hatte er das Singen, das machte das Leben für ihn lebenswert.

Als er einmal gedankenverloren und summend in München die Barerstraße im Museumsviertel entlangging, klopfte ihm plötzlich jemand auf die Schulter.
Bert! sagte die Frau, die ihm auf die Schulter geklopft hatte.
Berta! sagte Bert.
Es war tatsächlich die Lindner Berta aus Linden, die aus dem Schulbus, mit der Bert nicht verwandt ist. Berta war in Begleitung eines Asiaten, der, obwohl er Asiate war, viel älter aussah als Berta.
Das ist Mister Li, sagte Berta, wir wollen in Kürze heiraten.
Bert schaute überfordert. Er wollte singen, aber es erschien ihm in der Situation nicht angebracht, und so schüttelte er sich kurz und unterdrückte seinen Singreflex.
Berta, I will go to Alte Pinakothek. Will you join me later? sagte Mister Li.
Berta gab ihm einen Kuss und nickte. Mister Li nickte Bert kurz zu und ging.
Bert fragte Berta: Du hier in München?
Ja, seit einiger Zeit. Ich habe in einer Bar gearbeitet, dort habe ich Mister Li kennengelernt.
Bert schaute in Richtung Alte Pinakothek, wohin Mister Li gegangen war.
Der hat Geld, sag ich dir, meinte Berta weiter, ohne Ende! In China ist es ihm zu dreckig, deshalb will er jetzt in München leben. Stell dir vor: Kürzlich war ich mit ihm in Linden, da hat er, als beim Sommerfest eine Menge Leute um ihn rumstanden, zum Chef des Brauchtumsvereins gesagt: It’s a beautiful village. Can I buy it? Da haben sie mich groß angeschaut, und ich hab gesagt: Er sagt, Linden ist ein schönes Dorf, er möchte es kaufen. Da haben sie geschimpft und haben gesagt, ich soll mich schleichen mit meinem blöden Chinesen. Das habe ich dann auch gemacht, und ich fahr da auch nicht mehr hin, zu diesen eingenähten Idioten!
Berta bebte vor Zorn, und Bert sah Abgründe, die wohl nur mit Musik überwunden werden können, gegen die sich Berta allerdings mit Mister Lis Geld absichern wollte. Bert ging davon, ohne ein Wort, ließ Berta stehen. Alles gefror in ihm, und nicht einmal Musik vermochte ihn aufzutauen.

Berts internationale Karriere als Sänger war zu diesem Zeitpunkt längst am Laufen, und er beschloss, München zu verlassen, die Stadt, in der die Lindner Berta mit Mister Li lebt, und nach Paris zu ziehen. Dort lebt er seit geraumer Zeit mit seinen zwei Möpsen. Sein Entschluss, nach Paris zu ziehen, sei damals wesentlich beeinflusst worden von Morrisseys Lied,

sagte Lindner kürzlich in einem Interview. Warum er sich zwei Möpse angeschafft hat? Die erinnern mich mit ihrer Atemnot immer daran, wie gesegnet ich bin, gut atmen zu können. Denn ohne Atmen kein Singen. Ohne Atmen kein Leben. Und Singen ist mein Leben.

Als er kürzlich in Deutschland war, bei seinem eingangs erwähnten umjubelten Auftritt, besuchte er vorher Linden. Er durchstreifte die Wälder, kam am Tagungshaus vorbei. Dort, wo alles begann. Im Dorf begegnete er Bertas Eltern, die ganz schwarz gekleidet waren. Erschrocken fragte er, was passiert sei.
Die Berta ist tot.
Wieso denn das?
Ihr Mann, der Chinese, hatte sich einen neuen BMW angeschafft und ist mit der Berta die Autobahn Richtung Garmisch entlanggeheizt. Unfall. Tot.
Kränze waren schon am Grab, mit Schleifen daran: Zum Gedenken an Li Berta, geborene Lindner.

