In Zeiten des Raubtierkapitalismus, in denen immer weniger immer mehr haben, passieren einem seltsame Dinge. So sah ich kürzlich einen Reichen, der unter lauten Armen stand und sagte: Ich fühle mich umarmt.
Da dachte ich an Claude Penet, der sicher auch arm gewesen ist. Claude Penet hat nämlich sein Essen extrem rationiert. Er aß immer nur kleinste Portionen. Manche sagen, er war nicht arm, sondern er fühlte sich zu dick und hat sich deshalb nur kleinste Rationen gegönnt. Wie auch immer – seit Claude Penet sagt man, wenn man nur eine kleinste Portion von einem Gericht zu sich nehmen will: Ich hätte gerne eine Penetration.
Als ich minus vier Tage alt war, war ich mit meiner Mutter in einem Konzert in der Martinskirche in Basel*. Ich erinnere mich genau, als der Reigen seliger Geister** aus der Oper Orpheus und Eurydike von Christoph Willibald Gluck gespielt wurde. Wohlig warm war es im Bauch meiner Mutter, und obwohl ich kaum mehr Platz darin hatte, tanzte ich zu den Klängen, die ich hörte. Ich bekam eine Ahnung, dass es eine andere Welt gibt als die wohlig-warme Bauchhöhle meiner Mutter. Eine selige Welt. Eine Welt seliger Geister.
Vier Tage später kam ich auf diese Welt. Es war ein Schock. Es war trocken. Es war kalt. Es war hell und grell. Wo war der Reigen seliger Geister? Keiner spielte für mich. Keiner tanzte für mich. Ich fand die Welt, in die ich geboren worden war, beschissen, und je nach Stimmung beweinte oder beschimpfte ich sie. Nur mit Musik konnte man mich beruhigen. Aber ich glaube, das wusste niemand. Denn wenn man mir Musik vorspielte, dann geschah das zufällig, obwohl ich mich so danach sehnte.
Nach ein paar Jahren des Lebens auf dieser Welt drang eines Tages die Melodie des Reigens seliger Geister an mein Ohr. Die Erinnerungen wurden wach. Ich rannte zu meiner Mutter und sagte aufgeregt: „Mutter, weißt du noch, damals, in Basel, in der Martinskirche, als wir den Reigen seliger Geister hörten!“
„Was?“
„Damals, ich war noch in deinem Bauch, als wir bei einem Konzert in der Martinskirche in Basel den Reigen seliger Geister hörten!“
Mutter lächelte, wie man ein Kind (leider) oft belächelt. Ich drängte sie, sich zu erinnern, es war mir sehr sehr wichtig, dass sie sich erinnert, mein Leben schien daran zu hängen, aber sie sagte nur: „Nein, ich erinnere mich nicht.“
Ein Schmerz durchzuckte mich, und ich verstand plötzlich Orpheus und seinen Schmerz, als er entdeckte, dass Eurydike vom Biss einer Schlange getötet worden war. Dieses Ich erinnere mich nicht meiner Mutter war wie der tödliche Biss einer Schlange.
Wie entrückt und von fern erlebte ich plötzlich diese Welt, und aus der Entrückung und Ferne fragte ich: „Mutter, warum bin ich in Basel geboren?“
Meiner Mutter war meine Fragerei lästig. Tadelnd schaute sie mich an.
„Mutter, wo war denn Vater, als ich geboren wurde? War er auch in Basel?“
„Du stellst Fragen! Ist das denn so wichtig? Geh jetzt an die frische Luft, um auf andere Gedanken zu kommen!“
„Mutter, wieso heiß ich denn Martin? Ist das, weil wir in der Martinskirche in Ba…“
„Du heißt so, weil der Name deinem Vater und mir gefiel! Und jetzt geh endlich nach draußen, bevor du hier weiter rumspinnst!“
Ich ging nach draußen und sah das Wasser, die Bäume und den Himmel. Die Vögel sangen. Sie sangen den Reigen seliger Geister. Und doch konnte mich ihr Gesang nicht trösten. Ich verging vor Sehnsucht nach Liebe. Mir wurde klar, dass ich sie immer suchen, aber nie finden würde. Eurydike wird immer wieder durch den Schlangenbiss getötet werden, und selbst wenn ich sie durch die Musik, durch dieses Lebenselixier, wieder zum Leben erwecke wie einst Orpheus, wird sie durch meinen Unglauben wieder sterben.
