Selbstentfremdung am Hachinger Bach

Durch Haching fließt ein Bach. Die Einheimischen nennen ihn liebevoll Hachinger Bachinger, mehr norddeutsche Zungen sprechen kurz und knapp vom Hach Bach. Ich saß am grünen Ufer des Hachinger Bachingers oberhalb von Haching und las Cesare Pavese, den ich zwecks besserem Fluss des Gesprochenen Cesare Pavesare nenne: Die Liebe ist eine Krise, die Abneigung hinterlässt, schreibt Pavesare. Ich ärgerte mich beim Lesen so über diesen Satz, dass ich das Buch aus meinen Händen in den Fluss des Wassers des Hachinger Bachs warf. Dann passierte etwas Seltsames: Mein Ich zweiteilte sich, was bedeutet, dass sich auch die Erzählperspektive zweiteilt:

Teil 1 (Ich A)
Ich sprang dem im Wasser treibenden Cesare Pavesare hinterher, weil ich spürte, dass hinter dem Ärger über sein Geschriebenes etwas sehr Wichtiges und Existenzielles liegt, das mich betrifft. Ich trieb im Wasser des Hachinger Bachs und merkte, dass es am wichtigsten ist, im Fluss des Wassers zu bleiben, mich von ihm treiben zu lassen, nicht schneller sein zu wollen als der Fluss und auch nicht zu versuchen, den Fluss zu stoppen. Nur so würde ich eine Chance haben, in diesem Fluss auf den treibenden Cesare Pavesare zu stoßen und das Wichtige und Existenzielle darin zu finden.

Bald wurde der Hachinger Bach zum Rinnsal, ohne dass ich den Pavesare fand. Im Münchner Stadtgebiet drohte der Fluss ganz zu versickern, als mich ein Kanal aufnahm, in dem ich durch dunkle Röhren und lange Betonwannen zur Isar gespült wurde. In der Isar hatte ich den Pavesare noch immer nicht gefunden, und dennoch hatte ich das Gefühl, dass er ständig bei mir ist. Das Treiben im Fluss machte Spaß. Ich freute mich auf die Donau und das Schwarze Meer.

Kurz vor der Mündung der Isar in die Donau wurde ich an eine Schotterbank geschwemmt. In diesem Moment des Innehaltens erinnerte ich mich an mein anderes Ich, das ich im Eifer des Gefechts am Hachinger Bachinger zurückgelassen hatte. Ich bekam wahnsinnige Sehnsucht nach diesem anderen Ich. Denn wir gehören doch zusammen. Mit dieser Sehnsucht setzte ich mich ans Ufer und sang einen Brief* an mein anderes Ich, bevor ich meine Reise fortsetzte.
Teil 2 (Ich B)
Ich sah den Pavesare im Wasser davontreiben und glaubte zunächst, mich von einer Last befreit zu haben. Plötzlich fühlte ich mich aber sehr einsam, als ich da am Ufer saß. Ich fühlte mich dieser Einsamkeit hilflos ausgeliefert. Ich schimpfte auf Pavesare, wie er mich so allein lassen konnte. Ich schimpfte auf ihn, weil ich das Gefühl hatte, dass er mir etwas weggenommen hat. Aber Pavesare war unbeeindruckt weitergetrieben im Fluss des Wassers und nicht mehr in meinem Sichtfeld.

Mitten in meinem Schimpfen kam jemand das Ufer entlang und fragte: "Kann ich helfen?"
"Ich helf dir gleich!" brüllte ich den Entlangkommenden an und lief ihm entgegen, um ihm eine zu scheuern, woraufhin er die Flucht ergriff. Ich kehrte zu meinem Uferplatz zurück und schaute ratlos auf das fließende Wasser. Da kam wieder einer am Ufer entlang. Ich packte ihn unvermittelt und warf ihn ins Wasser.
Wie ein nasser Sack schimpfte und schrie er im Wasser: "Du Spinner, ich zeig dich an!"
"Mach doch, wenn du kannst!" schrie ich zurück und warf ihm ein paar Steine hinterher.

Dann kam keiner mehr entlang am Ufer des Hachinger Bachs. Der Pavesare trieb mittlerweile weißgottwo, jedenfalls weit weg, ich denke irgendwo jenseits von München. Es herrschte Ruhe, die sich wie Leere anfühlte. Ich begann mich zu fürchten vor dieser Leere. Die Angst vor ihr trieb Tränen in meine Augen.

Es begann zu regnen. Durch die Tropfen schien es, als käme etwas zu mir. Nicht der Pavesare, nein, etwas viel Wichtigeres. Es klang wie ein vertrautes Lied*, das mir etwas zurückbringen wollte, das ich scheinbar verloren hatte.

*Gesungener Brief/vertrautes Lied
Hachinger Bachinger
Cesare Pavesare