Bei seinem anschließenden Auftritt sang Bert die Arie Lascia ch’io pianga. In dieser Arie wird die verlorene Freiheit, la libertà, beweint. Lindner jedoch beweinte, und das wusste nur er, die Li Berta, la Li Berta, seine Liebe aus dem Schulbus von Linden ins Nachbardorf, wo alles begann. Die Feuilletons schrieben nach seinem Auftritt: Lindners Gesang berührt ungemein, denn man hat das Gefühl, dass jedes Wort, das er singt, aus dem tiefsten Grund seines Herzens kommt. Und das ist doch das Höchste, das Kunst erreichen kann: dass sie uns in die tiefsten Tiefen unseres Lebens führt, dorthin, wo es lebenswert ist.

 

Live-Mitschnitt von H.N.R. Lindners Auftritt

Lass mich die Liebe erleben…

Zeit der Verwirrung – Zeit der neuen Möglichkeiten. Wenn es persönlich wird, gehen mir die Worte aus. Keine Konstrukte möglich, um über Umwege etwas auszudrücken. Nur ich und diese Welt, wie ich sie erlebe. Meine Mitmenschen als Spiegel, und je nachdem wie mutig ich bin, schaue ich in diesen Spiegel oder nicht.

Ich habe meine Bewegungsfähigkeit entdeckt, bin gerannt und gerannt. Davongerannt. Vor meiner Erstarrung. Vor meiner Hilflosigkeit. Vor meiner Angst. Nun stehe ich hier, auf der Wiese des späten Abends, und hinter den Bäumen geht der Mond auf. Hurra, Zeit zum Glücklichsein! Doch das Glück stellt sich höchstens auf intellektuelle Weise ein, nicht auf umfassende. Hänge ich mich im Intellekt fest, um mich vor dem Umfassenden zu drücken? Weiterrennen bringt nichts, obwohl es mich drängt, weiterzurennen, um nicht mehr festzuhängen. Der Hamster im Rad hängt auch fest. Rennen ist nicht die Lösung.

Josefine kommt über die Wiese gelaufen. Der Intellekt sagt: Das kann nicht sein, dass Josefine über die Wiese gelaufen kommt. Das ist der Plot eines schlechten Drehbuchs. Weil der Intellekt nicht will, dass Josefine über die Wiese gelaufen kommt. Weil der Intellekt die Erstarrung, die Hilflosigkeit, die Angst gewohnt ist und sich in ihr sicher fühlt. Aber das Umfassende nimmt wahr: Josefine kommt über die Wiese gelaufen.

Die Angst sagt, ruhig stehenzubleiben und Josefine auf mich zukommen zu lassen. Nur nicht zeigen, wie ich mich fühle. Nur keine Schwäche zeigen. Der Mut sagt, Josefine entgegenzulaufen und ihr zu zeigen, wie ich mich freue, dass sie kommt. Angst gegen Mut. Josefine und ich kennen uns sehr lange, sagt der Intellekt. Wir lernen uns jeden Tag neu kennen, sagt das Umfassende.

Plötzlich ist es mir scheißegal, meine Vorsichten, meine Angst vor Nähe: Ich laufe Josefine entgegen und breite meine Arme aus, und Josefine läuft mir entgegen und breitet ihre Arme aus und es fühlt sich umfassend an und der Intellekt hat nichts zu melden. Ich bin doch nur ein kleines Mädchen, das geliebt werden will, sagt Josefine, als wir uns erreicht haben und uns in den Armen liegen. Und ich ein kleiner Junge, der geliebt werden will, sage ich und merke, dass ich noch nie so geliebt habe wie in diesem Moment, so unbedarft und ohne die Angst, auf der der Intellekt seine Gedankengebäude errichtet.