Was mache ich ohne Eurydike? Ich unterbrach den Reigen seliger Geister und klagte mein Leid***:
Che faró senza Euridice?
Dove andrò senza il mio ben?
Euridice!... Oh Dio! Rispondi!
Io son pure il tuo fedele!
Euridice!... Ah! Non m'avanza
più soccorso, più speranza,
né dal mondo, né dal cielo!
Was mach ich ohne Eurydike?Wohin geh ich ohne meine Liebe?Eurydike!... Oh Gott! Antworte!Ich bin dir immer noch treu!Eurydike!... Ach! Mir bleibtkeine Hilfe, keine Hoffnung,weder auf Erden, noch im Himmel!
Ja, ich bin Künstler geworden. Es war unausweichlich. Künstler sind verlorene Seelen, auf der Suche nach der Liebe, ein Leben lang.
Ich war noch keine zwanzig, sagt Vorderbrandner. Ich hatte zuviel Hermann Hesse gelesen. Meine Laune schwankte zwischen süß und bitter. Süße Verliebtheit und bittere Enttäuschung. Es war Juni und der Sommer war da. Durch wogendes Gras und unter dichten Laubdächern ging ich zu meinem besten Freund: der Alten Linde. Ich setzte mich an ihren Stamm und träumte: von süßer Verliebtheit und bitterer Enttäuschung. Meine Träume entbehrten jeglicher Grundlage. Durch sie, so kann ich es jetzt sagen, sagt Vorderbrandner, flüchtete ich mich vor dem Leben.
Doch an diesem Tag an der Alten Linde war alles anders. Ich nahm mir fest vor, mein Leben ab jetzt zu leben, und der erste Schritt in diesem Leben würde sein, Johanna zu sagen, dass ich sie liebe. Während ich diese Vorsätze fasste, kam Johanna durchs Gras gelaufen. Ich wurde brutal ins Leben geworfen. Johanna lächelte, nicht stark, aber sie lächelte und ich lächelte zurück, nicht stark, aber ich lächelte. Der erste Schritt ins Leben war geglückt. Johanna setzte sich ins Gras, nicht nahe von mir, aber auch nicht weit weg, ich würde sagen, sie machte das sehr vernünftig, indem sie uns alle Möglichkeiten offenließ. Ich nahm mein Buch zur Hand – Das Glasperlenspiel von Hesse – ein völlig unpassendes Werk für mein damaliges Alter, aber alles andere von Hesse hatte ich bereits gelesen und ich betrachtete mich damals schon als reifen Hesse-Leser. Ich tat so als ob ich lese, war aber viel zu aufgeregt dazu. Ich schielte zu Johanna rüber, und dann blätterte ich eine Seite weiter, weil ich meinte, sie würde sicher genau beobachten, ob ich wirklich lese. Es war anstrengend, und nach einer Weile wünschte ich, Johanna wäre nicht da und ich allein mit der Alten Linde. Aber sie war da, und das erinnerte mich an meinen Vorsatz, das Leben zu leben, indem ich Johanna sage, dass ich sie liebe.
Ich ging zu Johanna und sagte: „Ich gehe zum Bach, um mich zu erfrischen.“
„Oh ja“, sagte Johanna, „das ist eine gute Idee: Es ist sehr heiß!“ und blieb sitzen.
Ich ging weiter zum Bach, um mich zu erfrischen, und ich schwankte, ob ich nur Gesicht, Beine und Arme erfrischen sollte, oder ob ich mich ganz ausziehen sollte, um meinen ganzen Körper zu erfrischen. Schließlich siegte mein Mut über meine Scham und ich beschloss, dass es zu meinem neuen Leben gehört, mich am ganzen Körper zu erfrischen. Bange und erwartungsvoll sah ich zu Johanna hinüber, als ich mich auszog. Sie hatte sich auf den Rücken gelegt. Nach der Erfrischung ging ich zur Alten Linde zurück, und als ich bei Johanna vorbeikam, sagte ich: „War sehr erfrischend!“ und sie lächelte, nicht stark, aber sie lächelte.
