Begierde und Zierde (drei Schwestern im Goldenen Tal)

Berta, Gitta und Zita sind drei Schwestern, deren Vater einst in das Goldene Tal zog, um dem Großstadtleben zu entfliehen. Das Goldene Tal hat einen besonders fruchtbaren Boden, was dem Vater jedoch egal war, obwohl er umfangreiche Ländereien im Tal erworben hatte.

Als der Vater verstorben war, intensivierten Berta und Gitta die Bewirtschaftung der Ländereien, während Zita zurück in die Stadt zog, wo die drei Schwestern einst mit dem Vater hergekommen waren. Bald jedoch wurde Berta und Gitta der Obst-, Gemüse- und Getreideanbau und die Viehhaltung zu mühsam, und sie beschlossen, keine Pflanzen mehr anzubauen und kein Vieh mehr zu halten, sondern nur noch die fruchtbare Erde selbst zu vermarkten. Sie vermarkteten die Erde unter den Namen Begierde, also kurz für Berta-und-Gitta-Erde.

Die Erde verkaufte sich anfangs gut, auch in der Stadt, und so kam die jüngste, in der Stadt wohnende Schwester Zita, zurück ins Goldene Tal und bestand auf ihrem Teil des Erbes der Ländereien. Nach einigen Rechtsstreitigkeiten traten Berta und Gitta ihr einen Teil der Ländereien ab, und Zita vermarktete fortan Erde aus dem Goldenen Tal unter dem Namen Zierde.

Die Zierde verkaufte sich jedoch nicht so gut wie die Begierde, woraufhin Zita einen medienwirksamen Streit mit ihren Schwestern anzettelte, der dazu führte, dass sich in der Öffentlichkeit die Meinung bildete, die besondere Qualität der Erde aus dem Goldenen Tal sei ein Schwindel der Schwestern, die Erde habe nur ihre besondere Qualität, wenn sie im Goldenen Tal verbleibe und dort auf ihr Gemüse, Obst und Getreide angebaut und Vieh gehalten werde. Umfangreiche Rückrufaktionen von Konsumentenschutzverbänden wurden daraufhin organisiert. Tonnenweise brachten Lastwägen die Erde in das Goldene Tal zurück, woraufhin Berta und Gitta nichts anderes übrig blieb, als die zurückgebrachte Erde wieder auf ihre Ländereien zu verteilen und darauf Gemüse, Obst und Getreide anzubauen und Vieh zu halten, während Zita ihren Anteil wieder an ihre beiden älteren Schwestern zurückgab und sich fortan gänzlich in die Stadt zurückzog.

Bleib am Leben!

Mein Vater starb viel zu früh für heutige Verhältnisse, mit Mitte fünfzig, und viel zu plötzlich, an einem Lungenkollaps. Der hatte sich, im Nachhinein betrachtet, angekündigt, als er sich monatelang kraftlos durch seine Tage schleppte, aber als Anfangzwanzigjähriger, der ich damals war, wurde ich von seinem Tod überrascht.

In meinen Träumen nach seinem Tod rannte ich über sonnige Wiesen, in denen er am Wegesrand erschien. Er stand da, scheinbar völlig genesen und doch unwirklich, irre, verrückt. Ich blieb stehen und er lächelte. War das das Glück, das ich mir wünschte? Ich konnte nicht stehenbleiben. Ich rannte weiter. Er blieb zurück und verschwand wieder.

In einem meiner Träume, ich rannte wie immer, bauten sich hinter mir dicke schwarze Wolken auf, dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Jetzt stirbt er wieder, dachte ich. Ich rannte zu ihm zurück. Vater, rief ich, bleib am Leben! Es gibt noch etwas zu erledigen!

Als ich zu ihm zurückkam, erschien er wie Phönix aus der Asche. Es schien, als hätte er meinem Willen gehorcht. Der Regen, den die dicken schwarzen Wolken gebracht hatten, verzog sich und die Sonne kam raus. Ich legte mich vor ihm ins Gras. Er setzte sich zu mir und streichelte mir liebevoll über den Kopf. Dann erstarrte er und entschwand mir wieder.

Ich stand auf. Ich rannte nicht, ich ging ruhigen und kraftvollen Schrittes. Ich ließ ihn allein zurück. Und dennoch hatte ich das Gefühl, dass er bei mir blieb. War das seine Auferstehung? Ließ ich ihn gehen? War das Kind in mir nun bereit, sein eigener Vater zu sein?

