Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Neun Städte mit Burgen

Mein Geographielehrer hieß Grub. Er war fasziniert von Städten mit Burgen. Anfangs dachte ich, er ist so fasziniert von diesen Städten, weil Grub, sein Name, rückwärts gelesen Burg heißt. Doch irgendwann begriff ich, dass das nicht der einzige Grund sein konnte, denn er war so dermaßen fasziniert von diesen Städten, dass er stets von uns verlangte, neun von ihnen aufzählen zu können. Wie er dabei auf die Zahl neun kam, ist mir ebenso ein Rätsel wie seine überbordende Faszination für diese Städte.

Wir erzählten unserem Deutschlehrer, der Ylliw Rotsa hieß, von der Anforderung im Geographieunterricht, neun Städte mit Burgen aufzählen zu können. Ylliw Rotsa war ein großer Geschichtenerzähler, also erzählte er uns eine Geschichte von neun Städten mit Burgen:

Ein Wirt ging vor seine Kneipe, wo sich einige seiner Gäste aufhielten, um zu rauchen, und rief: "Ascht mir doch nicht den ganzen Gehsteig voll, ihr Affen! Was hier schon wieder Kippen herumliegen!"
"Ach Wirt, hab dich nicht so!" sagte daraufhin einer der Gäste, "da duis ich einmal mit dem Besen drüber, und schon ist der Gehsteig wieder frei. Den Rest erledigt das Wasser des Regens. Lass dir dafür Folgendes sagen: Würz nicht soviel mit Salz wenn du kochst! Außerdem bist du garstig, Wirt. Da könnt ich glatt glauben, dass ich in des Wolfs Augs schau! Musst halt auf einer einsamen Burg hausen, wenn dich die Leute so aufregen."
"Wir ham keine Burg in unserer Stadt. Also werd ich wohl weiter in meiner Kneipe bleiben, so wie eine Magde bei ihrem Herrn." sagte daraufhin der Wirt.

Das war die Geschichte meines Deutschlehrers Ylliw Rotsa über neun Städte mit Burgen. So nannte er seine Erzählung, und wiederum war es mir schleierhaft, wie er dabei auf die Zahl neun kam, wo ich doch eindeutig, nach mehrmaligem konzentrierten Durchlesen, immer zwölf Städte in seiner Erzählung identifizieren konnte. Er erzählte die Geschichte jedenfalls so lustig, dass sie sich in meinem Gedächtnis eingebrannt hat.

In den Geographiestunden mit Herrn Grub war sie mir sehr hilfreich. Herr Grub referierte stundenlang über Städte mit Burgen. Wenn er dann am Schluss der Stunden verlangte, dass jemand in der Klasse neun Städte mit Burgen aufzählt, meldete ich mich oft freiwillig, rief mir die Geschichte von Ylliw Rotsa ins Gedächtnis und sagte: 1. Asch-affenburg, 2. Duisburg, 3. Freiburg, 4. Wasserburg, 5. Regensburg, 6. Würzburg, 7. Salzburg, 8. Wolfsburg, 9. Augsburg.

„Sehr gut Hinterstoisser, bitte setzen!“ sagte Herr Grub dann zufrieden. Manchmal ergänzte ich: „Burghausen wüsste ich auch noch, als zehnte Stadt“, was Herr Grub mit einem Nicken erwiderte, das ich nie recht deuten konnte. Deshalb ließ ich Hamburg und Magdeburg fast immer unerwähnt.

Wagemuts Hochzeit

Es ist eine Ungerechtigkeit, dass die Schwermut in der deutschen Sprache weiblich und der Wagemut männlich ist. Nur so konnten meine Eltern auf die Idee kommen, mir den Namen Schwermut und meinem Bruder den Namen Wagemut zu geben. Wie kamen sie überhaupt auf diese Namen? Wahrscheinlich weil sie selbst Hildemut und Hartmut heißen.

Wir wohnten in einem Haus neben einem großen, tiefen Wald. Ich fürchtete mich oft in schwermütigen Gedanken vor seiner Größe und seinen Tiefen. Mein Bruder Wagemut hingegen hat sich schon als kleiner Junge in diesen großen, tiefen Wald getraut. So ist es nur logisch, dass er Waltraud kennenlernte, die er nun beabsichtigt zu heiraten. Meine Schwermut hielt mich anfangs davon ab, zur Hochzeit zu gehen, was man mir als Hochmut auslegte. Mehr Demut vor der Liebe deines Bruders, Schwermut! sagten meine Eltern zu mir. Wieso habt ihr mich nicht Demut genannt, wenn ihr sie jetzt so vehement einklagt. Dann wäre nicht alles so schwer! erwiderte ich trotzig, was ihren Hochmutsverdacht lediglich bestärkte.

Ich fühlte mich in die Enge gedrängt und dachte an den großen tiefen Wald, vor dem ich mich bisher so gefürchtet hatte, als meine einzige Ausflucht. Ich lief also in den großen tiefen Wald und bewegte mich unter den hohen Bäumen und glaubte, in meiner Schwermut zu vergehen. Plötzlich hörte ich meinen Bruder Wagemut rufen, der offensichtlich seine eigene Hochzeit verlassen hatte: Schwermut, mein Schwesterherz, wie kommt es, dass du dich alleine in den Wald traust? Waltraud, die Braut, die die Hochzeit scheinbar ebenfalls verlassen hatte, kam von der anderen Seite auf mich zu und hielt eine Kettensäge in der Hand. Ich entriss ihr die Kettensäge und begann, in einem Anfall von Wagemut, Bäume zu fällen, die auf mich fallen sollten, um mich unter ihrer Schwere zu begraben. Doch die Bäume blieben stehen. Stattdessen löste sich der Boden unter mir. Ich sah Waltraud und Wagemut neben mir ins Bodenlose fallen und befürchtete das Schlimmste. Da flog ein Klavier mit Pianist heran, gefolgt von einem ganzen Orchester, und spielte das Klavierkonzert Nr. 23 von Mozart. Anfangs dachte ich, die ganzen Musiker mitsamt ihren Instrumenten würden wohl gleich krachend zu Boden fallen, doch es gab ja keinen Boden mehr, weil ich ihn, statt die Bäume zu fällen, abgesägt hatte. Die Musiker mit ihren Instrumenten flogen also weiter mit mir.

Zu meiner großen Überraschung sah ich meine kleine Schwester Anmut heranschweben, die ich nicht erwartete, weil sie als kleines Mädchen beim Spielen im Wald gestorben war, als ihr der dicke Ast eines großen Baumes auf den Kopf gefallen war. Ich wollte sie fragen, ob auf der Hochzeitsgesellschaft von Waltraud und Wagemut Missmut herrscht, weil wir nicht da sind, doch sie sagte nichts dazu. So tanzte ich mit Anmut weiter zu den Klängen von Mozart, voller Übermut.