Lass mich mein grausames Schicksal beweinen…

So ist es eben: Kaum bin ich mit einem Text fertig, renne ich in die Natur oder ins Theater. Im Sommer normalerweise in die Natur, aber heute mache ich eine Ausnahme: Ich gehe ins Theater. Sie spielen eine Komödie über geldgierige Gesellen, die von Volpone, dem schlauen Fuchs, um ihr Geld gebracht werden. Eine willkommene Abwechslung für mich, der zur Tragödie neigt. Doch dann erwischen sie mich komplett am falschen Fuß. Sie treiben mir das Schwert in mein tiefstes Inneres. Sie eröffnen den Abend mit der Arie Lascia ch’io pianga aus Händels Oper Rinaldo:

Lascia ch'io pianga mia cruda sorte
e che sospiri la libertà.
Il duolo infranga queste ritorte
dei miei martiri, sol per pietà.

Lass mich mein grausames Schicksal beweinen
und beseufzen die verlorene Freiheit.
Das Leid zerbreche diese Ketten
meiner Qualen, allein aus Erbarmen.

Würdiger, ergreifender und genüsslicher als mit dieser Melodie ist niemals getrauert worden. Ein Fest des Selbstmitleids. Ein Schauspieler mimt auf der Bühne zur Toneinspielung den Sänger. Ein Drama, das mich völlig übermannt. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Es ist, als würden mir Fesseln angelegt. Mein Atem stockt. Mein Herz bleibt stehen. Die Bilder, sie kommen mit aller Gewalt, mit mir als zweijährigen Jungen: Das Krankenhaus, in dem ich wegen eines schweren Infekts in Quarantäne gehalten werde. Durch dickes Glas kann ich sie schemenhaft erkennen. Aber ich kann nicht zu ihnen, zu meinen geliebten Eltern. Ich stecke fest, festgeschnallt. Angst und Schrecken. Hoffnungslosigkeit. Hilflosigkeit. Es wird dunkel. Totaler Zusammenbruch. Totale Selbstaufgabe. Sterbe ich jetzt?

Ich versuche zu leben. Oder erwache ich gerade? Die Übelkeit im Magen. Meine angespannten Muskeln. Meine Tränen in den Augen. So schön können Tränen sein. Ich lebe. Ich lebe! Der Boden unter meinen Füßen. Der Sitz unter meinem Hintern. Die Lehne hinter meinem Rücken. Die Luft um meinen Kopf. Die Schauspieler auf der Bühne mit ihren Körpern voller Leben. Ich sehe sie. Ich freue mich, sie zu sehen. Voller Neugier beobachte ich, wo der Abend sie hinträgt.

Meine Hände klatschen. Ja, sie klatschen! Keine Fesseln mehr! Ich stehe auf. Ich bin frei, zu gehen! Ich renne aus dem Theater. Ich renne und renne so schnell ich kann und spüre meine Beine, wie sie mich tragen. Ich lache wie ein Schelm. Ich renne in die Natur, wo im Lindenwipfel des Mondes weiße Barke ruht.

So ist es eben: Kaum bin ich mit einem Text fertig, renne ich ins Theater oder in die Natur. Aber dass ich mit diesem Text fertig bin, erfüllt mich mit einer bisher nicht gekannten Zufriedenheit.

Volpone am Volkstheater München

Pasolini und der frühe Tod

Ich bin in den Siebzigerjahren geboren, sagt Vorderbrandner, in jenem Jahrzehnt, in dem die Menschheit ihre Freiheit entdeckte, von der sie heute weitgehend wieder abgerückt ist.

Gelebt aber habe ich davor schon, sagt Vorderbrandner, und ich weiß, dass ich mittendrin war in diesem Aufbruch in die Freiheit. Ich war in Italien und sah den Film Teorema – Geometrie der Liebe, den Pasolini gerade herausgebracht hatte:

Nach dem Kino traf ich mich mit Pasolini und sagte zu ihm: „Pier Paolo, was für ein wunderbarer Film, den du da gemacht hast! Ein Film wie ein Gemälde! Mit einer Symbolik, die keiner Worte bedarf! Außerdem trifft er das Bürgertum ins Mark, zeigt ihm seine Befangen- und Gefangenheit!“
„Ich hasse das Bürgertum!“ sagte Pasolini, nein, er schrie es mehr: „Ich hätte diesen Film nicht machen sollen! So viel Aufmerksamkeit für solche Idioten!“
„Er trifft die Kirche ins Mark“, meinte ich weiter, „indem du einen modernen Jesus schickst, der den Leuten ihre Freiheit zeigt!“
„Ich hasse die Kirche und ihre verlogene Moral! Nein, ich hätte diesen Film nicht machen sollen!“ entgegnete Pasolini mit starrem Blick. Ich sah so etwas wie Traurigkeit in seinem Gesicht und hatte den Eindruck, als wolle er nur weg, weg, weg. Aber wohin?

Ich sprach weiter und sagte: „Eines verwirrt mich: Warum ist dein moderner Jesus ein Mann? Hätte er nicht genauso gut eine Frau sein können? Außerdem werden die durch ihn befreiten Frauen ziemlich verrückt, während sich die befreiten Männer der Kunst und der Spiritualität zuwenden. Gestehst du den Frauen diese Freiheit nicht zu?“

Pasolini rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. Dann wurde er ruhig, so als hätte er sich gesammelt, und sagte mit nachdenklichem Blick: „Nur die Männer können die Erlöser sein. Die Frauen sind Gefangene. Gefangene dieser Gesellschaft.“

Ich erwiderte nichts. Ich sprang auf und rannte davon, so schnell ich konnte. Während des Rennens wurden meine Gedanken klar, und ich erkannte, was der Unterschied zwischen mir und Pasolini ist: Er sieht die Männer als Erlöser, ich die Frauen. Hätte ich damals nur gewusst, dass man nur sein eigener Erlöser sein kann! Ich rannte und rannte, bis ich schließlich an einen Strand gelangte. Dort sah ich über das Meer in die untergehende Sonne. Das Gespräch mit Pasolini hatte mich derart aufgewühlt, dass ich nicht mehr wusste wohin mit mir. Da kamen ein paar Leute und erlösten mich. Sie hatten Stoff dabei. In meiner Überdrehtheit und Euphorie nahm ich viel zu viel davon, und so endete mein Weg in die Freiheit frühzeitig.

Jahre später, sagt Vorderbrandner, wurde ich neu geboren, mit all der Verwirrtheit, die mir mein altes Leben hinterlassen hat.

Arm und reich und Claude Penet

In Zeiten des Raubtierkapitalismus, in denen immer weniger immer mehr haben, passieren einem seltsame Dinge. So sah ich kürzlich einen Reichen, der unter lauten Armen stand und sagte: Ich fühle mich umarmt.

Da dachte ich an Claude Penet, der sicher auch arm gewesen ist. Claude Penet hat nämlich sein Essen extrem rationiert. Er aß immer nur kleinste Portionen. Manche sagen, er war nicht arm, sondern er fühlte sich zu dick und hat sich deshalb nur kleinste Rationen gegönnt. Wie auch immer – seit Claude Penet sagt man, wenn man nur eine kleinste Portion von einem Gericht zu sich nehmen will: Ich hätte gerne eine Penetration.

Was mach ich bloß an dieser Stelle?

Wir stecken fest. Beide, glaube ich. Zumindest bei mir bin ich mir sicher. Wir reden Worte, die nichts bedeuten. Wir bemühen uns, durch Gerede voranzukommen, kommen aber nicht vom Fleck. Wie denn auch? Alles was da ist, sind Gefühle, und Gefühle in Worte zu kleiden hat noch nie funktioniert. Sonst wären sie ja Gedanken. Die Gefühle stecken in unseren Körpern fest. Unsere Körper, die uns vielleicht helfen könnten, sind eingefroren. Unfähig, ihre Gefühle auszudrücken, sich zu bewegen, sich aufeinander zuzubewegen.