Ich setzte mich wieder an die Alte Linde und tat so, als ob ich lesen würde und sah im Augenwinkel, wie Johanna aufstand und zum Bach ging. Wohl, um sich zu erfrischen. Ich sah, wie sie ihr Sommerkleid auszog, um ihren ganzen Körper zu erfrischen, ehe ich mich wieder in Das Glasperlenspiel vertiefte. Sie kam zurück und rief mir zu: „Das war sehr erfrischend!“ Dann saßen wir beide da, und ich träumte nicht, sondern fand es schön, mit Johanna bei der Alten Linde in die tiefe Sonne zu blicken. Ein sanfter Abendwind wehte übers Gras und durch die Blätter der Linde. Da stand Johanna auf, und ich stand auch auf und sagte: „Es ist so schön hier, Johanna, und wenn du hier bist, ist es noch viel schöner!“
„Oh, danke!“ sagte Johanna: „Ich muss jetzt leider gehen!“
Wie ein Donnerschlag traf mich ihr Ich muss jetzt leider gehen! und riss mich aus allen Träumen. Ich sagte den durchaus mutigen Satz „Darf ich dich begleiten?“, aber ich vermute, ich hatte einen zu bettelnden Unterton, denn sie sagte: „Was? Nein. Ich gehe jetzt.“
Ratlos stand ich an der Alten Linde, dem Leben wieder sehr fern. Ich sammelte mich jedoch völlig unerwartet und rasch und sogar Humor gesellte sich zu mir und ich sagte: „Na gut, dann geh!“
„Was?“
„Geh! Geh voraus! Ich warte. Denn wenn wir beide gehen, begleite ich dich ja!“
Johanna ging über die Wiese. Ich sah ihr nach. Mir wurde schwindelig. Ich suchte bei der Alten Linde Halt und lehnte mich an ihren Stamm. Am Ende der Wiese blieb Johanna stehen. Sie drehte sich um. Ich schaute sie an und ließ meinen Blick nicht von ihr. Da sagte mein bester Freund, die Alte Linde: Komm, geh auch du! und ich setzte einen Schritt nach dem anderen ins Gras, sagt Vorderbrandner.
Es war einmal eine Stadt, die bestand aus vier Stadtvierteln. Dann wurde eine Umlandgemeinde eingemeindet, und nun bestand die Stadt aus fünf Stadtfünfteln. Weil die ursprünglichen Stadtbewohner es aber gewohnt waren, von Vierteln zu sprechen, sprachen sie weiterhin von Vierteln statt von Fünfteln. Die Bewohner der eingemeindeten Umlandgemeinde fühlten sich wie das fünfte Rad am Wagen, weshalb die eingemeindete Umlandgemeinde wieder ausgemeindet wurde. Schließlich kann man nicht von Stadtvierteln sprechen, wenn man von Stadtfünfteln sprechen müsste. Die Realität dem Sprachgebrauch anzupassen erschien hier angebracht, denn ohne Klarheit in der Sprache ist der Mensch nur ein Gartenzwerg:
Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten geheiratet und nannten sich fortan Herr und Frau Borg. Sie leisteten sich ein kleines Häuschen am Rande der Stadt, und in dem lebten sie auch. Sie wünschten sich zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und die bekamen sie auch. Sie nannten ihre Kinder Jörn und Inge. Damit hatten sie alles erreicht, was sie im Leben erreichen wollten. Sie hätten nun genauso gut sterben können, aber es war halt so, dass sie lebten, und so mussten sie sich das Leben irgendwie vertreiben.
Zwecks dieser Vertreibung gingen sie eines Abends in das Kulturzentrum am Stadtrand, zum Tanzabend. Sie tanzten und tranken und später gingen sie in leicht angeheitertem Zustand nachhause. In diesem angeheiterten Zustand bestiegen sie beide ihr Ehebett und befanden es eine gute Idee, sich wieder einmal körperlich nahe zu kommen. Es kam zum Koitus in dieser Nacht des angeheiterten Zustands, und das muss deshalb gesagt werden, weil es nicht irgendein Koitus war, sondern ein Koitus, der das Leben von Herrn und Frau Borg, in dem doch alles nur noch seinem Ende entgegenzutrudeln schien, entscheidend änderte.
Zwei Monate später war es nämlich Gewissheit: Durch diesen Koitus war Frau Borg schwanger geworden.
