Immerwährende Geschichte

Da ist eine immerwährende Geschichte, sage ich, und frage mich im selben Moment, wo sie eigentlich ist, die immerwährende Geschichte. Auf meinen Lippen, mit denen ich sie spreche, oder in meinen Fingern, mit denen ich sie schreibe? Mich an meinen Traum erinnernd, komme ich zu der Vermutung, dass sie in meinen Fingern ist. Ich habe geträumt, eine Feder in der Hand zu halten. Ich griff mit der Feder tief in ein Fass voll mit schwarzer Tinte. Als ich die Tinte zu Papier bringen wollte, zerfloss sie, ehe ich etwas dagegen tun konnte, auf das ganze Papier. Ich nahm neues Papier, tauchte mit der Feder wieder in das Tintenfass, nicht mehr ganz so tief wie zuvor, und als ich die Tinte aufs Papier bringen wollte, um die immerwährende Geschichte aufzuschreiben, zerfloss sie wieder auf das ganze Papier, ehe ich etwas dagegen tun konnte. Ist also die immerwährende Geschichte mit schwarzer Tinte vollgesaugtes Papier? überlege ich jetzt, in wachem Zustand, in welchem ich wieder versuche, die immerwährende Geschichte aufzuschreiben. Ich habe keine Feder und keine Tinte bei mir, nur ein leeres, weißes Blatt Papier, das mich anschweigt. Dennoch habe ich den Eindruck, dass sich die immerwährende Geschichte in diesem weißen Blatt manifestiert, das mich anschweigt. Nicht überzeugt, die immerwährende Geschichte auf diesem weißen, leeren Blatt zu belassen, bekomme ich plötzlich große Lust zu laufen. Ich richte mich auf und fange zu laufen an, so schnell ich kann. Es fühlt sich wie ein Weglaufen an, das Laufen, was mir merkwürdig erscheint. Kann es so etwas geben wie zuviel Liebe, vor der man wegläuft? Während ich über diese Merkwürdigkeiten nachdenke, laufe ich weiter so schnell ich kann, bis ich oben auf dem Hügel angelangt bin. Jetzt hat das Weglaufen also ein Ende, denke ich, als ich oben auf dem Hügel stehe und die Sonne mich erreicht. Nicht nur die Sonne erreicht mich, nein, auch deine Stimme, was ich so nicht erwartet habe. Ich höre deine Stimme, als ich oben auf dem Hügel stehe und denke: So ein Unsinn – wie kann man vor zuviel Liebe davonlaufen wollen? Schnell will ich wieder zurücklaufen, dahin, wo die Liebe ist, als ich plötzlich und unvermutet den schwarzen Hund neben mir bemerke, der mich – ja, so empfinde ich es – mit liebevollen Augen ansieht. Oder erwidert er nur meinen Blick? Ich beschließe, nicht mehr zu laufen, sondern langsam und bedächtig zu gehen. Ich bemerke, wie ich mit jedem Schritt Grashalme unter mir niedertrete und vermute, dass es wohl Teil der immerwährenden Geschichte ist, dass Grashalme von Menschenfüßen niedergetreten werden. Durch mein langsames Gehen bemerke ich die Menschen, die mir begegnen und nehme mir fest vor, sie in die immerwährende Geschichte aufzunehmen. Plötzlich aber erfasst mich Sorge: Mir fällt nämlich ein, dass ich das Fenster offen gelassen habe, als ich die Wohnung laufend verlassen habe. Durch das offene Fenster wird die Katze in die Wohnung gesprungen sein, mit ihrer Tatze das Fass mit schwarzer Tinte umgestoßen haben, wodurch sich die Tinte mittlerweile in der ganzen Wohnung verteilt haben wird. Hektisch laufe ich nach Hause, der Hund folgt mir auf dem Fuß. Zuhause angekommen, lasse ich den Hund vor der Tür, weil ich Angst habe, ihn mit seinem schwarzen Fell in der schwarzen Tinte nicht mehr zu finden, die, so ist zu vermuten, in der Zwischenzeit die ganze Wohnung überflutet haben wird. Als ich die Wohnungstür vorsichtig öffne, stellt sich die Wohnung zu meiner Überraschung in keinem tintenüberfluteten, sondern sonnendurchfluteten Zustand dar. Auf dem Tisch das weiße Blatt Papier, wie ich es verlassen habe. Keine Katze, und vor allem: kein Tintenfass! – Nein, kein Tintenfass, das habe ich wohl nur geträumt. Ergriffen stehe ich im Zimmer und schaue durch das geöffnete Fenster nach draußen, als eine Amsel auf dessen Sims landet. Sie sieht mich kurz an und beginnt daraufhin zu singen. Ihr Gesang ergreift mich noch mehr als es die Situation ohnehin schon tut, sodass mir die Tränen kommen. Singen soll man sie also, die immerwährende Geschichte, denke ich unter Tränen, und während ich das denke, spannt die Amsel ihre Flügel und fliegt davon.

 

Dank an:

Paul, den schwarzen Hund (porträtiert von Sara Stankovic)

Belle and Sebastian, die mich mit ihrem Lied There is an everlasting song zu dieser Geschichte inspiriert haben