Ich träume davon, wie unsere Gefühle losgelassen werden und unsere Körper sich umschlingen, wie wir nacheinander greifen, um uns selbst zu begreifen. Wie alles fließt und unsere Tränen der Erleichterung fließen, weil alle Gefühle losgelassen sind, die uns bisher gefangen genommen haben. Ich bin die Angst, die Angst vor mir, wenn du dich fürchtest, bin ich bei dir, sage ich zu dir im intensivsten Augenblick unseres Umschlungenseins, und ich weiß, dass ich damit Blumfeld zitiere, doch nie war ein Zitat so wahrhaftig wie dieses. Spürst du, dass ich bei dir sein will? Nein, ich will mich nicht vor meiner Angst verkriechen, wie ich das schon so oft getan habe, nein, ich will durch sie hindurchgehen und mich dir zeigen, ohne Angst zu haben, dass du erschrickst und davonläufst. Denn davor habe ich die größte Angst: dass du davonläufst, du, durch die ich endlich zu mir komme. Ich bin nicht die Angst, nein, ich bin der, den ich durch dich erkenne.

Was mach ich bloß an dieser Stelle, an der wir uns so nahe sind? Wo ich mich kreuz und quer zerstreue, und längst noch nicht zu mir gekommen bin?

Hommage an Ingmar Bergman

Ingmar Bergmans Geschichten schauen auf den Grund der Seele. Einen seiner Filme zu sehen ist für mich wie eine Reise in die tiefsten Tiefen meines Lebens. Bergman hat immer wieder mit denselben Schauspielern zusammengearbeitet. Viele andere wollten unter ihm spielen, haben es aber nie getan.

Kürzlich habe ich geträumt, dass ich bei einem seiner Filme überraschenderweise ein Kandidat auf der Besetzungsliste war. Er suchte einen nordischen, zurückhaltenden Typen, der zu Wutausbrüchen neigt. Letztendlich lehnte er mich jedoch ab, was mich fürchterlich aufregte. Hatte er das Drehbuch nicht gelesen? Er, der größte Drehbuchautor aller Zeiten!

Hier die von Georg Stürzer nachgespielte Traumszene (Idee, Regie und Kamera: Harald Krist):

 

Ich wartete nicht auf Bergmans Antwort, sondern wachte vorher auf.

Der Künstler und die Liebe („Che farò senza Euridice?“)

Als ich minus vier Tage alt war, war ich mit meiner Mutter in einem Konzert in der Martinskirche in Basel*. Ich erinnere mich genau, als der Reigen seliger Geister** aus der Oper Orpheus und Eurydike von Christoph Willibald Gluck gespielt wurde. Wohlig warm war es im Bauch meiner Mutter, und obwohl ich kaum mehr Platz darin hatte, tanzte ich zu den Klängen, die ich hörte. Ich bekam eine Ahnung, dass es eine andere Welt gibt als die wohlig-warme Bauchhöhle meiner Mutter. Eine selige Welt. Eine Welt seliger Geister.

Vier Tage später kam ich auf diese Welt. Es war ein Schock. Es war trocken. Es war kalt. Es war hell und grell. Wo war der Reigen seliger Geister? Keiner spielte für mich. Keiner tanzte für mich. Ich fand die Welt, in die ich geboren worden war, beschissen, und je nach Stimmung beweinte oder beschimpfte ich sie. Nur mit Musik konnte man mich beruhigen. Aber ich glaube, das wusste niemand. Denn wenn man mir Musik vorspielte, dann geschah das zufällig, obwohl ich mich so danach sehnte.

Nach ein paar Jahren des Lebens auf dieser Welt drang eines Tages die Melodie des Reigens seliger Geister an mein Ohr. Die Erinnerungen wurden wach. Ich rannte zu meiner Mutter und sagte aufgeregt: „Mutter, weißt du noch, damals, in Basel, in der Martinskirche, als wir den Reigen seliger Geister hörten!“
„Was?“
„Damals, ich war noch in deinem Bauch, als wir bei einem Konzert in der Martinskirche in Basel den Reigen seliger Geister hörten!“
Mutter lächelte, wie man ein Kind (leider) oft belächelt. Ich drängte sie, sich zu erinnern, es war mir sehr sehr wichtig, dass sie sich erinnert, mein Leben schien daran zu hängen, aber sie sagte nur: „Nein, ich erinnere mich nicht.“
Ein Schmerz durchzuckte mich, und ich verstand plötzlich Orpheus und seinen Schmerz, als er entdeckte, dass Eurydike vom Biss einer Schlange getötet worden war. Dieses Ich erinnere mich nicht meiner Mutter war wie der tödliche Biss einer Schlange.