„Johan!“ sagte Frau Borg zu ihrem Mann: „Wie konntest du nur so leichtsinnig sein! Du weißt doch, dass ich auf keinen Fall mehr ein drittes Kind wollte!“
„Ich leichtsinnig? Du hattest mir gesagt, du verhütest!“
„Habe ich auch. Aber es ist wohl schiefgegangen.“
„Schiefgegangen? Du hast einfach nicht darauf geachtet! Nach dem Motto: Wird schon nichts passieren!“
„Du hättest dir einen Gummi überziehen können, dann wäre nichts passiert!“
„Wieso soll ich mir einen Gummi überziehen, wenn du verhütest? Außerdem weißt du, dass ich es mit Gummi nicht so gern mag.“
„Hängt also wieder alles an mir! Wenn du schon keinen Gummi überziehst, dann hättest du ihn wenigstens rausziehen können bevor du abspritzst!“
„Mach ich nächstes Mal und spritz dir mitten ins Gesicht! Bin gespannt, ob du das besser findest!“
„Werd nicht unverschämt!“ schrie Frau Borg und fing zu heulen an.
„Alma, beruhige dich! Ist es so schlimm, wenn wir noch ein Kind kriegen? Unser Häuschen ist doch groß genug!“
„Nein, ist es nicht!“
Trotz dieser schwierigen Voraussetzungen wuchs das Kind in Alma Borg heran und kam planmäßig und ohne Komplikationen auf die Welt. Es war ein Junge. Kaum waren jedoch die ersten Anstrengungen der Geburt überwunden, entstand eine neue Diskussion zwischen Herrn und Frau Borg, wie der Junge denn heißen soll:
„Ich wollte nur einen Jungen, und der sollte Jörn heißen. Das weißt du genau! Es gibt keinen anderen Namen als Jörn für einen Jungen in meiner Welt!“ erzürnte sich Frau Borg.
„Es kann doch nicht ein so großes Problem sein, einen anderen Namen als Jörn für einen Jungen zu finden!“
„Doch, kann es!“
„Weil du eines daraus machst!
Ein minutenlanges Schweigen breitete sich anschließend zwischen den beiden aus. Bis Johan Borg eine Idee kam: „Weißt du was, ich habe die Lösung: Wir nennen ihn einfach auch Jörn!“
„Wie?“
„Der zweite Jörn. Wenn unser Land so liberal ist wie es sich gerne gibt, werden wir unseren zweiten Sohn doch wie unseren ersten nennen dürfen!“
Der Junge durfte Jörn genannt werden und wurde – zur Unterscheidung von seinem größeren Bruder – B-Jörn gerufen. Als B-Jörn schon zur Schule ging und den Buchstaben B lernte, stellte er fest, dass B im Wort nicht Be gesprochen wird, sondern nur B. Nach Schulschluss rannte er schnell nachhause, wo er an diesem Tag seinen Vater antraf, und sagte aufgeregt: „Papa, ich habe heute gelernt, dass ich gar nicht B-Jörn bin, sondern Björn!“
„Na gut, von mir aus!“ sagte Herr Borg: „Dann bist du ab heute Björn. – Jetzt müssen wir nur noch deine Mutter davon überzeugen…“
Man kann an Ostern vieles machen. Man kann in ein Flugzeug steigen und nach New York reisen, und wirklich, ich war kurz davor, in ein Flugzeug zu steigen und nach New York zu reisen, doch dann entschied ich mich, in den Zeller Wald zu fahren und dort dem Gesang des Rotkehlchens zu lauschen. Doch je mehr ich mich auf den Gesang des Rotkehlchens freute, desto mehr fing es in meinem Oberkiefer hinten links zu rumoren an. In Zahn Zweisieben, wie ihn die Zahnärzte nüchtern bezeichnen, hatte sich etwas eingenistet, das von Tag zu Tag mehr Schmerzen verursachte, die am Karfreitag so heftig wurden, dass ich nach schmerzensreicher Nacht am nächsten Tag beschloss, die Notfallambulanz aufzusuchen.
