Ein Rabe kam am Morgen

Ich trat am Morgen auf den Balkon, der mir vertraut und fremd zugleich war. Etwas Neues begann, nämlich ein neuer Tag, das war mir klar, so klar wie der Morgen. Es hört immer Altes auf und Neues beginnt. Zumindest wird es so gesagt. Doch an diesem Morgen hatte dieser sogesagte Neubeginn eine besondere Güte, denn als ich auf den Balkon trat, wusste ich plötzlich nicht mehr, wer ich bin. Ich dachte, ich sei ein Rabe. Ich sah auf die Grünfläche hinunter, die durch die mächtigen Zweige der alten Linde hindurch die ersten Sonnenstrahlen empfing. Ein Rabe war im Gras. Er pickte an etwas herum und verschlang es Stück für Stück. Dazwischen blickte er zu mir auf, doch ließ sich nicht stören. Immer wieder blickte er zu mir auf, nicht ängstlich, sondern bestimmt. Als er sein Morgenmahl verschlungen hatte, ließ er seinen Blick nicht mehr von mir. Durchdringend schaute er mich an. So als sei er ein Bote. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, der Rabe zu sein. Ich konnte nicht sagen: Dort ist der Rabe und da bin ich. Wir waren auf eine Weise eins, der ich mich nicht entziehen konnte.

In der Nacht vor diesem Morgen hatte sie mich zu sich genommen und bei mir Geborgenheit gesucht, ich bei ihr Sinnlichkeit, ich glaube das ist eine gute Zusammenfassung unserer gemeinsamen Nacht. Nach dem Erwachen lag sie auf dem Rücken. Ich setzte mich auf sie und betrachtete sinnlich ihren Körper, während sie sich geborgen fühlte und erzählte. Sie erzählte irgendwelche Sachen, die ich schon in dem Moment als sie sie erzählte vergessen hatte, ich hatte das Gefühl, sie erzählt, um zu erzählen, um die Geborgenheit zu steigern. Ihre Stimme gefiel mir, sie klang vertraut und beruhigend, und wahrscheinlich auch sinnlich, ja, auch sinnlich, denn ich begann mich zu streicheln, sie erzählte unterdessen weiter, ich wusste nicht, ob sie von meiner Erregung ablenken oder sie weitertreiben wollte, jedenfalls begann sie von ihrem Vater zu erzählen, es fiel mir auf, als sie von ihrem Vater zu erzählen begann, wahrscheinlich weil ihr Erzählen anders wurde, als sie von ihrem Vater zu erzählen begann und weil es mich wahrscheinlich zugleich mehr interessierte als das, was sie davor erzählt hatte. Sie erzählte von der tiefen Zuneigung zwischen ihr und ihrem Vater, die dann bei ihrem Vater in Abneigung umschlug, sie wisse bis heute nicht, warum diese Zuneigung in Abneigung umschlug, sie sagte: Wahrscheinlich weil seine siebte Frau jünger war als ich selbst, eine Frau jünger als die eigene Tochter kann man doch nicht lieben, sagte sie, da kann man doch gleich die eigene Tochter lieben! Dann stockte sie plötzlich, sie sagte nichts mehr und starrte schweigend die Decke an.

Ich suchte immer noch die Sinnlichkeit, aber sie war nicht mehr da. Sie befreite sich aus meiner Umklammerung und ging ins Bad. Ich stand ebenfalls auf, da ihr Bett nun ein Unort geworden war, der weder Geborgenheit noch Sinnlichkeit bot. Ich trat auf den Balkon. Der Rabe blickte zu mir und sagte mit seinem Blick: Abneigung ist eine averse Form von Zuneigung. Sie ist unerlöste Zuneigung, aber sie ist Zuneigung. Verstehst du? sagte er: Sie ist Zuneigung! Denn ohne Zuneigung keine Abneigung. Daraufhin krähte er einige Male laut, heftig bewegte er dabei seinen Kopf, um die Wichtigkeit seiner Mitteilung zu betonen, bis er schließlich seine Schwingen spannte und in den blauen Morgenhimmel verschwand.