30. Ansonsten nur Zufälle.

Am 30. Oktober des Jahres 2016 ging Benedikt Mitterbichler mit seiner 30 Wochen alten Tochter im Morgengrauen spazieren. Es lässt sich nicht mehr ermitteln, wieso Benedikt Mitterbichler am 30. Oktober des Jahres 2016 mit seiner 30 Wochen alten Tochter im Morgengrauen spazieren ging. Es erscheint geradezu absurd, dass Benedikt Mitterbichler das tat, denn seine Frau erzählt, dass ihre 30 Wochen alte Tochter fest schlief, als Benedikt Mitterbichler sie in die Babytrage packte und mit ihr im Morgengrauen spazieren ging. Sie wisse jedoch nicht genau, ob ihre Tochter wirklich fest schlief, da sie selbst fest schlief, als Benedikt mit ihrer 30 Wochen alten Tochter aufbrach zum Spaziergang im Morgengrauen.

Benedikt Mitterbichler ging mit seiner 30 Wochen alten Tochter in einen Park, der früher ein Friedhof war. Die Kieswege in diesem Park, der früher ein Friedhof war, sind so angelegt, dass sie sich im rechten Winkel einander begegnen. Zwischen diesen Wegen liegen die Reste der ehemaligen Gräber, wachsen Bäume, Sträucher und Gras. Mitterbichler ging die Wege entlang, die sich im rechten Winkel einander begegnen. Mitterbichlers 30 Wochen alte Tochter sah die Bäume, Sträucher und das Gras zwischen den Wegen und wäre gerne durch die Reste der alten Gräber, vorbei an den Bäumen, Sträuchern und Gräsern gegangen. Aber mit 30 Wochen kann man noch nicht gehen, also bewegte sie manchmal lediglich ihren Kopf ein wenig hin und her, um mit den Augen einen Ausflug ins Grün zu machen, während Mitterbichler die geradlinigen, sich einander im rechten Winkel begegnenden Wege entlangging.

Eine Frau, deren Name sich leider nicht ermitteln lässt – und ich habe keine weiteren Ermittlungen unternommen, ihren Namen herauszufinden, da ihr Name für den weiteren Fortgang der Ereignisse nicht wichtig ist -, ging an jenem Morgen ebenfalls in den Park, der früher ein Friedhof war. Weiters, dies sollte der Vollständigkeit halber erwähnt werden, ging auch ein Mann an diesem Morgen in den Parkfriedhof. Die geschlechtliche Unterscheidung der Personen im Parkfriedhof, die ich soeben vorgenommen habe, hebe ich jedoch sofort wieder auf, da sie nicht von Belang ist. In vielen Erzählungen spielt die Geschlechtlichkeit der Personen eine große Rolle, wenn nicht sogar die Hauptrolle, nicht jedoch in dieser. Es lässt sich also zusammenfassend feststellen, dass vier Personen an diesem Morgengrauen im Parkfriedhof unterwegs waren: Mitterbichler mit seinem 30 Wochen alten Kind, einer Tochter, und zwei weitere Personen.

Die beiden weiteren Personen, die sich neben Mitterbichler und seiner Tochter an diesem Morgen im Friedhofspark aufhielten, gingen wie Mitterbichler die geradlinigen Wege entlang, die im rechten Winkel aufeinandertreffen. So war die Wahrscheinlichkeit groß, dass Mitterbichler und die zwei besagten Personen einander begegnen würden. Und tatsächlich begegnete Mitterbichler einer dieser beiden Personen. Als sie aneinander vorbeigingen, war Mitterbichler unsicher, ob er die Person grüßen sollte, denn in den Park im Morgengrauen geht man, um allein zu sein, nicht um Personen zu grüßen, so lautet zumindest die ungeschriebene Regel, und es ist anzunehmen, dass auch Mitterbichler das so sieht, da er unsicher war, ob er die Person grüßen sollte. Ich könnte feststellen: Wieso sollte er sie grüßen, denn sie waren in der Stadt, kannten einander nicht? Wieso sollte er sie grüßen? Aber diese Begegnung im Morgengrauen des Parkfriedhofs hatte eine gewisse Intimität. Sie war eine andere Begegnung als in der Münchner Kaufingerstraße zur Hauptgeschäftszeit.

Mitterbichlers Tochter stieß einen lauten Schrei aus, als sie der Person begegneten. Das wunderte Mitterbichler. War der Schrei ein zufälliger, oder hing er mit der Person zusammen, die ihnen begegnet war? Er erinnerte sich an das Gesicht der Person, die ihnen eben begegnet war: Es war ein ernstes Gesicht gewesen, mit strengen Augen, die mit ihrer Strenge eine Trauer zu verbergen scheinen, oder zumindest eine Enttäuschung. Der Mund war dünnlippig zusammengekniffen, was Mitterbichler schlussendlich dazu bewogen hatte, nicht zu grüßen. Irgendwie, so dachte Mitterbichler, hatte seine Tochter mit ihrem Schrei statt ihm gegrüßt, hatte ihr Gefühl und ihre Empathie zu diesem verbitterten Gesicht kundgetan.

Mitterbichler ging weiter, auf den rechtwinklig angelegten Wegen. Die Geschichte könnte hier zu Ende sein, wenn der Erzähler beschließt, dass sie zu Ende ist. Oder sie geht weiter, und zwar damit, dass Mitterbichler weiter auf den rechtwinklig angelegten Wegen im Parkfriedhof entlanggeht und dabei entweder niemanden mehr trifft, diesselbe Person nochmals trifft, die er bereits getroffen hat und seine Tochter dabei wieder einen Schrei ausstößt oder nicht, oder die andere Person trifft, die ebenfalls im Morgengrauen im Parkfriedhof unterwegs ist.

Es sei festgestellt, dass außer der 30 Wochen alten Tochter Mitterbichlers alle sonstigen Personen im Park, also Mitterbichler und die beiden anderen Personen unterschiedlichen Geschlechts (was jedoch nicht wichtig ist), zum Zeitpunkt des Geschehens älter als 30 Jahre waren. 30 Jahre alte und ältere Personen gehen in der Regel auf angelegten Wegen in einem Park spazieren, und so ist der wahrscheinliche Fortgang der Geschichte, dass Mitterbichler auch die andere Person auf einem der rechtwinklig angelegten Wege des Parks treffen wird.

Mitten in diese Überlegungen hinein raschelte es im Gebüsch am Wegesrand, die andere Person, die Mitterbichler noch nicht getroffen hatte, kam daraus hervor und sah Mitterbichler und seine Tochter mit freudestrahlenden, offenen Augen an. Mitterbichlers Tochter gluckste in diesem Augenblick vor Überraschung und Freude, und ehe Mitterbichler zu einem „Guten Morgen“ ansetzen konnte, war die Person wieder verschwunden. Mitterbichler sah seine gutgelaunte Tochter und sprang in das Gebüsch, aus dem die andere Person soeben hervorgesprungen war. Hinter dem Gebüsch tat sich einen ungeahnte Welt auf: Amseln pickten am Boden herum. Eichhörnchen sprangen von Ast zu Ast… Mitterbichler hüpfte mit seiner Tochter im Gras herum und summte dazu den Ungarischen Tanz Nr. 5 von Brahms. Die weiteren Geschehnisse an diesem Morgen im Parkfriedhof wären noch zu ermitteln.