Wie entrückt und von fern erlebte ich plötzlich diese Welt, und aus der Entrückung und Ferne fragte ich: „Mutter, warum bin ich in Basel geboren?“
Meiner Mutter war meine Fragerei lästig. Tadelnd schaute sie mich an.
„Mutter, wo war denn Vater, als ich geboren wurde? War er auch in Basel?“
„Du stellst Fragen! Ist das denn so wichtig? Geh jetzt an die frische Luft, um auf andere Gedanken zu kommen!“
„Mutter, wieso heiß ich denn Martin? Ist das, weil wir in der Martinskirche in Ba…“
„Du heißt so, weil der Name deinem Vater und mir gefiel! Und jetzt geh endlich nach draußen, bevor du hier weiter rumspinnst!“

Ich ging nach draußen und sah das Wasser, die Bäume und den Himmel. Die Vögel sangen. Sie sangen den Reigen seliger Geister. Und doch konnte mich ihr Gesang nicht trösten. Ich verging vor Sehnsucht nach Liebe. Mir wurde klar, dass ich sie immer suchen, aber nie finden würde. Eurydike wird immer wieder durch den Schlangenbiss getötet werden, und selbst wenn ich sie durch die Musik, durch dieses Lebenselixier, wieder zum Leben erwecke wie einst Orpheus, wird sie durch meinen Unglauben wieder sterben.

Was mache ich ohne Eurydike? Ich unterbrach den Reigen seliger Geister und klagte mein Leid***:

Che faró senza Euridice?
Dove andrò senza il mio ben?
Euridice!... Oh Dio! Rispondi!
Io son pure il tuo fedele!
Euridice!... Ah! Non m'avanza
più soccorso, più speranza,
né dal mondo, né dal cielo!

Was mach ich ohne Eurydike?
Wohin geh ich ohne meine Liebe?
Eurydike!... Oh Gott! Antworte!
Ich bin dir immer noch treu!
Eurydike!... Ach! Mir bleibt
keine Hilfe, keine Hoffnung,
weder auf Erden, noch im Himmel!

Ja, ich bin Künstler geworden. Es war unausweichlich. Künstler sind verlorene Seelen, auf der Suche nach der Liebe, ein Leben lang.

 

*Martinskirche in Basel

**Livemitschnitt des Konzerts

***Che farò senza Euridice?

 

Konrad Vert und Elisabeth Rauen

eine Geschichte über Kontrolle und Vertrauen

Konrad Vert war früher ein sehr angenehmer Zeitgenosse. Ihn zu sehen war mir jedesmal eine große Freude. Doch seit er Elisabeth Rauen kennengelernt hat, hat sich das grundlegend geändert.

Konrad kam damals zu mir, völlig euphorisiert, und sagte: Stell dir vor: Ich habe eine Frau namens Rauen kennengelernt! Das ist meine große Chance! Durch sie kann ich mein großes Lebensthema, das Vertrauen, in meinen Namen integrieren: Vert-Rauen. Ich muss sie heiraten!

Konrad hofierte und umwöhnte in der Folgezeit Elisabeth – so heißt die damals so heftig Umworbene mit Vornamen – wie die Prinzessin auf der Erbse. Der Diener und seine Herrin. Schließlich schaffte es Konrad, dass Elisabeth einwilligte zu heiraten, und aus Konrad Vert und Elisabeth Rauen wurden Konrad und Elisabeth Vert-Rauen. Konrad wollte noch durchsetzen, dass der Doppelname ohne Bindestrich geschrieben wird, also Vertrauen, kam damit aber bei den Behörden nicht durch. Das hinderte ihn nicht daran, seine Vertrauen-Praxis zu eröffnen für alle, die auf der Suche nach dem Vertrauen in ihr Leben sind.