Anscheinend die Sonne

Ich reisse Vorderbrandner den Zettel aus der Hand und lese:

Die Sonne scheint mich an. Anscheinend hat die anscheinende Sonne nichts anderes zu tun, als mich anzuscheinen.

„Das ist Mist, Vorderbrandner! Du sollst etwas schreiben, das unsere Leser interessiert, und dich nicht selbstgefällig an der Sprache verlustieren. Du könntest zum Beispiel etwas über Geld schreiben, denn Geld interessiert und bewegt die Leute. Geld ist die Schmiere des modernen Lebens.“

„Geld, Geld, Geld. Hast du noch etwas anderes im Kopf außer Geld? Es geht auch ohne Geld. Gestern habe ich gelesen, dass man in Düsseldorf Trambahn fahren kann ohne Geld. Man muss sich lediglich vier Werbespots à zwanzig Sekunden anschauen, und schon bekommt man sein Ticket.“

„Das ist toll. Ich wollte schon immer vor dem Trambahnfahren, wenn ich in der Regel in Eile bin, mir in aller Ruhe vier Werbespots anschauen. Wer macht denn diese Werbespots? Die Rheinbahn AG, der Betreiber der Düsseldorfer Trambahnen, die ihre Kunden in diesen Spots informiert, dass sie ab sofort auf Geld für ihre Dienstleistung verzichtet?“

„Ach quatsch. Weiß ich nicht. Irgendwer halt. Coca Cola oder so.“

„Irgendwer, der will, dass man etwas von ihm kauft. Womit wir wieder beim Geld wären. Um Werbung zu finanzieren, muss irgendjemand irgendwann etwas kaufen. Am besten der, der in Düsseldorf mit der Trambahn fährt.“

„Also gut, ich kapituliere. Du hast den Bogen zum Geld wieder gespannt. Ich werde trotzdem nicht über Geld schreiben, sondern über die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten.“

„Da ist der Bogen zum Geld aber auch schnell gespannt. Apropos Donald Trump: Seine Wahl zum US-Präsidenten ist für mich inkonsequent. Ich hätte gleich Larry Page gewählt, denn eines nicht allzu fernen Tages wird Google nicht mehr von Werbung abhängig sein, sondern es wird die Welt beherrschen und Geld einkassieren und verteilen wie es ihm gefällt. Google ist die Wahrheit, sonst nichts. Warum also Trump, wenn es Page gibt?“

„Larry Page hat sich nicht als US-Präsident nominieren lassen, weil er Mark Zuckerberg als Vize-Präsident wollte. Der ist aber wegen Volksverhetzung angeklagt, weil er, wie die klagende Partei sagt, Drohungen bezüglich Mord- und Gewaltverbrechen absichtlich nicht aus Facebook löschen lässt. Page sagt dazu: Ohne Zuckerberg kann ich nicht, denn sollte Google nicht die Wahrheit sein, dann ist es Facebook.“

„Weißt du was: Wir bleiben bei deinem Text mit der Sonne. Ich bin froh, dass sie mich anscheint und anscheinend nichts anderes zu tun hat als mich anzuscheinen. Ganz einfach so, ohne Geld, ohne Werbung, ohne Google, ohne Facebook und was es sonst noch in der modernen Welt gibt.“

30. Ansonsten nur Zufälle.

Am 30. Oktober des Jahres 2016 ging Benedikt Mitterbichler mit seiner 30 Wochen alten Tochter im Morgengrauen spazieren. Es lässt sich nicht mehr ermitteln, wieso Benedikt Mitterbichler am 30. Oktober des Jahres 2016 mit seiner 30 Wochen alten Tochter im Morgengrauen spazieren ging. Es erscheint geradezu absurd, dass Benedikt Mitterbichler das tat, denn seine Frau erzählt, dass ihre 30 Wochen alte Tochter fest schlief, als Benedikt Mitterbichler sie in die Babytrage packte und mit ihr im Morgengrauen spazieren ging. Sie wisse jedoch nicht genau, ob ihre Tochter wirklich fest schlief, da sie selbst fest schlief, als Benedikt mit ihrer 30 Wochen alten Tochter aufbrach zum Spaziergang im Morgengrauen.

Benedikt Mitterbichler ging mit seiner 30 Wochen alten Tochter in einen Park, der früher ein Friedhof war. Die Kieswege in diesem Park, der früher ein Friedhof war, sind so angelegt, dass sie sich im rechten Winkel einander begegnen. Zwischen diesen Wegen liegen die Reste der ehemaligen Gräber, wachsen Bäume, Sträucher und Gras. Mitterbichler ging die Wege entlang, die sich im rechten Winkel einander begegnen. Mitterbichlers 30 Wochen alte Tochter sah die Bäume, Sträucher und das Gras zwischen den Wegen und wäre gerne durch die Reste der alten Gräber, vorbei an den Bäumen, Sträuchern und Gräsern gegangen. Aber mit 30 Wochen kann man noch nicht gehen, also bewegte sie manchmal lediglich ihren Kopf ein wenig hin und her, um mit den Augen einen Ausflug ins Grün zu machen, während Mitterbichler die geradlinigen, sich einander im rechten Winkel begegnenden Wege entlangging.

Eine Frau, deren Name sich leider nicht ermitteln lässt – und ich habe keine weiteren Ermittlungen unternommen, ihren Namen herauszufinden, da ihr Name für den weiteren Fortgang der Ereignisse nicht wichtig ist -, ging an jenem Morgen ebenfalls in den Park, der früher ein Friedhof war. Weiters, dies sollte der Vollständigkeit halber erwähnt werden, ging auch ein Mann an diesem Morgen in den Parkfriedhof. Die geschlechtliche Unterscheidung der Personen im Parkfriedhof, die ich soeben vorgenommen habe, hebe ich jedoch sofort wieder auf, da sie nicht von Belang ist. In vielen Erzählungen spielt die Geschlechtlichkeit der Personen eine große Rolle, wenn nicht sogar die Hauptrolle, nicht jedoch in dieser. Es lässt sich also zusammenfassend feststellen, dass vier Personen an diesem Morgengrauen im Parkfriedhof unterwegs waren: Mitterbichler mit seinem 30 Wochen alten Kind, einer Tochter, und zwei weitere Personen.

