Der Raub der Sabinerinnen

Eine kleine Gasse zwischen zwei Häuschen: Dort war es, wo Sabine und ich uns innig küssten. Ich gehe gerne durch diese kleine Gasse, weil ich mich gerne an diesen innigen Kuss erinnere. Jedesmal, wenn ich durch die kleine Gasse gehe, fallen mir die tiefhängenden Regenrinnen an jedem der beiden Häuschen auf. In Erinnerung an den innigen Kuss mit Sabine nenne ich sie Sabinerinnen.

Heute ging ich wieder einmal durch die kleine Gasse, aber alles war anders als sonst. Die Sabinerinnen hingen nicht mehr an den Dächern der beiden Häuschen. Ich war wie vom Blitz getroffen. Es schoss mir sofort durch den Kopf: der Raub der Sabinerinnen! Was sonst! Was sollte ich anderes annehmen, als dass die Rinnen, die mich so zärtlich an den innigen Kuss mit Sabine erinnern, gewaltsam und unerlaubt entfernt worden waren. Kein Zweifel: Er war geschehen, der Raub der Sabinerinnen, den es nun aufzuklären galt! Ich klopfte an die Türen der beiden Häuschen, um die Aufklärung dieser Schandtat zu starten, aber niemand öffnete. Traurig stand ich in der kleinen Gasse zwischen den beiden Häuschen ohne Rinnen. Schließlich – was sollte ich anderes tun – ging ich weiter meines Weges.

Im Büro erzählte mir Vorderbrandner von der neuen Inszenierung der alten Sage vom Raub der Sabinerinnen im antiken Rom. „Mit den Geschwistern Regener als Sabinerinnen“, meinte er weiter: „Du weißt schon: Regina und Ramona Regener, die wir vor kurzem für unser Magazin interviewt haben!“
„Der Raub der Regenerinnen also!“ entfuhr es mir.
„Seit wann ergehst du dich in Wortspielen?“ entgegnete Vorderbrandner und schmunzelte.
Ich fand es gar nicht lustig: „Das wird mir alles unheimlich!“ rief ich, sprang von meinem Stuhl hoch und verließ das Büro wieder.

Während ich ziellos dahinging und darüber grübelte, wieso mich die beiden geraubten Regenrinnen, die ich Sabinerinnen nenne, so beschäftigen und ob es mir nicht möglich wäre, den innigen Kuss mit Sabine trotz der geraubten Rinnen in guter Erinnerung zu behalten, schweifte mein Blick durch ein geöffnetes Tor in einen Innenhof. Ich sah eine Frau, über zwei Regenrinnen gebeugt, die dort am Boden lagen. Sie hatte eine Bürste in der Hand und machte sich daran, die Rinnen zu reinigen. Mir blieb das Herz stehen. Waren das etwa die geraubten Rinnen? Vorsichtig näherte ich mich, mit pochendem Puls. Als ich nah genug war, erkannte ich sie eindeutig an ihrer Patina: Es waren die geraubten Sabinerinnen, an denen sich die Frau zu schaffen machte.

Ich ging aus meiner Deckung und stellte die Frau zur Rede: „Was machen Sie mit den beiden Regenrinnen?“
„Die lagen auf der Straße rum“, sagte sie, „in einer kleinen Gasse ganz in der Nähe. Da habe ich sie mitgenommen, weil ich sie gut gebrauchen kann für mein kleines Atelier hier im Hof.“
„Aber die sind geraubt!“ sagte ich, nicht wagend, die Frau direkt als Räuberin anzusprechen: „Die gehören zu den beiden Häuschen in der kleinen Gasse!“
„Wirklich? – Ja,… dann bringen wir sie besser wieder dorthin.“

Weil sie so schnell einlenkte, verzichtete ich auf weitere Anschuldigungen. Sie und ich nahmen je eine Rinne in die Hand und gingen zu den Häuschen in der kleinen Gasse, um sie zurückzubringen. Dort angekommen, klopften wir an die Türen. Jetzt war jemand zuhause. Wir sagten den Bewohnern, dass wir ihnen ihre Regenrinnen zurückbringen.
„Sehr nett“, sagten die Bewohner, „aber wir haben sie gestern erst abmontiert, weil wir heute neue montieren wollen. Die können sie gerne behalten!“

Konsterniert stand ich da und musste akzeptieren, dass die Sabinerinnen künftig nicht mehr die Dächer der kleinen Häuschen zieren und mich nicht mehr zart an den innigen Kuss mit Sabine erinnern werden. Ihr Raub entpuppt als eine schnöde Erneuerungsmaßnahme. So rasch ich diesen Fall aufklären konnte, so enttäuscht war ich nun von seinem Ausgang.

Die Frau und ich gingen mit den Sabinerinnen in den Händen wieder zurück zum Atelier im Innenhof. Als wir so dahingingen, jeder eine Rinne in der Hand, sagte ich zu ihr:
„Ich weiß wie Sie heißen.“
„Ja?“
„Sabine.“
„Stimmt! Aber woher wissen Sie das?“