Der größte Fehler ist doch, dozierte Konrad bei jeder Gelegenheit, dass wir über alles Kontrolle haben wollen. Dabei braucht es Vertrauen statt Kontrolle. Kommt zu mir und ich zeige euch, wie das Vertrauen in euer Leben kommt!

Aber die Leute wollten sich nicht so recht einlassen auf seine Vertrauen-Workshops, und so schimpfte Konrad immer mehr auf die kontrollwütigen Individuen unserer Gesellschaft, die unfähig seien, Vertrauen in sich aufzubauen, die diese Unfähigkeit an sich nicht erkennen würden und deshalb nicht einmal fähig seien, zu ihm zu kommen, der ihnen zeigen würde, was Vertrauen heißt.

Schließlich wurde das Geld knapp, und ein Freund von Elisabeth lieh ihnen Geld. Konrad bezichtigte daraufhin Elisabeth, eine Affäre mit diesem Freund zu haben, mit diesem neureichen Scheusal, wie er sagte, der mit seinem Geld Kontrolle ausüben will. Eines Abends, Konrad war völlig verzweifelt und hatte einigen Alkohol getrunken, sagte er mir, er werde nun einen Detektiv engagieren, um Elisabeth und dieses kontrollierende Geldschwein beobachten zu lassen. Er werde ein für allemal aufdecken, dass dieses Schwein Elisabeths Untergang bedeutet und dass solche Schweine im Allgemeinen den Untergang dieser Welt bedeuten.

Ich fuhr ihm ins Wort und sagte: Konrad! Was du da treibst, ist totaler Mist. Du schürst nichts als Mißtrauen. Konrad Mist-Rauen. Du bist für mich Konrad Kont auf der Suche nach Rosina Rolle, zur Erlangung der totalen Kontrolle!

Da wurde Konrad fuchsteufelswild und fuchtelte mit den Armen. Dann sackte er in sich zusammen und sagte mit starrem Blick: So ist es eben – wenn jemand nicht vertrauen kann, braucht es Kontrolle. Ich wollte es nicht. Ich wollte die Welt in ihr Vertrauen bringen. Aber die Welt braucht eben Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle, nichts als Kontrolle!

Junge Sommer Liebe („Johanna, ich liebe dich!“)

Ich war noch keine zwanzig, sagt Vorderbrandner. Ich hatte zuviel Hermann Hesse gelesen. Meine Laune schwankte zwischen süß und bitter. Süße Verliebtheit und bittere Enttäuschung. Es war Juni und der Sommer war da. Durch wogendes Gras und unter dichten Laubdächern ging ich zu meinem besten Freund: der Alten Linde. Ich setzte mich an ihren Stamm und träumte: von süßer Verliebtheit und bitterer Enttäuschung. Meine Träume entbehrten jeglicher Grundlage. Durch sie, so kann ich es jetzt sagen, sagt Vorderbrandner, flüchtete ich mich vor dem Leben.

