Archiv der Kategorie: Wisuelles

Wo alle Worte zuwenig wären, da hilft vielleicht Wisuelles.

Perspektivenwechsel

Ich betrat das Büro und fand Vorderbrandner im Handstand auf dem Schreibtisch stehend vor, sein Gesicht dem Bildschirm zugewandt.

„Was machst du?“ fragte ich erstaunt.

„Agathe hat mir einen Text geschickt, aber ihn leider verkehrt herum eingescannt. Deshalb muss ich ihn verkehrt herum lesen.“

„Du hättest doch den Text um 180 Grad drehen können, anstatt dich selbst zu drehen und in den Handstand zu gehen.“

„Daran habe ich auch gedacht, aber ich war zu faul dazu.“

Etwas verwundert setzte ich mich an meinen Schreibtisch und sah Vorderbrandner dabei zu, wie er kopfüber im Handstand auf dem Schreibtisch stehend den Text las, den Agathe verkehrt herum eingescannt hatte.

„Um was geht es in diesem Text?“ fragte ich.

„Es geht darum, dass das Gehirn eine Gewohnheitsmaschine ist. So steht hier unter anderem, dass es mit ein bißchen Training ohne Probleme möglich wäre, einen Text verkehrt herum zu lesen, also ein Blatt um 180 Grad zu drehen und von rechts unten nach links oben zu lesen, wir aber aus Gewohnheit das Blatt nicht drehen und von links oben nach rechts unten lesen.“

„Dann hat Agathe dir den Text also absichtlich verkehrt herum geschickt: Du solltest den Text normal sitzend von rechts unten nach links oben lesen!“

„Glaubst du?“ fragte Vorderbrandner, während er seine Füße per Überschlag auf den Boden katapultierte. „Agathe meinte jedenfalls, unsere Beziehung brauche einen Perspektivenwechsel, sie bewege sich zu sehr in eingefahrenen Bahnen.“

„Siehst du! Da ist es doch ein guter Start, Texte verkehrt herum zu lesen, um eine neue Perspektive zu bekommen.“

„Finde ich nicht. Wozu soll ich mein Gehirn strapazieren, wenn ich einen Körper habe, den ich bewegen kann!“ sagte Vorderbrandner und katapultierte sich wieder in den Handstand, um weiterzulesen.

Kniefall

Es ist ein Herumgepoltere und Geschreie, dass ich mir am liebsten die Ohren zuhalte. Jeder will Recht haben, und hat damit Recht: Denn es stimmt – jeder hat Recht, solange er in seinem Rechthaben das Recht des anderen achtet. Doch überall reklamieren die Despoten das Recht für sich alleine und ernten begeisterten Beifall. Immer mehr rücksichtslose Rechthaber scheinen die Spitzenämter der Politik zu besetzen.

Aus Angst entlarvt zu werden und um von sich abzulenken, wird als letztes Mittel die Nazikeule gegen Deutschland geschwungen. Doch die Geschichte teilt nicht in Gut und Böse, in Opfer und Täter. Waren die Menschen, die aus Ostpreußen vertrieben wurden, lauter schlechte Menschen, nur weil sie Deutsche waren? Wer hat hier Recht? Die Sowjets, die danach kamen? Oder die Polen, die vor lauter Angst nicht mehr wussten, ob sie nach links oder rechts schauen sollen?

Wo bleibt die Demut in diesem Geschreie? Die Geste der Demut ist eine große Geste. Viele sagen, Willy Brandt war damals lediglich ein großer Schauspieler, werfen ihm kalkuliertes Theater der Weltgeschichte vor, das er aufführte bei seinem Kniefall am Warschauer Ghetto-Ehrenmal am 7. Dezember 1970. Aber ich glaube an die Wahrhaftigkeit dieser Geste.

Ich wünsche mir, dass die Despoten, die in mir Angst und Schrecken auslösen, sich hinknien in Demut vor dem Leben, auch wenn diese Geste vielleicht viel größer ist, als sie verkraften können.

Vereinsgründung mit Hindernissen

Es war mir wieder einmal völlig unklar, wer ich bin, als ich an diesem Morgen erwachte. Die Augen schon geöffnet, aber den Körper noch nicht aufgerichtet, lag ich im Bett.