Die beiden weiteren Personen, die sich neben Mitterbichler und seiner Tochter an diesem Morgen im Friedhofspark aufhielten, gingen wie Mitterbichler die geradlinigen Wege entlang, die im rechten Winkel aufeinandertreffen. So war die Wahrscheinlichkeit groß, dass Mitterbichler und die zwei besagten Personen einander begegnen würden. Und tatsächlich begegnete Mitterbichler einer dieser beiden Personen. Als sie aneinander vorbeigingen, war Mitterbichler unsicher, ob er die Person grüßen sollte, denn in den Park im Morgengrauen geht man, um allein zu sein, nicht um Personen zu grüßen, so lautet zumindest die ungeschriebene Regel, und es ist anzunehmen, dass auch Mitterbichler das so sieht, da er unsicher war, ob er die Person grüßen sollte. Ich könnte feststellen: Wieso sollte er sie grüßen, denn sie waren in der Stadt, kannten einander nicht? Wieso sollte er sie grüßen? Aber diese Begegnung im Morgengrauen des Parkfriedhofs hatte eine gewisse Intimität. Sie war eine andere Begegnung als in der Münchner Kaufingerstraße zur Hauptgeschäftszeit.

Mitterbichlers Tochter stieß einen lauten Schrei aus, als sie der Person begegneten. Das wunderte Mitterbichler. War der Schrei ein zufälliger, oder hing er mit der Person zusammen, die ihnen begegnet war? Er erinnerte sich an das Gesicht der Person, die ihnen eben begegnet war: Es war ein ernstes Gesicht gewesen, mit strengen Augen, die mit ihrer Strenge eine Trauer zu verbergen scheinen, oder zumindest eine Enttäuschung. Der Mund war dünnlippig zusammengekniffen, was Mitterbichler schlussendlich dazu bewogen hatte, nicht zu grüßen. Irgendwie, so dachte Mitterbichler, hatte seine Tochter mit ihrem Schrei statt ihm gegrüßt, hatte ihr Gefühl und ihre Empathie zu diesem verbitterten Gesicht kundgetan.

Mitterbichler ging weiter, auf den rechtwinklig angelegten Wegen. Die Geschichte könnte hier zu Ende sein, wenn der Erzähler beschließt, dass sie zu Ende ist. Oder sie geht weiter, und zwar damit, dass Mitterbichler weiter auf den rechtwinklig angelegten Wegen im Parkfriedhof entlanggeht und dabei entweder niemanden mehr trifft, diesselbe Person nochmals trifft, die er bereits getroffen hat und seine Tochter dabei wieder einen Schrei ausstößt oder nicht, oder die andere Person trifft, die ebenfalls im Morgengrauen im Parkfriedhof unterwegs ist.

Es sei festgestellt, dass außer der 30 Wochen alten Tochter Mitterbichlers alle sonstigen Personen im Park, also Mitterbichler und die beiden anderen Personen unterschiedlichen Geschlechts (was jedoch nicht wichtig ist), zum Zeitpunkt des Geschehens älter als 30 Jahre waren. 30 Jahre alte und ältere Personen gehen in der Regel auf angelegten Wegen in einem Park spazieren, und so ist der wahrscheinliche Fortgang der Geschichte, dass Mitterbichler auch die andere Person auf einem der rechtwinklig angelegten Wege des Parks treffen wird.

Mitten in diese Überlegungen hinein raschelte es im Gebüsch am Wegesrand, die andere Person, die Mitterbichler noch nicht getroffen hatte, kam daraus hervor und sah Mitterbichler und seine Tochter mit freudestrahlenden, offenen Augen an. Mitterbichlers Tochter gluckste in diesem Augenblick vor Überraschung und Freude, und ehe Mitterbichler zu einem „Guten Morgen“ ansetzen konnte, war die Person wieder verschwunden. Mitterbichler sah seine gutgelaunte Tochter und sprang in das Gebüsch, aus dem die andere Person soeben hervorgesprungen war. Hinter dem Gebüsch tat sich einen ungeahnte Welt auf: Amseln pickten am Boden herum. Eichhörnchen sprangen von Ast zu Ast… Mitterbichler hüpfte mit seiner Tochter im Gras herum und summte dazu den Ungarischen Tanz Nr. 5 von Brahms. Die weiteren Geschehnisse an diesem Morgen im Parkfriedhof wären noch zu ermitteln.

München, Westendstraße (Teil 3/3)

auf den Spuren von Grete Trakl

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, ging mit der Dame aus Salzburg weiter die Westendstraße entlang. Sie gingen an Hochhäusern und Verwaltungsgebäuden vorbei. Rechts von ihnen tat sich eine recht trostlose Brache auf. Eine Durststrecke, die sie größtenteils mit Schweigen überbrückten. Schließlich erreichten sie bewohntes Gebiet, das sich beiderseits der Westendstraße erstreckt und von einer Trambahn erschlossen wird. Friedenheim heißt dieses Gebiet. Oskar gefällt dieser Name. In der nun wieder etwas heimeligeren Atmosphäre fasste er sich ein Herz und fragte die Dame aus Salzburg: „Wie heißen Sie?“

„Was tut das zur Sache?“ wehrte die Dame brüsk Oskars Frage ab. „Wir sind hier wegen Grete Trakl und nicht wegen mir. Glauben Sie ja nicht, dass sich mich verführen können! Wir teilen eine Leidenschaft für die Trakls, diese tragischen Geschwister, aber nicht mehr!“

Diese Direktheit hatte Oskar nicht erwartet. Er wünschte sich, nach dieser abweisenden Erwiderung seiner Frage seitens der Dame, nichts sehnlicher herbei als seine Einsamkeit. Er richtete seinen Blick nach vorne und stellte zu seinem Entsetzen fest, dass die Westendstraße einen weiteren Knick nach Süden vollführt, sich also endgültig von ihrer westlichen Bestimmung abwendet. Sie verliert sich nun vollends in der weiten Unordnung der Welt und trudelt ordnungs- und richtungslos ihrem Ende entgegen. Mit einem letzten Kraftakt überquert sie die Autobahn und ergießt sich schließlich, wie ein Fluss, der seine Ufer verliert, in den Münchner Westpark.

Mit einem letzten Kraftakt überquert die Westendstraße die Autobahn, bevor sie sich in den Westpark ergießt

Mit einem letzten Kraftakt überquert die Westendstraße die Autobahn, bevor sie sich in den Westpark ergießt

Gibt es eine Rettung aus dieser uferlosen Wirrnis, in die Oskar mit der Dame aus Salzburg hineingeraten ist? Wie eine reissende Flut will die Westendstraße die beiden in den Westpark hineinspülen. In dieser Not spürt Oskar plötzlich eine Verbundenheit mit der Dame aus Salzburg. Er packt ihren Arm und rettet sich mit ihr in einen kleinen Weg, der rechts abbiegt und sie in den Schutz hoher Bäume bringt. Oskar ist froh, nicht im Westpark zu ertrinken und atmet erleichtert auf, während die Dame etwas pikiert ihren Arm von Oskars Griff befreit. Dunkel führt der Weg sie nun durch die Bäume hindurch. Plötzlich taucht eine Lichtung auf, auf der ein altes, großes Gebäude zu schlafen scheint. Die Dame aus Salzburg sieht Oskar mit großen Augen an, aber Oskar bringt kein Wort heraus. Seine Augen werden genauso groß wie die der Dame, als er auf das Gebäude auf der Lichtung sieht, so überraschend kam es in seinen Blick.