Ich saß im Behandlungsstuhl und betrachtete das Hell und Dunkel auf dem Röntgenbild meines Gebisses. Zahn Zweisieben war in einem jämmerlichen Zustand, bereits wurzelbehandelt und tot, ein lebloser hohler Stift mit einer Plastikkrone obendrauf. Und jetzt hatten sich in diesem leblosen Stumpf wütende Bakterien eingenistet und wüteten hemmungslos. Ich spürte die Aufregung und Anspannung des quicklebendigen Nachbarzahns Zweisechs. Einerseits seine Sorge, die Bakterien könnten auch ihn in Beschlag nehmen, ihn, der noch voll im Saft ist und umso mehr leiden müsste. Andererseits seine Trauer, dass er seinen lebenslangen Nachbar und Freund nun endgültig verlieren würde.
Das Ziehen war kurz und schmerzlos. Die Entsorgung einer Leiche. Mit kühlendem Pad lag ich zuhause auf der Couch und bereitete mich auf mein Leben ohne Zahn Zweisieben vor. Meine Osterpläne waren durchkreuzt. Heute noch wollte ich aufbrechen in den Zeller Wald, doch das Rotkehlchen würde ohne meine Anwesenheit singen. Und an New York war schon gar nicht mehr zu denken. In dieser langen Weile, die ich nun vor mir sah, fand ich Gefallen an der Idee, an Ostern einen Western anzuschauen. Einen klassischen Western: Landnahme, Indianervernichtung. Nicht so weichgespültes Zeug wie Winnetou oder Der mit dem Wolf tanzt. Gedacht, getan: Ich saß stundenlang vor dem Bildschirm und sah die Bilder der kämpfenden Heroen in der Prärie.
Nach ein paar Stunden machte ich den Bildschirm aus. Ich erhob mich von der Couch und ging auf den Balkon. Ein Rotkehlchen sang. Ich blieb auf dem Balkon und lauschte. Eine neue Idee in mir – ein Plot für einen Ostern, als Gegenstück zu einem Western. Ich setzte mich hin und schrieb in meinen Notizblock:
Ein Indianerstamm fällt in New York ein. Blutige Kämpfe. Die weißen Ureinwohner New Yorks werden geschlagen. Viele flüchten nach Long Island. Dort sitzen sie in der Falle, und die Indianer kommen, um sie zu töten. Auf Long Island angekommen, überlegen es sich die Indianer anders und errichten ein Bleichgesicht-Reservat, wo die Weißen von nun an leben dürfen.
Meine Wut auf die westliche Welt. Mein Verlust von Zahn Zweisieben. Man kann an Ostern vieles machen. Man kann auch traurig darüber sein, Zahn Zweisieben verloren zu haben.
Der Kot ist ein Segen, sagte einer der Käfer, und dann fraßen sie weiter an ihren Pillen. Wie kam es dazu?
Es war so, sagt Vorderbrandner: Ich ging durch die Stadt, im milden Dämmerlicht, an einem klaren Abend im frühen Frühling. Ich sah durch die erleuchteten Fenster in die Restaurants hinein. Ich sah Menschen um Tische sitzen, sah sie abwechselnd ihre Münder öffnen, um Ess- und Trinkbares in sich hineinzuwerfen. Bei diesem Anblick dachte ich unvermittelt ans Scheißen, denn Scheißen ist ja sozusagen das Gegenteil von dem was ich sah: Das Auswerfen von für den Körper nicht mehr Verwertbarem. Und bei dem, was da alles hinter den Scheiben gegessen wurde, brauchte es keine große Phantasie, um sich vorzustellen, was da alles geschissen werden wird. Essen und Scheißen sind zwei komplementäre Vorgänge, aufs Nächste miteinander verwandt. Ohne Essen kein Scheißen und ohne Scheißen kein Essen. In der menschlichen Kommunikation gibt es zwischen diesen beiden Dingen allerdings ein großes Mißverhältnis: Man redet viel übers Essen, aber wenig übers Scheißen. Lass uns was essen gehen, lautet eine beliebte Ansage. Lass uns was scheißen gehen führt zu Irritation und Abscheu.