Zu sein, wer ich bin, ist eine Aufgabe, die mir das Leben täglich stellt, sagte eine Stimme am anderen Ende des Raumes zu mir. Ich richtete mich auf, rieb mir die Augen und sah, dass mein Spiegelbild zu mir gesprochen hatte. Ich gab ihm recht. Um mich der Aufgabe des Lebens zu stellen, nämlich zu sein wer ich bin, stand ich auf und machte mich bereit für den Tag.

Ich beschloss, ein paar Schritte zu gehen, denn Bewegung tut immer gut, und ging nach draußen. Auf der Straße sah ich an einem Haus folgendes Schild:

Abschaffungsverein

Bringt mich dieser Verein weiter bei meinem Anliegen, zu sein, wer ich bin? Um es herauszufinden, wollte ich klingeln, tat es aber nicht, sondern ging weiter. Drei Wörter kreisten nun in meinem Kopf: Sex, Missbrauch und Gewalt. Da ich überzeugt bin, dass Sex ein Mittel ist, um herauszufinden, wer ich bin, ich dieses Mittel jedoch nicht mit Missbrauch und Gewalt in Verbindung bringen will, war ich froh, nicht geklingelt zu haben. Ich setzte mich auf eine Bank und überlegte, was ich tun könnte. Mein Spiegelbild hat mir schließlich eine Aufgabe gestellt, die ich nicht unerledigt lassen wollte. Ich beschloss daher, den Verein zur Förderung von sexueller Liebe und sexueller Befreiung zu gründen.

Ich stand auf, und drei Wörter kreisten in meinem Kopf: Sex, Liebe und Befreiung. Ich rannte in die naheliegende Kirche, die für ihre gute Akustik gerühmt wird, stellte mich in den Mittelgang und rief laut:

„SEX, LIEBE, BEFREIUNG!“

Dies sollte eine Art Gründungsakt des Vereins zur Förderung von sexueller Liebe und sexueller Befreiung sein. Einige Leute saßen oder knieten in den Bänken der Kirche und blickten mich böse an. Einer stand auf, ging auf mich zu und sagte:
„Sind Sie verrückt? Hören Sie sofort mit Ihrem Geschrei auf, oder ich hole die Polizei!“
„Nein, bitte nicht! Die Gründung des Vereins zur Förderung von sexueller Liebe und sexueller Befreiung soll von keinem Gewaltakt überschattet werden. Ich entschuldige mich, wenn ich diese Kirche soeben missbraucht haben sollte!“
Unter bösen Blicken verließ ich die Kirche.

Welche Wörter hatte ich soeben gebraucht: Gewaltakt und Missbrauch? Sind diese Wörter also fest in meinem Kopf eingebrannt? Ja, wer bin ich denn? Ein gewalttätiges Monster, das das Leben missbraucht? Ich stellte fest, dass für die Etablierung des Vereins zur Förderung von sexueller Liebe und sexueller Befreiung noch einiges an Beharrlichkeit und Überzeugungsarbeit nötig sein wird.

Sonniger Septembertag

Ich sehe Bilder, auf dem Bildschirm. Ich sehe sie jetzt, fünfzehn Jahre später. Sie faszinieren noch immer. Was ist jetzt anders an diesen Bildern als vor fünfzehn Jahren? Glaube ich, jetzt etwas zu wissen über diese Bilder, obwohl ich gar nichts über sie weiß? Ist die Geschichte dieser Bilder jetzt erzählt? Kann man die Bilder jetzt deuten und bewerten? Es sind Bilder, Bilder, Bilder, aufgenommen von Kameras, die mehr oder weniger nahe am Ort des Geschehens waren, vor fünfzehn Jahren.

Ich versuche mir vorzustellen: Die Bilder im Kopf der Menschen im brennenden Gebäude. Die Visionen der hilflosen Menschen in den Stockwerken über den Einschlägen der Flugzeuge. Die Geschichten dieser Menschen, die sie uns nie erzählen werden, weil sie alle gestorben sind. Die Bilder im Kopf der Selbstmordattentäter, als sie mit einer Entschlossenheit in die Zerstörung rasen, mit riesigen Flugzeugen, nicht nur den Tod anderer, sondern ihren eigenen auf schrecklich plakative Weise willentlich in Kauf nehmend.