„Wohin führen Sie mich? Ich habe Angst!“ ruft die Dame.

„Schauen Sie! Schauen Sie! Hier ist sie, die Kuranstalt Neufriedenheim für nerven- und gemütskranke beider Geschlechter. Schauen Sie doch, wie Ernst Rehm mit Grete Trakl aus der Tür kommt und sie in den Garten führt!“

Ehemalige Heilanstalt Neufriedenheim

Ehemalige Heilanstalt Neufriedenheim

Oskar dachte kurz daran, dass es nun viel besser wäre, seine Einsamkeit aufzusuchen und die Dame aus Salzburg zu verlassen. Sich wie die Westendstraße in den Westpark zu ergießen und sich in den grünen Weiten zu verlieren. Wieso war er mit ihr in den Waldweg zu dieser Lichtung geflüchtet? Wieso war er nicht vor ihr geflüchtet? Ohne weiter nachzudenken, zu seiner eigenen Überraschung, packte er die Dame an den Schultern, drückte seinen Mund an ihr Ohr und sagte: „Margarethe, ich liebe Sie!“ Was tat Oskar da? Er erschrak vor seinen eigenen Worten. Würde ihm seine Einsamkeit jemals wieder Schutz bieten, wenn er sich so unvorsichtig verhält?

Die Dame aus Salzburg blieb regungslos stehen und starrte auf das Gebäude auf der Lichtung vor ihnen. Ohne sich zu Oskar umzudrehen, ohne darüber überrascht zu sein, dass Oskar sie Margarethe nannte, sagte sie: “ Sagen Sie bitte dich, nicht Sie. Ich liebe dich. Denn das sagte Georg Trakl auch zu seiner Schwester: Ich liebe dich! Aber er nannte sie Grete, nicht Margarethe. Grete nannte er sie.“ Sie löste sich aus Oskars Umklammerung, was Oskar, wie paralysiert vom Moment, ohne Widerstand geschehen ließ. Sie kletterte über den Zaun und ging auf das Gebäude zu. Oskar vernahm jeden ihrer Schritte, er spürte, wie das Gras unter ihren Füßen wogte. Sie war ein weißer Engel, von hellem Licht umgeben. Es waren hundert Jahre vergangen, seit Grete Trakl hier gewesen war, und trotzdem hätte er schwören können, dass er Grete Trakl über das Gras gehen sah. „Grete!“ sagte Oskar, so als hätte ihm ein inneres Drehbuch das vorgeschrieben.

Kurz bevor Grete das Gebäude erreichte, sank sie mit ihren Knien auf das Gras und fing bitterlich zu weinen an. In das Weinen mischte sich das Rascheln der Blätter an den Bäumen, das Oskar wie süße Musik vernahm. Er fragte sich, ob man gemeinsam einsam sein kann. Hatte er nun seine Einsamkeit wieder gefunden? War er noch Oskar, oder war er Georg Trakl? Wo war Ernst Rehm? Kann er denn nicht helfen? Nein, niemand kann helfen, in dieser Einsamkeit des Moments, weil der Moment geschieht, ohne Hilfe zu brauchen. Er sah auf den weißen Engel, der im hellen Licht im Gras kniete: Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung…

Heilanstalt Neufriedenheim
Frühling der Seele

München, Westendstraße (Teil 2/3)

auf den Spuren von Grete Trakl

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, hatte sich gewissenhaft auf den Besuch der Dame aus Salzburg vorbereitet. Er hatte recherchiert, über Grete Trakl und ihre Zeit in München. Er hatte eine Route erdacht, die ihn und die Dame aus Salzburg auf die Spuren von Grete Trakl bringen sollte.

Die Dame aus Salzburg stieg aus dem Zug. Als sie Oskar am Bahnsteig erblickte, sagte sie zu ihm: „Kommen Sie ja nicht auf die Idee, mich in die Innenstadt zu verführen. Ich bin wegen Grete Trakl hier, und wegen sonst niemandem!“

„Selbstverständlich, gnädige Dame, wir werden uns sofort auf den Weg machen, mit einer Zielgerichtetheit, als wäre Bruder Georg darselbst auf dem Weg zu seiner geliebten Schwester.“

Oskar führte die Dame vom Münchner Hauptbahnhof stadtauswärts, zur sogenannten Theresienhöhe.

„Sie sollen mich auch nicht zur Theresienwiese verführen! Ich bin dem Bier nicht zugeneigt, und das Oktoberfest ist bereits vorbei!“

„Keine Sorge, gnädige Dame!“ erwiderte Oskar. „Dies ist die Theresienhöhe, nicht die -wiese. Die Theresienhöhe ist ein äußerst würdiger Startpunkt für unsere heutige Wanderung zu den Spuren Grete Trakls.“ Oskar zeigte auf ein paar Bäume, hinter denen sich ein großes, mit roten Backsteinziegeln erbautes Haus versteckt. „Ich darf Sie auf das Wohnhaus von Georg Hauberrisser hinweisen, dem Erbauer des neugotischen Münchner Rathauses…“

Am Hauberrisser-Haus

Am Hauberrisser-Haus

„Ich sagte Ihnen, Sie sollen mich nicht in die Innenstadt verführen!“

„Nein, gnädige Dame…“

„Wieso erwähnen Sie dann das neugotische Münchner Rathaus?“

„Weil Georg Hauberrisser, der Architekt, der es geplant hatte, hier sein Wohnhaus hatte, und die angrenzende Wiese dieses Wohnhauses liegt am Beginn der Westendstraße, die uns zu den Spuren Grete Trakls führen wird.“

„Das muss ein Säufer gewesen sein, dieser Hauberrisser, wenn er direkt an der Theresienwiese sein Wohnhaus baut!“

„Höhe, gnädige Dame, Höhe!“

„Wie?“

„Theresienhöhe, nicht Theresienwiese!“

„Wie auch immer. Lenken Sie nicht weiter ab, verführen Sie mich weder in die Innenstadt noch auf die Theresienwiese, sondern führen Sie mich endlich zu den Spuren Grete Trakls!“