 

Gefangenhalting

Mein Vater war ein zerrissener Mensch: Er schwärmte von bäuerlichen Leben am Berg und arbeitete in der Metallfabrik im Tal. Wir wohnten direkt unterhalb des Stoissbergs, der Keimzelle des Namens Hinterstoisser. Auf den hinteren Hängen des Stoissberges lebte einst ein Mann, der als erster den Namen Hinterstoisser erhielt. Unterhalb des Stoissbergs, in der Ortschaft Anger, wo wir wohnten, war es während der Wintermonate sehr schattig. Meine Mutter, die in dem ebenfalls schattigen Dorf Aufham ihre Kindheit verbrachte, wollte deshalb in die Stadt Freilassing ziehen, die nördlicher liegt und nicht mehr im Schatten der Berge. Außerdem, sagte meine Mutter, ist es praktischer, wenn wir in der Stadt leben und nicht in diesem Kaff. Du arbeitest doch sowieso dort, sagte meine Mutter zu meinem Vater, und ich werde dort auch Arbeit finden.

Aber mein Vater wehrte sich vehement gegen diese Pläne meiner Mutter. Ein Hinterstoisser, das sei nun mal Gesetz, habe auf dem Stoissberg oder zumindest am Fuße des Stoissbergs zu wohnen. Nach Freilassing kannst du alleine ziehen, sagte mein Vater zu meiner Mutter, obwohl er täglich nach Freilassing zur Arbeit in die Metallfabrik fuhr. Freilassing, sagte mein Vater weiter, hat den völlig falschen Namen. Es ist eine Ausgeburt an Häßlichkeit, und ich frage mich, wie man dort wohnen kann. Dort kann man doch nicht freiwillig sein mögen. Ich glaube, alle, die in Freilassing wohnen, werden dort gefangen gehalten, und deshalb sollte es Gefangenhalting heißen und nicht Freilassing.

Sollte es nicht Gefangennehming heißen, wandte ich ein: Ich meine – man kommt nach Freilassing und wird dort gefangen genommen und nicht mehr frei gelassen. Das Gegenteil von frei lassen ist doch gefangen nehmen und nicht gefangen halten. Mein Vater hatte keine Lust, in diese Diskussion einzusteigen, und verschwand in den Keller, um dort Bier zu trinken.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, ihn mit meinen spitzfindigen Überlegungen vergrault zu haben, und dachte weiter, dass sowohl gefangen nehmen als auch gefangen halten das Gegenteil von frei lassen sein kann, denn jemanden frei lassen kann sowohl bedeuten, ihn oder sie in die Freiheit zu entlassen, aber auch ihn oder sie in der Freiheit zu belassen. Insofern hatte mein Vater völlig recht, Freilassing Gefangenhalting und nicht Gefangennehming zu nennen, und ich fühlte mich schuldig, ihn dazu veranlasst zu haben, in den Keller zu gehen und dort Bier zu trinken.

Freilassing blieb ein Reizthema zwischen meinen Eltern. Als kleiner Bub war ich auf der Seite meines Vaters: Ich liebte es, an den Hängen des Stoissbergs herumzustreifen, in den Wäldern Hütten zu bauen oder kleine Wasserläufe aufzustauen, und ich wünschte mir sehnlichst, nicht nur am Stoissberg, sondern auf dem Stoissberg zu wohnen. Was sollte ich in Freilassing?

Je älter ich jedoch wurde, desto mehr schlug ich mich auf die Seite meiner Mutter. Freilassing wurde immer interessanter, mit seinen Läden und Menschen und Mädchen. Mit seiner Nähe zu Salzburg, das man von dort mit dem Zug in ein paar Minuten erreichen kann. Wäre nicht die künstlich gezogene Staatsgrenze zwischen Deutschland und Österreich, wäre Freilassing quasi ein Teil der Stadt Salzburg, eine westliche Vorstadt. Immer öfter wollte ich mitkommen zum Einkaufen nach Freilassing, und wenn wir wieder nachhause fuhren, wollte ich am liebsten dort bleiben. In Anger, an den Hängen des Stoissbergs, gefiel es mir immer weniger, und mein Vater wurde sehr unglücklich darüber, dass ich nicht mehr mit ihm an den Hängen des Stoissbergs umherstreifte, sondern nach Freilassing fuhr, sooft ich nur konnte.

Einmal, ich war gerade dabei, mein Fahrrad zu schnappen und nach Freilassing zu radeln, schnauzte mich mein Vater in seiner Verzweiflung an, warum ich denn schon wieder in dieses Drecksnest fahre. Weil ich mich in Freilassing frei gelassen fühle, und nicht wie hier gefangen gehalten, schnauzte ich zurück. Die Dinge hatten sich gedreht. Was für meinen Vater Gefangenhalting war, war für mich Freilassing und umgekehrt.