Ich sehe die ersten Fernsehbilder, nicht die späteren, die sich an Interpretationen und Deutungen versuchen. Ich sehe die ersten live gesendeten Fernsehbilder dieses sonnigen Morgens in New York am 11. September 2001, diese jungfräulichen, unschuldigen, nichtsahnenden Bilder, in deren Verlauf sich die beiden riesigen Zwillingstürme in Schutt und Asche auflösen. Ich höre das Ringen der Kommentatoren um Auflösung der Bilder, die nicht gelingt, weil ein Bild, sobald es gedanklich bearbeitet wird, vom nächsten abgelöst wird. War es ein Flugzeug-Unfall? Mitten in diese Überlegungen kracht das zweite Objekt in den anderen Turm. War es wieder ein Flugzeug? Wenn ja, was für ein Flugzeug? Das kann kein Unfall sein! wird nach dem zweiten Einschlag klar. Wer macht so etwas? Wie geht es den Menschen in den brennenden Türmen? Da stürzt einer der Türme inmitten einer riesigen Aschewolke in sich zusammen. Suche nach Augenzeugen im Chaos. Wer hat die Wahrheit im Blick? Gibt es denn Wahrheit, wenn jeder sie anders erlebt? Was ist die Wahrheit des Mohammed Atta, des ersten Todespiloten, an die er bis zur letzten Konsequenz geglaubt hat, mit der er den Tod über das Leben gestellt hat. Der Tod in Lower Manhattan, herbeigeführt mit menschlicher Energie, die fassungslos macht. Das Leben am Abgrund der Menschheit, die sich selbst vernichtet. Die Sonne scheint noch immer über New York an diesem Septembermorgen, aber nicht für die, die sich im Qualm und Staub von Lower Manhattan befinden.

Kann irgendjemand die Geschichte von 9/11 erzählen? Oder sind es nur die Bilder, die bleiben? Kann die Menschheit das reflektieren und deuten, oder ist sie überfordert damit? Die Welt in Gut und Böse zu teilen war das erste Lösungsmittel, das schon wenige Stunden nach der Katastrophe griff. Ist das die einzige Möglichkeit, diese Bilder zu verarbeiten? Warum sehe ich mir die Bilder an, nach fünfzehn Jahren? Ist das ein Sehnen nach Miterleben mit denjenigen, die dabei waren? Geräusche und Gerüche zu erfühlen und nicht nur Bilder zu sehen, die auf fatale Weise hängenbleiben – sondern Erleben, Durchleben?

Meine persönliche Geschichte ist die eines Liedes: Ich war noch niemals in New York. Mein Kopf ist voller Geschichten, die miteinander konkurrieren. Manchmal glaube ich, mein Kopf ist die ganze Welt. Doch das überfordert meinen Kopf. Ich will meine Gedanken verkleinern und nicht die ganze Welt einbeziehen. Ich will auch nicht die Geschehnisse in Lower Manhattan am 11. September 2001 in meinen Kopf einbeziehen, denn was gibt es an den Bildern zu deuten? In Wahrheit ist es so: Mein Kopf ist bereits überfordert, wenn er sich eine Geschichte ausdenkt und mein Bauch sie nicht gut findet. Mein Bauch bekommt heftige Übelkeit, wenn er eine Geschichte nicht gut findet, die mein Kopf erfunden hat, woraufhin mein Kopf sich dann gerne zurückzieht in sein gekränktes Gehirnstübchen. Ich habe mir also angewöhnt, Geschichten aus dem Bauch zu erzählen, was meinen Kopf dann neugierig macht und ihn aus seinem gekränkten Gehirnstübchen hervorlockt. Mein Kopf sagt: 9/11 – ich will das nicht sehen, ich will das nicht denken. Mein Bauch sagt: 9/11 – ich fühle es irgendwie, die Energie dieses Tages; ich will es erleben, ich will es durchleben. Ist mein Bauch also die ganze Welt und nicht mein Kopf?

