Schafft die Noten ab!

Ich hatte gerade eine erfolgreiche Session im Studio hinter mir. Ein neues Stück nahm Formen an. Ich ging pfeifend die Straße entlang, um meine Tochter vom Hort abzuholen, als ich folgende Schlagzeile im Zeitungskasten sah: SCHAFFT DIE NOTEN AB!

Ich war empört! Welcher Musikbanause kann so etwas fordern! Sicher, Musik geht auch ohne Noten, aber Noten gehören zur europäischen Musikkultur. Welch ein Verlust, wenn Bach, Mozart oder Beethoven keine Noten aufgeschrieben hätten!

Ich hatte mich noch nicht beruhigt, als mir meine Tochter im Hort tränenüberströmt entgegenlief. Sie fiel mir in die Arme und schluchzte: „Papa, ich habe in der Klassenarbeit nur eine Drei geschrieben. Und sogar Maria, die sonst immer schlechter ist als ich, hat eine Zwei bekommen.“

Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht oder allen Eltern, aber wenn ich etwas nicht ertrage, ist es, meine Tochter weinen zu sehen, obwohl das mittlerweile schon acht Jahre lang mehr oder weniger oft passiert. Ich kann mich daran nicht gewöhnen. Ich war also mindestens so empört über diese Drei wie meine Tochter traurig darüber, und dachte mir: Dieser Druck ist nicht gesund für die Kinder. Schafft die Noten ab!

Mit schlechter Laune machten wir uns auf den Heimweg, der uns wieder am Zeitungskasten vorbeiführte. Ich wollte nicht mehr hinschauen, tat es aber dann doch und las: SCHAFFT DIE NOTEN AB!

Gottseidank habe ich hingeschaut! Verwundert über meine Verbohrtheit, die man auch Blödheit nennen könnte, kaufte ich mir eine Zeitung. Ich las über die Forderung der Abschaffung von Schulnoten. Kein Mensch redet von Musiknoten. Ich trällerte fröhlich die Melodie meines neuen Stückes und sagte frohgemut zu meiner Tochter: „Mach dir keinen Kopf über deine Drei! Die Schulnoten werden bald abgeschafft.“