…Meine Zeit mit Liliane

Ich habe Liliane seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich habe nichts von ihr gehört. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Laut Wikipedia tut sie es: Liliane Kampermann ist eine deutsche Künstlerin, die in München sowie weltweit lebt und arbeitet. Vor diesen Jahren, in denen wir uns nun nicht mehr gesehen haben, haben wir uns jahrelang in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen gesehen. Ich versuche, meine Begegnungen mit Liliane über die Zeiträume zu strukturieren, aber es gelingt mir nicht. Denn wenn wir uns trafen, schien die Zeit keine Rolle zu spielen. Sie verging einfach, ohne dass wir es merkten. Wir waren eingebettet in das, was nie war und was nie sein wird, sondern einfach ist: in die Gegenwart.

Ich habe als Kind Nacktheit als etwas Verbotenes erlebt, das mit starker Scham belegt ist. Das hat dazu geführt, dass ich mich bevorzugt in Frauen verliebe, die sich nackt zeigen. Ohne jede Kleidung. Ohne jeden Schmuck. Ein nackter Frauenleib ist für mich die Offenbarung des Glücks, der Zugang ins verbotene Paradies. Liliane und ich waren nackt, als wir uns das erste Mal sahen. Und sie zeigte sich: Sie stieg vor meinen Augen nackt ins warme Wasser, lud mich mit ihren Blicken ein, ihr zu folgen. Das Paradies öffnete seine Türen. Als unser nackter Abend endete, schloss sich das Paradies. Wir zogen uns an. Aber mich zog es hin in dieses Paradies, das fortan Liliane hieß. Wir trafen uns zu unseren zeitlosen Treffen, wir redeten und redeten, im Nachhinein glaube ich, Liliane redete mehr als ich, während ich sie betrachtete: ihren Mund, wenn sie redete; ihre Augen, wenn sie schaute. Bei diesen Anblicken träumte ich vom Paradies, das sich als kuscheliges Liebesnest mit uns beiden darin darstellte.

Es ist ein sehr warmer Frühlingstag im März. Die Sonne scheint schon ungewöhnlich stark durch die noch blattlosen Äste der Bäume. Liliane und ich sind im Paradies. Wir streunen über die Wiesen, auf der die Frühlingsblumen blühen. Ein Pärchen springt bereits voller Übermut ins kalte Wasser. Ich sehe Liliane und mich in diesem Pärchen und träume schon wieder vom Paradies. Wir setzen uns ins Gras und reden. Sind wir, oder belehren wir uns? Bin ich, oder beobachte ich sie? Die Worte, die wir reden, bauen sich auf wie eine Blockade. Die Worte werden viel zu viele, und ich lege mich hin, um ihnen zu entfliehen, aber auch als ich liege, fällt mir nichts anderes ein als Worte, Worte, Worte, und ich sehe Liliane und denke mir: Sie ist schön, schön, schön, und ich denke: Gibt es eigentlich einen idealen Zeitpunkt, um sich zu küssen? Oder passiert das einfach im Paradies? Ich ringe um das Paradies in meinem Kopf und sage: Ich sehe Frauen als viel zu hohe Wesen. Ich kann kein normales Verhältnis zu ihnen aufbauen. Durch dich, Liliane, lerne ich, dass ich, um mit einer Frau zu sein, ein Mann sein muss. Noch während diese Worte meinen Mund verlassen, fühlen sie sich komisch an, schal, unwahr, bauen sich auf wie eine trennende Wand zwischen uns, und mir fallen alle unsere Gespräche ein, deren Worte sich wie ein Schleier über Nachmittage und Nächte legen, den wir nicht zu durchdringen vermögen. Ich ringe weiter um das Paradies, aber mit Worten, das ist die Illusion, der ich erliege, dass ich mit Worten das Paradies herbeireden kann, ohne etwas dafür zu tun, und ich sage also: Liliane – ich will ehrlich sein zu mir, ich will ehrlich sein zu dir, deshalb sage ich dir jetzt, dass ich dich spüren will, dass ich dich küssen und berühren will. Für einen Moment sehe ich, wie sich Lilianes Lippen öffnen, so als will sie mir sagen: Dann tu es doch! Doch dann sehe ich in ihren Augen all die Worte unserer Gespräche, die uns trennen. Ich sehe in ihnen die Trauer über Oleg, den Zorn über ihren Vater, die Bitterkeit über die Männer. Ich sehe, dass sie das alles voll in Beschlag nimmt und verhindert, dass wir uns nahe kommen. Kein Platz für mich in Lilianes Welt. Oder haben wir uns für einen kurzen Moment gefunden, um uns gegenseitig unsere Trauer zu zeigen darüber, wo wir herkommen? Sind wir jetzt soweit, hinzuschauen? Sind wir jetzt am Grund des tiefen Sees, wo sich die Wahrheit ruhig verrät?

Liliane stand auf und lief davon. Ich blieb im Gras liegen und schaute zum Himmel. Ja, ich mag die Natur, weil sie keine Meinung hat. Sie ist einfach. Jahre vergehen, so wie die mit Liliane. Eines bleibt: die Gegenwart. Und mit ihr die Chance, frei zu sein. Denn der verdient sich seine Freiheit, der täglich sie erobern muss. Ich ziehe mich aus und springe in das kalte und klare Wasser.