Ich ging weiter durch die Stadt, sagt Vorderbrandner, und sah die essenden Menschen hinter den erleuchteten Fenstern. Meine Gedanken waren gefangen zwischen Essen und Scheißen. Ich hatte gerade gegessen, ja, ich hatte keinen Hunger, und ich glaube, Hunger spielte auch bei den Menschen auf der anderen Seite der Fenster nur eine untergeordnete Rolle. Nein, sie aßen gegen die innere Leere und glaubten, sie mit Essen auffüllen zu können. Muss der Mensch wirklich so viel essen, oder isst er bloß so viel, weil er es sich angewöhnt hat? Essen als Droge gegen innere Leere? Ich bekam nun doch Hunger, obwohl ich gerade etwas gegessen hatte. Ich beneide das Meerschweinchen, dass sein Essen immer in sich trägt. Es scheißt dazu das Gegessene und frisst es nochmal, um es in einem zweiten Verdauungsdurchgang besser zu verwerten. Der Mensch verwertet zu gut, sonst könnte er wie das Meerschweinchen das Essen immer in sich tragen.
Es war einst ein König, der so unglücklich über das Scheißen war, dass er Goldklumpen aß, um Gold zu scheißen. Sein Körper konnte die Goldklumpen aber nicht verwerten, sie verletzten seinen Darm tödlich und er starb daran. Er ist rektal verreckt. Der Mensch hat das Scheißen aus seiner Kultur verdrängt. Kommt vom Klo und tut als wäre nichts gewesen. Das war nicht immer so. Bei Rabelais, neben Cervantes der Mitbegründer der europäischen Hochkultur des Romans, wird gefressen und geschmaust was das Zeug hält, um danach zu scheißen und zu furzen was das Zeug hält. Und auch Till Eulenspiegel macht bei jeder Gelegenheit einen Haufen. Ist das Essen ein Fest, ist das Scheißen ein mindestens genauso großes.
Die Dämmerung wich fast schon der Dunkelheit. Ich ging aus der Stadt in den Stadtwald. Unter den Bäumen bekam ich große Lust zu scheißen. Ja, es kann sehr lustvoll sein, nicht nur etwas aufzunehmen wie beim Essen, sondern auch etwas abzugeben wie beim Scheißen, sagt Vorderbrandner. Ich schiss einen beherzten Haufen auf den Boden, und sein Aroma stieg wie ein Wohlgeruch in die Nasen der nahe lagernden Käfer und lockte sie an. Sie flogen heran und freuten sich. Sie nahmen vom Haufen und rollten den Kot zu kleinen Pillen. Deshalb nennt man sie Pillendreher. Als jeder sich eine Pille gedreht hatte, setzten sie sich zu einer Runde zusammen und labten sich daran. Der Kot ist ein Segen, sagte einer der Käfer: Mir ist unbegreiflich, wie man ihn verschmähen kann. Dann fraßen sie weiter unter dem Mond dieser klaren Frühlingsnacht.
Marion fand es nett bei Bernadette und Henriette und blieb über Nacht bei ihnen im Bett. Papa war zuhaus in seinem Bett, und starrte am Morgen auf den Plafond. Neben ihm schlief noch Maman.
Papa überlegte sich folgendes Morgenprogramm: Wecken und necken und lecken, dann recken und strecken und stecken. Da erwachte Maman und fragte: Wo ist Marion? Die ist bei Bernadette und Henriette. Marion dachte im selben Instant: Es wäre doch nett, ich hieße Marionette, dann passte ich besser zu Bernadette und Henriette.
Papa und Maman starteten ihr Morgenprogramm, und weckten und neckten und leckten, und reckten und streckten und steckten. Marion kam nachhaus und rief aufgeregt: Es war so nett bei Bernadette und Henriette, und ich heiß jetzt übrigens Marionette. Hast du denn Hunger? fragte Maman. Nein, sagte Marion: Zu essen gab’s Ecke, zum Haupttisch Schnecke, zum Nachtisch Nussecke.
Sie stritten heftig
an diesem Abend
Es war nicht schön anzuschauen
Es war sozusagen
das Abendgrauen
Der Himmel so schwarz
Die Wolken die grauen
Sie stritten die Nacht
Sie wollten sich hauen
Mir graute davor
den Morgen zu schauen
Das nennt man wohl
Das Morgengrauen
Vorderbrandner wird Vater, und das, sagt er, überwältigt ihn dermaßen, dass er nichts darüber schreiben kann. Deshalb, sagt er, sei er froh, dass er heute, am 21. Februar, etwas über François Truffaut schreiben kann. François Truffaut ist an einem 6. Februar geboren und an einem 21. Oktober gestorben. Der 21. Februar eignet sich also hervorragend, um über ihn zu schreiben. Der 6. Oktober genauso, sagt Vorderbrandner, und vielleicht werde er auch am 6. Oktober etwas über François Truffaut schreiben, aber das werde er erst entscheiden, nachdem er am 21. Februar etwas über François Truffaut geschrieben hat.