Jedenfalls gebe ich dem Gefühl meines Bauches nach und erzähle etwas über 9/11: Es war der Beginn eines sonnigen Septembertages in Lower Manhattan… Ist dann so eine Geschichte entstanden, sind sie zufrieden, mein Bauch und mein Kopf. Aber kaum ist ein Tag vergangen, kommt mein Bauch wieder aus seiner stillen Zufriedenheit und stellt Fragen wie: Was ist das, die Welt? Was bedeutet das alles? Dann erzählt er wieder eine Geschichte, über die Welt und ihre Bedeutung. Denn wir wissen ja: Mein Bauch ist die ganze Welt.

Manchmal bin ich so mutig, die Geschichten, die mein Bauch gedichtet und mein Kopf genehmigt hat, jemandem anderen als mir zu erzählen. Je nachdem, wie sie dann drauf sind, mein Bauch und mein Kopf, während ich die Geschichte erzähle, entsteht jedesmal eine neue Geschichte, denn eine Geschichte von gestern ist heute schon eine andere Geschichte. Was mir beweist, dass nicht die Welt voller Geschichten ist, sondern mein Kopf ihr immer neue andichtet, weil er scheinbar davon besessen ist, dem Leben Bedeutung zu geben. Dabei braucht er doch nur auf den Bauch zu hören, der sagt: Bedeutend ist, was du bedeutend nennst. Oder ist das wieder nur eine Geschichte, die schon morgen ohne Bedeutung ist?

Es war der Beginn eines sonnigen Septembertages in Lower Manhattan…

9/11 CNN Unedited Live Coverage

Entwurf von Regeln für das Durchschreiten von Parkanlagen

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, ist von der tiefen Überzeugung durchdrungen, dass Regeln dazu da sind, eingehalten zu werden. Die Welt ist ein wohlgeordnetes Universum, das mathematischen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Wenn diese noch nicht ausreichend erforscht und durchdrungen sind, gilt es, sich mit Verhaltensregeln zu behelfen, um der wohlgeordneten Ordnung der Welt nicht im Wege zu stehen. Dies ist, grob umrissen, Oskars Postulat für eine wohlgeordnete Welt.

Um seinem Kopf ein wenig Erholung von seiner Studierstube zu geben, war Oskar in den Park gegangen. Dort fand er, am Beginn eines neu angelegten Weges, folgendes Schild vor:

Schrittgeschwindigkeit

Zweifellos handelt es sich hier um eine Verhaltensanweisung, die Oskar nun, gemäß seines Postulats einer wohlgeordneten Welt, gewillt war zu befolgen. Doch er sah sich mit einer großen Schwierigkeit konfrontiert, was die Befolgung der Verhaltensanweisung betrifft: Was ist Schrittgeschwindigkeit, wie definiert sie sich? Die Menschen gehen unterschiedlichen Schrittes: schleichenden Schrittes, laufenden Schrittes, zum Beispiel. Überhaupt bietet Sprache hier keinen Anhaltspunkt. Denn würde auf dem Schild spezifiziert stehen Schleichende Schrittgeschwindigkeit, so böte das wieder unendliche Interpretationsmöglichkeiten. Was für den einen ein Schleichen ist, ist für den anderen bereits rasende Geschwindigkeit. Es würde einzig und allein eine präzise mathematische Angabe helfen, mit welcher Geschwindigkeit man den Weg zu durchschreiten habe, wobei man hier wieder einen präzisen Geschwindigkeitsmesser bei sich haben müsste, um sicher zu gehen, den Weg nicht mit zu niedriger oder zu hoher Geschwindigkeit zu durchschreiten. Kann man der Bevölkerung zumuten, sich für ihre Parkspaziergänge einen Geschwindigkeitsmesser zu besorgen, um die Wege mit der vorgegebenen Schrittgeschwindigkeit zu durchschreiten?

Oskar fühlte sich im Stich gelassen. Was soll diese unpräzise Verhaltensanweisung auf dem Schild vor ihm, die er sich unfähig fühlte zu befolgen! Kurz überlegte er, ob er den Weg laufenden Schritts durchschreiten sollte, um so die Zeit zu vermindern, in der er einer externen Beobachtung einer eventuellen Regelwidrigkeit ausgesetzt war. Er streckte seinen Hals und schaute kurz den Weg entlang, für den die unpräzise Verhaltensanweisung galt. Er konnte kein Ende der Verhaltensanweisung erspähen. Also unterließ er es, den Weg laufenden Schrittes zu durchschreiten, da ihn die Vorstellung zu sehr beunruhigte, eine langandauernde eventuelle Regelwidrigkeit zu begehen. Es bestünde dann ein erhöhtes Risiko, dass ihn ein externes Regelorgan wie etwa ein Polizist dabei ertappte. Es würde schwierig sein, diesem sein Verhalten zu erklären, da er ja nicht einmal für sich hinreichend würde falsifizieren können, keine Regelwidrigkeit begangen zu haben.

