Wagemuts Hochzeit

Es ist eine Ungerechtigkeit, dass die Schwermut in der deutschen Sprache weiblich und der Wagemut männlich ist. Nur so konnten meine Eltern auf die Idee kommen, mir den Namen Schwermut und meinem Bruder den Namen Wagemut zu geben. Wie kamen sie überhaupt auf diese Namen? Wahrscheinlich weil sie selbst Hildemut und Hartmut heißen.

Wir wohnten in einem Haus neben einem großen, tiefen Wald. Ich fürchtete mich oft in schwermütigen Gedanken vor seiner Größe und seinen Tiefen. Mein Bruder Wagemut hingegen hat sich schon als kleiner Junge in diesen großen, tiefen Wald getraut. So ist es nur logisch, dass er Waltraud kennenlernte, die er nun beabsichtigt zu heiraten. Meine Schwermut hielt mich anfangs davon ab, zur Hochzeit zu gehen, was man mir als Hochmut auslegte. Mehr Demut vor der Liebe deines Bruders, Schwermut! sagten meine Eltern zu mir. Wieso habt ihr mich nicht Demut genannt, wenn ihr sie jetzt so vehement einklagt. Dann wäre nicht alles so schwer! erwiderte ich trotzig, was ihren Hochmutsverdacht lediglich bestärkte.

Ich fühlte mich in die Enge gedrängt und dachte an den großen tiefen Wald, vor dem ich mich bisher so gefürchtet hatte, als meine einzige Ausflucht. Ich lief also in den großen tiefen Wald und bewegte mich unter den hohen Bäumen und glaubte, in meiner Schwermut zu vergehen. Plötzlich hörte ich meinen Bruder Wagemut rufen, der offensichtlich seine eigene Hochzeit verlassen hatte: Schwermut, mein Schwesterherz, wie kommt es, dass du dich alleine in den Wald traust? Waltraud, die Braut, die die Hochzeit scheinbar ebenfalls verlassen hatte, kam von der anderen Seite auf mich zu und hielt eine Kettensäge in der Hand. Ich entriss ihr die Kettensäge und begann, in einem Anfall von Wagemut, Bäume zu fällen, die auf mich fallen sollten, um mich unter ihrer Schwere zu begraben. Doch die Bäume blieben stehen. Stattdessen löste sich der Boden unter mir. Ich sah Waltraud und Wagemut neben mir ins Bodenlose fallen und befürchtete das Schlimmste. Da flog ein Klavier mit Pianist heran, gefolgt von einem ganzen Orchester, und spielte das Klavierkonzert Nr. 23 von Mozart. Anfangs dachte ich, die ganzen Musiker mitsamt ihren Instrumenten würden wohl gleich krachend zu Boden fallen, doch es gab ja keinen Boden mehr, weil ich ihn, statt die Bäume zu fällen, abgesägt hatte. Die Musiker mit ihren Instrumenten flogen also weiter mit mir.

Zu meiner großen Überraschung sah ich meine kleine Schwester Anmut heranschweben, die ich nicht erwartete, weil sie als kleines Mädchen beim Spielen im Wald gestorben war, als ihr der dicke Ast eines großen Baumes auf den Kopf gefallen war. Ich wollte sie fragen, ob auf der Hochzeitsgesellschaft von Waltraud und Wagemut Missmut herrscht, weil wir nicht da sind, doch sie sagte nichts dazu. So tanzte ich mit Anmut weiter zu den Klängen von Mozart, voller Übermut.