Nun könnte man schreiben, sagt Vorderbrandner, dass François Truffaut an diesem Donnerstag, dem 21. Februar 2019, 87 Jahre, zwei Wochen und einen Tag alt geworden wäre. Das könnte man. Als François Truffaut starb, sagt Vorderbrandner, war er sieben Jahre alt, also ich, sagt Vorderbrandner, nicht François Truffaut. Am 21. Oktober 1984, einem Sonntag, sagt Vorderbrandner, kletterte ich auf einen Apfelbaum im Chiemgau. Als ich ziemlich weit oben war, schaute ich nach unten und bekam Angst. Ich klammerte mich fest an den Stamm. Ich war wie erstarrt, aus Angst, hinunterzufallen. Sein Vater, sagt Vorderbrandner, sah ihn, seinen Sohn, auf dem Apfelbaum, und kam langsam und zögernd näher. Er stand unten am Stamm, und die Blicke von Sohn und Vater trafen sich, der ängstliche Blick des Sohns nach unten und der ängstliche Blick des Vaters nach oben. Dann kletterte sein Vater nach oben zu ihm, und als er ihn erreicht hatte, kletterten sie gemeinsam, mit langsamen und vorsichtigen Bewegungen wieder nach unten. Ich atmete erleichtert auf, als meine Füße den Erdboden berührten, sagt Vorderbrandner, und es interessierte mich einen Scheißdreck, dass an diesem Tag François Truffaut in Neuilly-sur-Seine starb, genauso wenig wie es mich heute interessiert, Filme von François Truffaut zu analysieren, ich will sie einfach nur sehen, und manchmal will ich nicht einmal das, manchmal ist es mir sogar schon passiert, dass ich wütend auf die Fernbedienung gedrückt habe, um das Sehen eines Truffaut-Films abrupt abzubrechen, weil mich dieses Sehen so wütend gemacht hat, dass ich diese Wut nicht mehr ertragen wollte. Warum er so wütend geworden sei, beim Sehen eines Truffaut-Films? frage ich Vorderbrandner. Das wisse er nicht, sagt er, genauso wenig wie er wisse, warum ihn seine Gefühle so dermaßen überwältigen, jetzt, wo er wisse, dass er Vater wird. Vielleicht wäre das das Thema dieses Aufsatzes: Meine Wut auf François Truffaut. Es sei aber nicht nur Wut, sagt Vorderbrandner, die ihn überkomme, wenn er an François Truffaut denkt, es sei auch Trauer, eine intensive Wut und Trauer, die zeigten, wie sehr ihn die Filme von François Truffaut berührten.
Ich weiß nichts von François Truffaut, sagt Vorderbrandner, ich weiß nur, dass ich mich ängstlich an den Stamm des Apfelbaums krallte, als er starb. Ich fühlte mich oft allein als Kind, ich fühlte mich verloren, und das, obwohl ich eine liebevolle Mutter, einen liebenswürdigen Vater und sorgende Großeltern hatte, und eine ältere Schwester, die ihren kleinen Bruder liebte. Aber auch sie waren so verloren, so allein. Jeder war für sich allein. Da konnte keiner eine Verbindung zum anderen herstellen, nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte. Vielleicht habe ich deswegen später die Filme von François Truffaut entdeckt, weil in ihnen die Protagonisten oft so allein, so verloren sind. Weil sie nicht geliebt werden. Ja, jetzt fällt es mir ein, weil sie nicht geliebt werden, das ist es, oder, um noch grausamer zu sein oder einfach nur, um zum Kern der Sache vorzudringen: weil sie nicht geliebt werden wollen. Weil sie vor der Liebe davonlaufen. Das macht mich so wütend und so traurig beim Sehen eines Truffaut-Films: das Davonlaufen vor der Liebe. Weil ich es selbst so gut kenne. Und jetzt weiß ich, was mich dermaßen überwältigt an der Tatsache, dass ich Vater werde: Ich habe Angst, dass es bei meinem eigenen Kind weitergeht, dieses Davonlaufen vor der Liebe, dass ich mein Kind nicht lieben kann, wie es verdient, geliebt zu werden.