Oskar tat sich ein wenig leid, dass er seine Einsamkeit geopfert hatte, seine Einsamkeit, in der er sich hemmungslos seinen Träumereien hingeben konnte, um die Dame aus Salzburg zu den Spuren Grete Trakls zu führen. Wie heißt die Dame überhaupt? Jetzt war der falsche Zeitpunkt, das zu fragen. Sie gingen schweigend die Westendstraße entlang, die fast schnurgerade nach Westen führt. Sie gingen vorbei an der Augustinerbrauerei, an alten Häusern, die Oskar gerne genauer betrachtet hätte, aber die Dame aus Salzburg ging zügigen Schrittes voran. Kleine Irritationen ergaben sich, als sie den Mitteren Ring überqueren mussten, der das historische Ensemble unsanft unterbricht. Verkehr rollt von oben und von unten. Doch sie behielten ihr Schweigen bei, betrachteten den kleinen Schlenker den sie machen mussten als ungeschehen und bogen wieder in die Westendstraße ein. Sie erreichten das westliche Ende des Westends, dort wo München früher definitiv endete. Die Westendstraße weiß, dass sie hier das Ende ihrer Bestimmung erreicht hat. Sie muss hier enden! Doch sie tut es nicht! Sie macht stattdessen einen halbherzigen halben Knick nach Süden. Wie ein gerupfter Hahn verliert sie dabei ihre beiderseitige Bebauung und führt Oskar und die Dame aus Salzburg in eine wenig verlockende Vorstadtgegend. Westendstraße, weißt du denn nicht, dass man aufhören soll, wenn es am schönsten ist? denkt sich Oskar. Was treibt dich weiter? Größenwahn? Unvernunft?

Die Westendstraße an ihrem Knick nach Südwesten

Die Westendstraße an ihrem Knick nach Südwesten

„Wohin verführen Sie mich jetzt?“ sagte die Dame aus Salzburg empört. „Glauben Sie, Georg Trakl hätte jemals einen Fuß in diese abstoßende Gegend gesetzt?“

„Das weiß ich nicht, gnädige Dame, aber es geht doch nicht um Georg, sondern um Grete. Und diese Straße führt uns direkt zu den Spuren von Grete.“

Der Name Grete Trakl übte eine derartige Faszination auf die Dame aus Salzburg aus, dass sie ihre Beschwerden sofort aufgab und willig mit Oskar weiter die Westendstraße entlangging. Oskar dachte, dass die Westendstraße nun nach Südwesten in ein völlig zweckentfremdetes Dasein führt, aber er beschloss, dies zu akzeptieren, denn die Ordnung, die sich die Menschheit auferlegt, wird immer eine unvollkommene sein, solange die Menschheit nicht willens und fähig ist, sich eine vollkommene Ordnung zu geben. Im übrigen sprach er die Westendstraße frei von jeder Schuld, denn er hatte den Verdacht, dass böse, die Unordnung beschwörende Menschen die Westendstraße nicht am Ende des Westends enden, sondern sie zweckentfremdet nach Südwesten weitertrudeln ließen.

Sie gingen also weiter, zügigen Schrittes, auf den Spuren von Grete Trakl…

 

Fortsetzung folgt

München, Westendstraße (Teil 1/3)

auf den Spuren von Grete Trakl

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, kann bezeichnet werden als ein Mensch, der die Dinge des Lebens mit sich alleine ausmacht. Das hat er selbst noch nie so gesagt oder gesehen, doch beim Rückblick auf sein mittlerweile nicht mehr ganz junges Leben kommt man nicht umhin, diesen Eindruck bestätigt zu finden. Sein Umgang mit anderen Menschen ist ein äußerst sparsamer, er vermeidet ihn, soweit es geht, und wenn er unvermeidlich ist, gestaltet er ihn äußerst distanziert. So hat er auch seinen Ausflug nach Salzburg, den er vor einigen Wochen unternommen hat, alleine mit sich ausgemacht. Er hat sich in den Zug gesetzt, dabei einen Gedichtband von Georg Trakl in der Hand haltend, und ließ die Landschaft des Alpenvorlands an sich vorbeiziehen. In Salzburg stieg er aus dem Zug, studierte den Stadtplan, um sich eine Route zu ersinnen, besichtigte einige Gebäude, die ihm kunsthistorisch von Interesse erschienen, ehe er sich im Café Bazar niederließ, um sich dort weiter in die Gedichte von Georg Trakl zu vertiefen.

Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung, las Oskar gerade, als er eine Frauenstimme neben sich vernahm, die zu seiner großen Verwunderung ihre Rede an ihn richtete.
„Sie lesen Trakl!“ sagte sie.
„Ja“, sagte Oskar, und ehe er weiteres sagen konnte, hatte die Dame einen Stuhl zurechtgerückt und sich zu ihm an den Tisch gesetzt.
„Lesen Sie weiter. Lesen Sie mir vor!“ sagte die Dame. Etwas unschlüssig blickte Oskar auf die vor ihm aufgeschlagene Seite. Wie konnte er diese unzulässige Störung seiner Einsamkeit unterbinden? Er blickte auf, in die Augen der Dame, die gegenüber von ihm Platz genommen hatte, und vergaß die Wichtigkeit seiner Einsamkeit. Er ließ seinen Blick wieder auf die vor ihm aufgeschlagene Seite fallen und las laut weiter:

Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung
des Waldes und Mittag war und groß das Schweigen des Tiers
Weiße unter wilder Eiche, und es blühte silbern der Dorn.
Gewaltiges Sterben und die singende Flamme im Herzen…

„Das ist aus Frühling der Seele„, sagte die Dame. „Wunderschön! Wie Trakl darin die Liebe zu seiner Schwester beschwört! Was sagen Sie dazu?“

Oskar dachte kurz an seine Einsamkeit, die er verloren hatte, die Einsamkeit, die ihn noch vor wenigen Momenten vor solchen Fragen beschützt hätte. Er hielt den Gedichtband in der Hand, der ihm auch keinen Halt bot, und sagte nur: „Die Liebe zu seiner Schwester?“

„Ja, die Liebe zu seiner Schwester Grete. Es ist doch ein offenes Geheimnis, dass Trakl seine Schwester liebte, in abgöttischer Weise. Bis zu welchem Ausmaß, ich meine auch körperlich, weiß niemand, aber er liebte sie abgöttisch.“

„Körperlich?“

„Ja, vielleicht. Es wird gemunkelt, dass Grete von Georg schwanger war. Inzest also. Faszinierend, auf eine gewisse Art, die Beziehung der beiden!“

Oskar war sprachlos ob der Gesprächigkeit der Dame. Wo war seine Einsamkeit, die ihn in Ruhe hier im Café Bazar in Salzburg sitzen lässt? Stattdessen ließ er sich entlocken, dass er in München wohnhaft ist, woraufhin die Dame einen Schrei der Entzückung von sich ließ, denn Grete Trakl habe ein sehr entscheidendes Jahr ihres kurzen Lebens in München verbracht, als noch einmal Hoffnung aufkeimte in ihr. Ernst Rehm hätte sie retten können, aber er hat sie nicht gerettet, wie überhaupt Männer so tun, als ob sie Frauen retten könnten, aber sie können es nicht, Frauen könnten sich nur selbst retten, meinte die Dame.