Ich spüre noch die Luft, die mich umwehte, als ich nach Freilassing radelte, während mein Vater in den Keller verschwand, um Bier zu trinken.

Guardian Angels, oh, Protect Me!

Im Morgengrauen verließ ich unser Chalet, um zu gehen. Gehen beruhigt mich. Ich ging den Hang hoch, Schritt für Schritt das Schneefeld überwindend, mit bedächtigem Rhythmus. Ab und zu pausierte ich. Schaute nach Osten, wo sich die Sonne immer mehr dem Horizont näherte. Schaute nach unten, auf das Chalet, unter dessen Dach du noch schliefst, während ich unruhig dem Morgen entgegenwanderte. Ich war stolz, dass wir unter einem Dach übernachtet hatten. Nicht in einem Zimmer, schon gar nicht in einem Bett, Aber immerhin unter einem Dach.

Oben auf dem Gipfel blickte ich auf das weite Land unter mir. Ich hatte Angst mich zu verlieren in dieser himmlischen Weite. Eilig hastete ich hinunter, zum Chalet zurück. Seltsam, dass ich glaube, mich bei dir zu finden.

Im Frühstücksraum setzte ich mich an einen Tisch, und als du kamst und mich sahst, setztest du dich an einen anderen Tisch. Deine Misshandlung tat mir weh. Ich stand auf und ging ins Freie. Nach einer Weile hörte ich, wie sich hinter mir leise die Tür öffnete. Ich spürte dich.

„Hast du gut geschlafen?“ fragte ich dich, ohne mich umzudrehen.
„Ja.“
„Das freut mich.“

Ich nahm die Rodel und stürzte mich ins Tal. Du nahmst den sicheren Weg zu Fuß. Unten setzte ich mich auf einen Stein und wartete auf dich. Du brauchtest lange, aber ich wartete auf dich. Als du kamst, gingst du an mir vorbei und stiegst ins Auto.

Ich sah dem Auto nach, das du ins Tal steuertest. Ich war drauf und dran, mich wegzuwerfen. Aber ich war am Sattel, die Berge ringsherum. Nirgends steil genug, um mich wegzuwerfen. Starr schaute ich in die Sonne. Ich wusste nicht weiter. Gehen schien keine Option mehr.

Da kam das Auto zurück. Du stiegst aus, und zu meiner Überraschung überraschte es mich nicht. Wir gingen los und suchten unseren gemeinsamen Rhythmus. Wir taten uns schwer. Wir setzten uns.

„Ich habe überhaupt nicht geschlafen letzte Nacht“, sagtest du, „ich habe kein Auge zugetan.“
Ich sah dich an und sah deine Erschöpfung. Ich hatte dich noch nie so schön gesehen, so offen und frei.

„Warum verlässt mich jeder?“ sagtest du und schautest zum Himmel: „Ich muss geliebt werden. Ich kann mich selbst nicht lieben.“

Ich hörte den Gesang in deiner Stimme. Ich spürte, wie du dich findest in deinem Schmerz. Wie du beginnst, dich zu lieben. Ich weiß nicht, war ich der Oboist, der deinen Gesang untermalte, oder der Lautenist, der dich mit sanftem Rhythmus begleitete. Jedenfalls hatte ich etwas gefunden, was ich nur durch dich finden konnte.

Das Lied vom sonnigen Sonntag

Valentin, der sich auch Karl nennt, ist ein Freund von mir, der sich der gesellschaftskritischen Kleinkunst verschrieben hat. Doch es ist nicht leicht, sich der gesellschaftskritischen Kleinkunst zu verschreiben, sagt Valentin, denn die Leute wollen mich nicht leben lassen, wenn ich sie kritisiere.

Am meisten, sagt Valentin, hasse er die Sonntage, denn da haben die Leute Zeit und tragen ihre Neurosen, die er an ihnen kritisiert, spazieren. An Sonntagen tritt ihm die Gesellschaft so geballt gegenüber und überfordert ihn, und er muss sich nur noch über sie aufregen und ist nicht mehr fähig, sie konstruktiv zu kritisieren.

