Unterwegs nach St. Petersburg

Ich bin wütend und brülle die Frau an: „Setzen Sie sich gefälligst auf Ihren Platz, und kommen Sie nicht mehr auf die Idee, ihn jemandem anzubieten! Niemand will auf Ihrem Platz sitzen! Sie haben das auszuhalten, dass Sie dort sitzen und sonst niemand dort sitzen will! Sie soziale Vergewaltigerin, Sie kümmergenisierter Krüppel!“

Ich sehe mich im Waggon um. Es herrscht Stille und alle sehen mich an. Ich setze mich auf meinen Platz und kann meinen Atem hören. Meine Wutrede hat mich angestrengt. Ich sehe zum Fenster hinaus. Die Landschaft zieht vorüber. Meine Wutrede hat mich durcheinandergebracht. Wo war ich stehen geblieben mit meinen Gedanken? – Die russischen Zaren haben St. Petersburg erbaut und zur Hauptstadt gemacht, um Russland näher an Europa heranzuführen. Was hat die russischen Zaren zu dieser Weltoffenheit getrieben, zu diesem Interesse für Europa, um eine neue Stadt in einer Sumpflandschaft mit Überschwemmungsgefahr zu bauen? Heutzutage will jeder raus aus Europa, zum Beispiel die Briten, und die Russen bauten sich einst eine neue Hauptstadt, um nach Europa zu kommen!

Nach jeder Haltestelle blicke ich auf, zu der Frau hinüber, ich blicke auf, ob jemand eingestiegen ist und sie wieder jemanden nötigt, ihren Platz einzunehmen, um ihr soziales Gewissen zu beruhigen. Bevor ich mich wieder den Gedanken widme, die mir eigentlich wichtig sind, sollte ich erklären, was mich so entzürnt hat an dieser Frau und mich wütend auf sie einbrüllen ließ: Sie ist wohl etwa dreißig Jahre alt und hat durchaus hübsche Anlagen, aber es strahlt eine innere Unzufriedenheit aus ihren Augen, die ihre hübschen Anlagen überlagert. An einer Haltestelle war nun eine andere Frau eingestiegen, vermutlich etwa doppelt so alt wie die eine Frau, die an ihrem Platz sitzt mit der Unzufriedenheit in ihren Augen. Die jüngere Frau erhob sich von ihrem Platz und forderte die ältere Frau auf, ihren Platz einzunehmen. Die ältere Frau verweigerte sich höflich dieser Aufforderung. Die jüngere Frau bot erneut ihren Platz an, worauf die ältere erneut verweigerte. Das ging so weiter, bis die jüngere die ältere unerbittlich anflehte, sie möge doch bitte ihren Platz einnehmen, denn sonst fühle sie sich so schlecht, und das würde sie nicht aushalten. Es war eine Nötigung in ihren Worten, in ihren Gesten, in ihren unzufriedenen Augen, mit der sie die ältere Frau zwingen wollte, ihren Platz einzunehmen. Ich hatte während dieser ganzen Szene versucht, an St. Petersburg zu denken, doch es fiel mir immer schwerer, bis ich schließlich vollkommen von der Szene erfasst wurde und zu meiner Wutrede ansetzte.

Nun herrscht Ruhe im Waggon. Die ältere Frau hat sich etwas entfernt und lehnt an einer durchsichtigen Trennwand. Wo war ich stehen geblieben? Bei den Sumpfgebieten, auf denen St. Petersburg erbaut wurde? Ich weiß es nicht mehr. – In jedem Fall steht da also nun St. Petersburg, auf diesen ehemaligen Sumpfgebieten, immerhin die viertgrößte Stadt Europas. Es scheint ziemlich allein zu stehen in einem Europa, das keiner mehr zu haben scheinen will. Ich versuche, nicht aufzublicken zu der Frau, denn ich merke, dass meine Gedanken kompliziert werden und einige Konzentration erfordern. Wäre da nicht diese Unzufriedenheit in den Augen dieser Frau, ich würde mich nicht wehren können gegen den Impuls, zu ihr aufzublicken und durch ihre Augen ihre hübschen Anlagen zu erspähen. Doch so schaffe ich es, bei meinen Gedanken zu bleiben: Europa und die Nationen. Ist die Nation ein politisch gewollter Begriff, oder ist sie eine menschliche Notwendigkeit? Der Mensch tobt sich aus, und um dieses Austoben zu legitimieren, schafft er die Nation, um gegen andere Nationen Krieg zu führen. Der Feind sucht sich leichter anderswo als in sich selbst. Ist die junge Frau mein Feind?

Nein! Ich will mich nicht ablenken lassen, schon gar nicht von dieser Frau, die mich so wütend gemacht hat mit ihrer sozialen Vergewaltigung. Nein! Stattdessen denke ich: Ich fahre nicht so oft nach St. Petersburg, weil ich denke: Nur wenn ich russisch sprechen kann, verdiene ich es, St. Petersburg zu betreten. Bin ich zu streng zu mir?

Der Zug hält. Die ältere Frau steigt aus. Die jüngere wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich atme tief durch, weil ich mich schäme für meinen Wutanfall. Wieso machte mich diese Frau so wütend und jetzt so beschämt? Ich spüre neue Wut in mir hochkommen, weil es mir nicht gelingt, ihre hübschen Anlagen wahrzunehmen hinter diesen unzufriedenen Augen.