Oskar spürte Unbehagen, dass ihn die Dame aus Salzburg über das Leben belehrte. Grete Trakl? Ernst Rehm? Er wollte sich zurückziehen, um seine Gedanken zu ordnen, um seine Welt wieder in Ordnung zu bringen. Gleichzeitig spürte er, dass er seine Einsamkeit unwiederbringlich verloren hatte, und so versprach er der Dame, sie in ein paar Wochen in München empfangen zu wollen und sich mit ihr auf die Münchner Spuren von Grete Trakl zu begeben. Danach setzte er sich in den Zug nach München, mit einem ihm unbekannten Gefühl. Er schlug den Gedichtband auf und las die Zeilen immer wieder: Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung…

Grete Trakl
Ernst Rehm

 

Fortsetzung folgt

 

Gelzer und Gürzer und das versteinerte Geld

Was bisher geschah:
Gelzer und Gürzer (Teil 1)
Gelzer und Gürzer und das verlorene Geld (Teil 2)

Gürzer, der Wohlhabende, will endlich leben, während Gelzer, der Einfache, endlich Geld haben will…

Gelzer und Gürzer sitzen auf den Steintreppen vor dem Eingang zu Gürzers Villa. Es ist wie früher. Scheinbar. Gelzer hat Gürzer schon oft besucht in seiner Villa, und Gürzer hat ihn dabei immer auf den Steintreppen der Villa empfangen. Aber es ist anders als früher. Denn früher haben sie nie auf den Steintreppen gesessen, sondern sind ins Haus oder in den Garten gegangen.

Es hat sich nichts verändert, die Villa ist diesselbe. Aber die Veränderung liegt in der Luft: Gürzers Villa ist versteinertes Geld. Gelzer hat Gürzers gesamtes bares, flüssiges Geld verloren. Jetzt, ohne flüssiges Geld, wird das versteinerte Geld zu bröckeln beginnen, denn es braucht flüssiges Geld, um das versteinerte Geld zu erhalten. Oder das versteinerte Geld muss sich auflösen, um flüssiges zu werden. Wie gelähmt sitzen Gelzer und Gürzer auf den Steintreppen vor dem versteinerten Geld in Form der Villa, durch den Verlust des baren, flüssigen Geldes scheinbar all ihrer Handlungsmöglichkeiten beraubt.

„Ich habe immer gehabt. Ich habe immer Geld gehabt“, sagt Gürzer, „und mein Ziel war es immer, zu sein. Das Haben hat mich gefangen genommen, sodass ich glaubte, nicht mehr zu sein. Deshalb habe ich dir mein gesamtes bares, flüssiges Geld gegeben, mein Haben, weil ich mir erhoffte, mehr zu sein, wenn ich mich der Bürde des Habens entledige.“

„Du hast doch noch immer. Du hast deine Villa!“ entgegnet Gelzer.

„Das stimmt. Ich sollte konsequenter sein. Ich sollte dir auch meine Villa geben, mein gesamtes Vermögen, nicht nur mein bares Geld, das ich dir ja schon gegeben habe.“

Gelzers Augen leuchten: Ein Verkauf der Villa, also eine Auflösung des versteinerten Geldes in bares, flüssiges, würde sie beide, Gürzer und ihn, finanziell wieder sanieren! Das Haben ist immer Gelzers Ziel gewesen, ganz im Gegensatz zu Gürzer, und deshalb hat er Gürzer immer verehrt in seiner habenden Existenz. Doch das Leuchten in seinen Augen weicht augenblicklich einer für ihn ungewohnten Nachdenklichkeit: Er war vor kurzem unverhofft in Besitz von Gürzers gesamtem Geld gekommen, durch die Idee Gürzers, ihm sein gesamtes Geld zu geben, eine Idee, die er immer noch nicht versteht. Das Denkmal Gürzer hat sich seines Habens entledigt und sich selbst gestürzt. Aber wie auch immer, er hatte plötzlich Geld im Überfluss, er hatte Haben im Überfluss, doch weil er vom Haben nicht genug bekommen konnte, wollte er es vermehren. Mit dieser Habsucht hat er das gesamte Haben ebenso schnell wieder verloren, wie er es gewonnen hatte. War er zum Haben nicht geeignet? Mitten in diese Nachdenklichkeit durchzuckt ihn wie ein Blitz die Faszination des Habens, des Besitzes, des Geldes, ein für ihn vertrautes Gefühl. Er spürt seine Erregung darüber und sagt zu Gürzer:

„Ja, gib mir deine Villa! Ich werde sie verkaufen und wir beide haben wieder Geld.“

Während also Gelzer zu dem schlussendlich nicht überraschenden Entschluss gekommen ist, Gürzers Villa haben zu wollen, ist Gürzer mittlerweile nicht mehr überzeugt von seiner Idee, Gelzer seine Villa zu geben. Ihm wird unbehaglich bei dem Gedanken, Gelzer seine Villa zu geben. Er sagt zu Gelzer: „Die Lösung für mein Sein kann nicht dein Haben sein. Oder ist die Lösung für mein Sein dein Haben? Sein oder Haben, ist das hier die Frage?“

„Ohne Haben sind wir nicht: Wir verhungern, wir erfrieren, wir sterben, ohne Haben. Haben ist die Voraussetzung für das Sein. Ich habe, seit ich lebe, Angst, dass ich ohne Haben nicht bin.“

„Und deshalb hast du ohne Not mein ganzes Geld verbraten? Ich habe dir Haben in Hülle und Fülle gegeben, doch du willst offensichtlich nur sein, sonst hättest du mein Geld, dass ich dir anvertraut habe, nicht so rücksichtslos verbraten. Ich werde dir meine Villa nicht geben!“

Betreten blickt Gelzer zu Boden, wie ein Diener, der von seinem Herrn gemaßregelt wurde.

Gürzer sitzt auf der Steintreppe und spürt Unbehagen. Er spürt die Veränderung in der Luft. Zu viel frische Luft dringt plötzlich in seine Lungen. Er steht auf, kehrt Gelzer den Rücken und flüchtet in seine Villa, in sein versteinertes Geld. Er schlägt die Tür hinter sich zu. Er ist zornig auf Gelzer, dass dieser so brav gelernt hat, dass scheinbar nichts so viel zählt wie der schnöde Besitz, der Reichtum, das Geld, das Haben; dass man ohne Haben nicht ist, wie er es ausgedrückt hat.