Oskar machte kehrt und ging nachhause. Zuhause setzte er sich sogleich an seinen Schreibtisch und begann einen Aufsatz zu schreiben mit dem Titel: Entwurf von Regeln für das Durchschreiten von Parkanlagen.

Walentin Worderbrandner

Ich kam zur Tür herein und Vorderbrandner schaute mich missmutig an. Er sagte: „Ich zweifle an der Sprache – an ihrer Fähigkeit, irgendetwas zu sagen.“

„Ich weiß.“

„Was? Du weißt?“

„Heute ist Donnerstag, Redaktionstag, da zweifelst du regelmäßig an der Sprache, weil du etwas Geschriebenes liefern sollst.“

„Das meine ich nicht. Ich meine es wirklich ernst diesmal mit dem Zweifel. Gut dass du Geschriebenes erwähnst: Ich meine nämlich vor allem die geschriebene Sprache, an der ich zweifle. Wie kann etwas Geschriebenes etwas aussagen, wenn es sich durch nichts ausdrücken kann als durch Schrift, durch etwas Totes wie Schrift?“

„Weil du mit deinen Gedanken und deinen Gefühlen hinter dieser Schrift stehst und ihr etwas Lebendiges dadurch gibst.“

„Danke für die Belehrung, Herr Oberlehrer!“

„Du hast Recht. Ich wollte gerade etwas Weises sagen. Meist kommt Wirres dabei heraus. Aber es ist egal. Wichtig ist doch nur, welches Bild in meinem Kopf ist, das ich transportieren will. Ob das Bild, das ich im Kopf habe, beim Leser ankommt, ist eine andere Frage. Es ist als Schreibender bereits ein Riesenerfolg, wenn mein Bild überhaupt gelesen wird und irgendein Bild im Leserkopf kreiert wird.“

„Vielen Dank für das Kurzreferat! Ich betitle es mit: Das Wisuelle.“

„Das gefällt mir, Vorderbrandner: Das Wisuelle. Das ist ein noch viel passender Begriff als Das Bild. Es ist das Ganze: die Gedanken, die Gefühle – ist mir warm, ist mir kalt, bin ich verliebt, bin ich verlassen worden.“

„Das W machts eben – mit V wär es wieder nur ein Bild, das Visuelle.“

„Schön dass dir das W gefällt.“

„Gefallen? Ich arrangiere mich mit deinem W-Tick.“

„Mag sein, dass ich einen W-Tick habe. Aber die Welt hat einen noch viel größeren Tick: einen WWW-Tick. Alles hängt nur noch am Netz. Aber ich muss in der Tat aufpassen mit meinem W-Tick: Erinnerst du dich an Valentina, die mal zu uns stoßen wollte? Die hat es sich dann anders überlegt, als ich ihr mein WWW-Konzept (Weises, Wirres, Wisuelles) erläutert habe, weil sie plötzlich dachte, sie müsste sich fortan Walentina nennen, um mit mir zu arbeiten.“

Weises wirres wisuelles

„Nur deswegen ist sie nicht geblieben?“

„Ich glaube schon. Vielleicht ist es besser. Könnte sein, dass ich wohl nur scharf war auf Walentinas Wagina – oder Valentinas Vagina, das ist mir jetzt einerlei – und nicht auf ihre Schreibkünste.“

„Und sie auf Peters Penis und nicht auf deinen.“

„Vorderbrander, du machst dich! Haben wir deine Zweifel an der Sprache nun ausgeräumt?“

„Ich zweifle, dass ich nicht zweifle.“

„Solange du mir nicht sagst: ‚Ich lebe, dass ich nicht lebe‘, ist alles halb so schlimm. Ich werde dir deine Zweiflereien schon austreiben! An die Arbeit! Und verzeih mir, wenn ich dich ab jetzt manchmal Walentin Worderbrandner nenne!“

München, Balanstraße

Im Stadtteil Haidhausen zweigt die Balanstraße unauffällig und klein von der Rosenheimer Straße ab, wie eine launische Diva, die sich weigert, eine vernünftige Richtung einzuschlagen.