Doch an diesem Tag an der Alten Linde war alles anders. Ich nahm mir fest vor, mein Leben ab jetzt zu leben, und der erste Schritt in diesem Leben würde sein, Johanna zu sagen, dass ich sie liebe. Während ich diese Vorsätze fasste, kam Johanna durchs Gras gelaufen. Ich wurde brutal ins Leben geworfen. Johanna lächelte, nicht stark, aber sie lächelte und ich lächelte zurück, nicht stark, aber ich lächelte. Der erste Schritt ins Leben war geglückt. Johanna setzte sich ins Gras, nicht nahe von mir, aber auch nicht weit weg, ich würde sagen, sie machte das sehr vernünftig, indem sie uns alle Möglichkeiten offenließ. Ich nahm mein Buch zur Hand – Das Glasperlenspiel von Hesse – ein völlig unpassendes Werk für mein damaliges Alter, aber alles andere von Hesse hatte ich bereits gelesen und ich betrachtete mich damals schon als reifen Hesse-Leser. Ich tat so als ob ich lese, war aber viel zu aufgeregt dazu. Ich schielte zu Johanna rüber, und dann blätterte ich eine Seite weiter, weil ich meinte, sie würde sicher genau beobachten, ob ich wirklich lese. Es war anstrengend, und nach einer Weile wünschte ich, Johanna wäre nicht da und ich allein mit der Alten Linde. Aber sie war da, und das erinnerte mich an meinen Vorsatz, das Leben zu leben, indem ich Johanna sage, dass ich sie liebe.

Ich ging zu Johanna und sagte: „Ich gehe zum Bach, um mich zu erfrischen.“
„Oh ja“, sagte Johanna, „das ist eine gute Idee: Es ist sehr heiß!“ und blieb sitzen.
Ich ging weiter zum Bach, um mich zu erfrischen, und ich schwankte, ob ich nur Gesicht, Beine und Arme erfrischen sollte, oder ob ich mich ganz ausziehen sollte, um meinen ganzen Körper zu erfrischen. Schließlich siegte mein Mut über meine Scham und ich beschloss, dass es zu meinem neuen Leben gehört, mich am ganzen Körper zu erfrischen. Bange und erwartungsvoll sah ich zu Johanna hinüber, als ich mich auszog. Sie hatte sich auf den Rücken gelegt. Nach der Erfrischung ging ich zur Alten Linde zurück, und als ich bei Johanna vorbeikam, sagte ich: „War sehr erfrischend!“ und sie lächelte, nicht stark, aber sie lächelte.

Ich setzte mich wieder an die Alte Linde und tat so, als ob ich lesen würde und sah im Augenwinkel, wie Johanna aufstand und zum Bach ging. Wohl, um sich zu erfrischen. Ich sah, wie sie ihr Sommerkleid auszog, um ihren ganzen Körper zu erfrischen, ehe ich mich wieder in Das Glasperlenspiel vertiefte. Sie kam zurück und rief mir zu: „Das war sehr erfrischend!“ Dann saßen wir beide da, und ich träumte nicht, sondern fand es schön, mit Johanna bei der Alten Linde in die tiefe Sonne zu blicken. Ein sanfter Abendwind wehte übers Gras und durch die Blätter der Linde. Da stand Johanna auf, und ich stand auch auf und sagte: „Es ist so schön hier, Johanna, und wenn du hier bist, ist es noch viel schöner!“
„Oh, danke!“ sagte Johanna: „Ich muss jetzt leider gehen!“
Wie ein Donnerschlag traf mich ihr Ich muss jetzt leider gehen! und riss mich aus allen Träumen. Ich sagte den durchaus mutigen Satz „Darf ich dich begleiten?“, aber ich vermute, ich hatte einen zu bettelnden Unterton, denn sie sagte: „Was? Nein. Ich gehe jetzt.“

Ratlos stand ich an der Alten Linde, dem Leben wieder sehr fern. Ich sammelte mich jedoch völlig unerwartet und rasch und sogar Humor gesellte sich zu mir und ich sagte: „Na gut, dann geh!“
„Was?“
„Geh! Geh voraus! Ich warte. Denn wenn wir beide gehen, begleite ich dich ja!“

Johanna ging über die Wiese. Ich sah ihr nach. Mir wurde schwindelig. Ich suchte bei der Alten Linde Halt und lehnte mich an ihren Stamm. Am Ende der Wiese blieb Johanna stehen. Sie drehte sich um. Ich schaute sie an und ließ meinen Blick nicht von ihr. Da sagte mein bester Freund, die Alte Linde: Komm, geh auch du! und ich setzte einen Schritt nach dem anderen ins Gras, sagt Vorderbrandner.

Abspann (Andantino)