Er fühlt sich unfähig zu sein. Sein Haben hat er verloren, weil er sein Geld dem nichtsnützigen Gelzer anvertraut hat. Er fühlt sich schwach, lehnt sich an eine der Mauern seiner Villa, an einen Teil seines versteinerten Geldes. Wie lange werden diese Mauern noch halten, bis sie zu bröckeln beginnen?

Anziehangelegenheiten

Vorderbrandner schmunzelt immer nur, wenn ich ihn darauf anspreche. Ich musste die Polizei rufen, sage ich ihm, aber er schmunzelt nur darüber.

Wir waren auf einer öffentlichen Badewiese, Vorderbrandner und ich. Ganz in der Nähe von uns redeten einige Leute auf eine Frau ein, die vollständig verhüllt war und nur durch Schlitze bei ihren Augen mit der Umwelt verbunden war. Die vollständig verhüllte Frau sah aus wie ein Gespenst, weil sie zwar offensichtlich durch die Schlitze nach draußen sehen konnte, ich ihre Augen aber durch die Schlitze nicht erkennen konnte. Die Leute, die auf die verschleierte Frau einredeten, empfanden ihre Vollverschleierung als störend und verlangten von ihr, sich ihres Schleiers zu entledigen. Ich hörte nicht, was sie wortwörtlich zu ihr sagten, aber ihren Gesten war zu entnehmen, dass sie von ihr verlangten, sich ihres Schleiers zu entledigen.

Vorderbrandner, der neben mir saß, hatte die Sache auch mitbekommen. Vorderbrandner befand sich kleidungstechnisch in einem scharfen Gegensatz zur vollverschleierten Frau, denn er war vollständig nackt. Vorderbrandner geht an dieser Badestelle immer nackt baden, wie viele andere auch. Niemand hätte Vorderbrandner beachtet, wie er nackt in der Wiese lag. Doch unvermittelt stand er auf und ging, nackt wie er war, zu den Leuten um die vollverschleierte Frau. Er fragte, ob er helfen könne, den Konflikt, der hier offensichtlich herrsche, zu lösen.
„Du gehst besser, du nackter Saubär!“ sagte einer der Leute zu ihm, woraufhin Vorderbrandner meinte, ob denn jetzt An- oder Ausgezogensein das Problem sei.
„Wie?“ fragte der Mann aus der Gruppe, der ihn als einen nackten Saubären bezeichnet hatte.
„Ihr wollt, dass die verschleierte Frau ihren Schleier auszieht, aber ich, der ich ausgezogen bin, bin ein nackter Saubär. Diesem derben Vokabular entnehme ich, dass ihr wünscht, dass ich mir etwas anziehe.“
„Das ist doch etwas ganz anderes. Misch dich nicht ein und schleich dich!“
Vorderbrandner schleichte sich nicht, sondern sagte, mit einer provozierenden Art, mit der er in solchen Situationen zu Hochform aufläuft: „Ausziehen und anziehen sind für mich sehr verwandte Begriffe, in der Tat, sie bedingen sich gegenseitig.“
„Es geht hier um Grundsätzliches, um eine Ideologie. Nicht ob sich jemand auszieht oder anzieht“
„Ausziehen und anziehen sind sehr grundsätzliche Dinge. Ein Kind zieht sich aus, wenn ihm warm ist, ein Kind zieht sich an, wenn ihm kalt ist. Wo ist da eine Ideologie? Das ist eine pure Notwendigkeit des Lebens, sich aus- oder anzuziehen.“
„Dann frag doch mal die Vollverschleierte, ob sie sich aus purer Notwendigkeit des Lebens ihren Schleier überwirft in dieser Hitze!“
„Es sieht unbequem aus, bei diesen sommerlichen Temperaturen mit einem Vollumhang herumzulaufen. Sie muss schrecklich schwitzen. Ich erkenne in der Tat keine Notwendigkeit, im Gegenteil“, sagte Vorderbrandner, und alle schienen sich einig zu sein. Nur von der Vollverschleierten war nichts zu hören und nichts zu sehen, und sie machte, trotz des einleuchtenden Arguments Vorderbrandners, dass es bei sommerlichen Temperaturen schön sei, sich auszuziehen, keine Anstalten, sich des Schleiers zu entledigen.

Plötzlich kamen Männer auf die Wiese, etwas fremdartig in ihrem Aussehen, für unsere Breiten üblich angezogen (also Gesicht, Hände und Arme nicht bedeckt). Sie suchten wohl die verschleierte Frau, denn sie waren sehr aufgeregt, als sie sie erblickten. Sofort rissen sie sie recht grob an sich. Vorderbrandner mischte sich ein und sagte, sie sollen nicht so grob sein zu der Frau, wo sie doch wahrscheinlich ohnehin furchtbar schwitze unter ihrem Schleier. Er fragte, ob man sie denn nicht erlösen könne, nahm ihren Schleier und hob ihn leicht in die Höhe.

Ich dachte mir: Vorderbrandner, du Kindskopf, lass das! Du bist ein Kind geblieben, aber die meisten anderen – vor allem Männer, die vollverschleierte Frauen suchen – sind verbohrte Erwachsene, die sich hinter ihren Ideologien verstecken. Durch die Ideologie wird Aus- oder Angezogensein zum Problem gemacht, denn ein Problem lässt sich besser kontrollieren als die Welt mit all ihren Möglichkeiten des Aus- und Angezogenseins. Das dachte ich mir, und während ich mir das dachte, hatten sie Vorderbrandner schon zu Boden geworfen, wälzten und rauften sich mit ihm. Der nackte Vorderbrandner im Ringkampf mit den Männern, während die Vollverschleierte regungslos stehenblieb – ein Bild wie ein Krieg. Ich hatte Angst um Vorderbrandner, aber ich war zu ängstlich, mich ins Getümmel zu werfen, um ihm beizustehen. Also rief ich die Polizei. Als ich die Polizei gerufen hatte, war ich unsicher, ob die Polizei eine Hilfe für Vorderbrandner sein würde, denn der nackte Vorderbrandner in diesem Getümmel würde wohl als Erregung öffentlichen Ärgernisses identifiziert werden. Als nackter Saubär eben.