Beginn Balanstraße an der Rosenheimer Straße

Beginn Balanstraße an der Rosenheimer Straße

Sie führt nicht nach Rosenheim, schon gar nicht nach Salzburg. Doch wo führt sie hin? Will sie mich auf geheimnisvolle Art verführen? Zunächst lässt sie Ramersdorf links liegen, Giesing rechts. Zwischendurch wird sie sehr breit, weist mehrere Fahrspuren pro Fahrtrichtung auf und ist umringt von großen Gebäuden.

An der Ecke Orleansstraße Richtung Süden

An der Ecke Orleansstraße Richtung Süden

Nach ihrem schmalspurigen Beginn gibt sie mir das Gefühl, etwas Bedeutsamem, Großem auf der Spur zu sein, was meine Neugierde weckt. Weiter draußen aus der Stadt, Ramersdorf und Giesing hat sie hinter sich gelassen, leisten zwei Autobahnen ihr Begleitschutz, eine östlich, eine westlich von ihr gelegen. Beide Autobahnen nehmen ebenfalls Kurs Richtung Süden, wie die Balan. Wird sie sich beeindrucken lassen von diesen mächtigen Gefährten, oder unbeeindruckt ihren Kurs Richtung Süden halten? Sie schmiegt sich näher an die Autobahn 8 links von ihr, so als wüsste sie, dass diese als die Hauptstrecke deklariert ist und die rechts gelegene Autobahn 995 nur als Zubringer. Doch die Balanstraße belässt es bei dieser zarten Annäherung, ohne sich je zu binden. Unbeeindruckt führt sie mich weiter nach Süden.

Trotzig überquert sie in ihrem Verlauf alle Straßen, die sie queren: Orleansstraße, St-Martin-Straße, Claudius-Keller-Straße, Chiemgaustraße, Ständlerstraße. Die Orleansstraße und die Claudius-Keller-Straße sind ob dieser Trotzigkeit so beleidigt, dass sie in ihrem weiteren Verlauf ihre Namen ändern zu Welfen- und Werinherstraße, als Zeichen der Verachtung dieses trotzigen Querulanten. Auch Eisenbahntrassen und der Justizvollzugsanstalt Stadelheim, immerhin einer der größten in ganz Deutschland, trotzt die Balanstraße mit geradliniger Eleganz Richtung Süden.

Weit im Süden, wo sie die Fasangartenstraße überquert, scheint sie jedoch nachdenklich zu werden und ihr eigenes Ende zu ahnen. Sie wird schmal, ein kleines Sträßlein, so wie an ihrem Anfang in Haidhausen. Kleine Häuser lässt sie links und rechts liegen, doch nicht mehr mit trotziger Eleganz, eher mit devoter Bescheidenheit.

Ein kleines Haus am Ende der Balanstraße

Ein kleines Haus am Ende der Balanstraße

Plötzlich endet sie und gibt den Blick frei auf eine weite grüne Wiese, Kapellenfeld genannt. Es geht nicht weiter. Es gibt nur den Blick über das Feld Richtung Süden.

Das Ende der Balanstraße

Das Ende der Balanstraße

Süden, das scheint das einzige zu sein, was die Balanstraße in ihrem ganzen Verlauf im Kopf hat, wie ein Versprechen leitet sie einen in diese Himmelsrichtung, und jetzt, am Kapellenfeld, bleibt nur die Sehnsucht danach.

Nach dem Kapellenfeld ist Unterhaching, nach Unterhaching vereinigen sich die beiden Autobahnen 8 und 995 beim Kreuz München-Süd. Die Balanstraße hat weise entschieden, am Kapellenfeld zu enden. Weshalb Unterhaching mühsam durchqueren, vielleicht unter Kompromissen diese geradlinige und konsequent südwärtsgewandte Richtung aufgeben, um dann von zwei Autobahnen verschluckt zu werden? Dann lieber hier enden, am Kapellenfeld, in stiller Erhabenheit, und mit dem weiten Blick Richtung Süden für das, was da noch kommen mag.

Balanstraße