Die Leute, die Vorderbrandner anfangs als nackten Saubären betitelt hatten, kämpften jetzt großteils gegen die Männer, die die vollverschleierte Frau gesucht hatten. Plötzlich, inmitten des Aufruhrs, fiel die Vollverschleierte um wie ein Baumstamm. War sie in der Sommerhitze kollabiert? Niemand der Kämpfenden hatte ihren Zusammenbruch bemerkt, stattdessen wurde unverdrossen weitergebalgt und -gestritten. Vorderbrandner konnte sich unterdessen aus dem Getümmel befreien, lief schnurstracks ans Ufer des Sees und sprang ins Wasser. Ich überlegte, ob ich es wagen sollte, die Vollverschleierte von ihrem Schleier zu befreien oder ob jede Hilfe schon zu spät kam oder ob ich zusätzlich zur Polizei einen Krankenwagen rufen sollte oder ob ich einen der Männer, die die vollverschleierte Frau gesucht hatten, darauf hinweisen sollte, sich nicht weiter zu prügeln, weil die Frau Hilfe benötigt. Oder ob ich dem ganzen Irrsinn, als den ich ihn erlebte, einfach seinen Lauf nehmen lassen sollte.

Die Offenheit des Künstlers

Ich fühlte mich im Sommerloch und saß etwas ratlos vor einem weißen Blatt Papier. Ich sah nach draußen. Ich sah, wie die sattgrünen Blätter der Esche im reifen Sommerwind wogten. Plötzlich klingelte es an der Tür. Ich öffnete, und vor mir stand Grübeldinger aus Salzburg, der Salzburg normalerweise nie verlässt. Zumindest hatte er das bisher immer behauptet. Er fühle sich gezwungen, in Salzburg zu sein, hat Grübeldinger über all die Jahre immer wieder gesagt, es sei Verrat an seinem eigenen Leben, Salzburg zu verlassen. Er sei glücklich und gleichzeitig todunglücklich, immer in Salzburg zu sein und es nie zu verlassen, wobei er meist betonte, dass er glücklich sei, in Salzburg zu sein, aber unglücklich sei über seinen inneren Zwang, es nie zu verlassen. Das Sein in Salzburg mache ihn glücklich, während das Nie-verlassen-können-von-Salzburg ihn unglücklich mache. Es sei aber nunmal seine Pflicht, in Salzburg zu sein. Diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, als Grübeldinger vor meiner Tür stand, dieser Tür, die sich nicht in Salzburg, sondern in München befindet. Ehe ich etwas sagen konnte, sagte Grübeldinger: Ich habe den Künstler in mir entdeckt. Es ist die Pflicht eines jeden Künstlers, offen für die Welt zu sein, und so habe ich beschlossen, von Salzburg nach München zu fahren.

Es gelang mir, Grübeldingers Worte zu vernehmen und sie gleichzeitig zu ignorieren, was eine neue Erfahrung für mich war. Ich konnte diese neue Erfahrung jedoch nicht reflektieren, da ich mich an Grübeldinger vorbeizwängte und mich ins Treppenhaus begab. Die Treppen knarzten unter meinen Füßen, als ich ins Freie stürmte. Ich raste wie entfesselt die Straße entlang und hatte gerade noch Zeit, die sattgrünen Blätter der Pappeln im reifen Sommerwind zu sehen, als mich plötzlich ein Luftzug erfasste und mich nach oben zog. Ich schwebte über den Häusern Münchens und erinnere mich, dass mich eine Angst erfasste, so ganz ohne Boden unter meinen Füßen. Die Angst wich schnell der Begeisterung, denn es war ein schöner Anblick, die Stadt im reifen Sommerlicht unter mir und die Berge in der Ferne glitzern zu sehen. Ich dachte kurz an Grübeldinger, wie er vor meiner offenen Tür steht mit seiner neuentdeckten Offenheit. Zumindest meine Tür steht ihm offen.

Ich blicke nach unten und versuche zu erkennen, was unter mir liegt, doch ehe ich mich weiter damit beschäftigen kann, bin ich auf einem Berggipfel gelandet und erkenne unter mir das einsame Bergahorn, das ich letzten Sommer einmal besucht habe. Freudig schwebe ich zu ihm und lande in seiner Krone. Seine Blätter wogen im reifen Sommerwind. Unter uns erkenne ich einen See, an dessen Oberfläche der Wind kleine Wellen kräuselt. Ich will mich abkühlen im Wasser des Sees und schwebe also weiter, als ich plötzlich meine Schwerelosigkeit verliere und mit einem heftigen Satz ins Wasser stürze. Wasser gischtet und spritzt um mich herum. Ich erkenne ein paar Fische, die erschrocken zur Seite springen. Als sich das Wasser nach meinem Einschlag beruhigt hat, drehe ich mit den Fischen ein paar Runden im See. Auf einmal merke ich, dass ich heftig zu schwitzen beginne, was ich merkwürdig finde, denn ich schwimme mit den Fischen im kühlen Wasser. Ich schaue nach oben zur Sonne, die das Wasser hell beleuchtet. Mitten in dieser Wasser-Sonnen-Welt denke ich plötzlich an meine Wohnungstür und mache mir Sorgen, weil ich sie nicht verschlossen habe, als ich fluchtartig das Haus verlassen habe. Ich schließe meine Augen, beschließe aber gleich darauf, sie zu öffnen, um Klarheit in meine Gedanken zu bringen. Ich öffne also die Augen und sehe die sattgrünen Blätter einer Esche über mir, die im reifen Sommerwind wogen. Die Sonne scheint hell und warm, und ich schwitze in ihren flachen Strahlen. Ich höre eine sehr angenehme Stimme, sehr nah, die sagt: „Lass uns schwimmen gehen!“ Trotz dieser sanften und liebevollen Einladung fällt mir genau in diesem Moment wieder die offene Tür ein, die ich nicht verschlossen habe, als ich fluchtartig das Haus verlassen habe. Grübeldinger und die offene Tür – das ist ein Bild, das mich nicht verlässt; die Offenheit des Künstlers, von Salzburg nach München zu fahren. Merkwürdigerweise sehe ich Grübeldinger jetzt am Münchner Hauptbahnhof stehen, wie er einen Zug nimmt nach Worpswede. Wieso Worpswede? Ich weiß nicht, wieso ich glaube, dass Grübeldinger nach Worpswede fährt. Ich weiß auch nicht, ob es wichtig ist zu wissen, dass Grübeldinger meine Wohnungstür verschlossen hat, bevor er nach Worpswede gefahren ist.

Ich blicke in die tiefe Sonne und sehe vor mir die Umrisse eines Frauenkörpers. Mir gefällt dieser Frauenkörper im tiefen Sonnenlicht. „Lass uns schwimmen gehen!“ höre ich wieder die Stimme sagen. Langsam erhebe ich mich. Die Sonne blendet. Ich gehe wie blind durch das sanfte Gras, das ich unter meinen Füßen und an meinen Beinen spüre, von Gefühlen geleitet.