Er geht deshalb an Sonntagen nicht in den Stadtpark, wo er sich sonst gerne aufhält, denn dort lungern am Sonntag die Leute aus der Stadt herum. Sie wollen sich von ihrem neurotischen Leben entspannen und bringen doch nur ihre neurotische Anspannung mit. Und sie bringen ihre Hunde mit, sagt Valentin, und ein Hund, der in der Stadt lebt und keine natürliche Aufgabe habe, entwickle zwangsläufig eine Neurose, sagt Valentin, und außerdem nehme der Hund die Neurosen seiner Halter an. Ein Stadthund leide also an einer Doppelneurose: an einer Umgebungs- und an einer Halterneurose, sagt Valentin.

Nun ist es jedoch so, dass in der kalten Jahreszeit die Sonnenstunden rar sind und Valentin deshalb im Winter auch an einem Sonntag, wenn er schon sonnig ist, in den Stadtpark gehen möchte. Er hat deshalb beschlossen, seinen Frieden mit der neurotischen Gesellschaft zu schließen. Diesen Frieden will er mit einem Ritual schließen. Er hat ein Lied zum sonnigen Sonntag komponiert und will es im Stadtpark vortragen. Dazu tragen ich und weitere Freunde von Valentins Kleinkunst eigens sein Piano von seiner Wohnung in den Stadtpark. Dick eingepackt wegen der winterlichen Temperaturen schwitzen wir in der tiefen Wintersonne, aber Valentin ist wildentschlossen, sein Ritual durchzuführen. So schleppen wir ächzend und stöhnend das Piano weiter. Endlich angekommen, bauen wir das Piano im Amphitheater des Stadtparks auf. Um ums herum setzt der übliche Sonntagstrubel ein. Leute spazieren zuhauf vorbei und starren neugierig auf das Piano. Valentins Friedensbeschluss mit dem sonnigen Sonntag beginnt zu bröckeln, und als schließlich ein Hund das Piano laut bellend anbrüllt, befiehlt Valentin, das Ritual abzubrechen und das Piano wieder nachhause zu tragen. Alles Zureden hilft nicht: Nach einiger Zeit machen wir uns wieder auf den Weg und schleppen das Piano zurück in Valentins Wohnung.

In seiner Wohnung hat Valentin ein kleines permanentes Auditorium aufgebaut, wo er Probekonzerte seiner Werke für den engeren Bekanntenkreis gibt. Wir ermunteren ihn, sein Lied zum sonnigen Sonntag für uns zumindest hier vorzutragen. Nach anfänglichem Zögern stimmt er zu, doch hat Elisabeth, die sich auch Karlstadt nennt, wie zum Hohn einen Hund mitgebracht:

München für Gscheidhaferl: Wieso heißt das Sendlinger Tor Sendlinger Tor?

Das Sendlinger Tor ist die südliche Begrenzung der Münchner Altstadt. Von dort führt seit jeher ein Weg ins ehemalige Bauerndorf Sendling. Der Weg heißt heute Lindwurmstraße und das ehemalige Bauerndorf ist heute ein Stadtbezirk Münchens.

Im 14. Jahrhundert, als das Sendlinger Tor gerade errichtet worden war, ging ein junger Mann aus Sendling den Weg entlang nach München, so erzählt es die Legende. Als er am Sendlinger Tor angelangt war, begehrte er vehement Einlass in die Stadt, aber die Wachen ließen ihn nicht hinein. Er sagte, er habe das Landleben satt und wolle Städter werden, aber die Wachen blieben standhaft. Da begann er so laut zu jammern und zu klagen, dass es in der ganzen Stadt zu hören war.

König Ludwig der Bayer war gerade in der Stadt anwesend und ließ sich, weil es nicht aufhörte, zum Ort des Jammern und Klagens bringen. Dort angekommen, hielt sich der König die Ohren zu ob des ohrenbetäubenden Lärms und fragte seine Begleiter: „Was ist denn das für ein Tor?“
„Das, Majestät“, erwiderte einer der Begleiter, „ist das auf Ihren Auftrag hin errichtete Sendlinger Tor, und die jammernde und klangende Person davor ist ein Sendlinger Tor, oder, besser gesagt: der Sendlinger Tor, der stadtbekannte Sendlinger Tor. Er kommt aus dem Dorfe Sendling südlich der Stadt: Er ist ein Dummkopf, ein Narr, ein einfältiger Mensch, ein behinderter, nicht zurechnungsfähiger, wie man an seinem unbesonnenen Handeln sieht.“
„Sendlinger Tor“, konkludierte der König nachdenklich und meinte weiter: „Bewundert die von mir errichteten Tore, aber unterschätzt mir die Toren nicht. Ein Lob der Torheit!“
Dann ließ er sich wieder in die Stadt bringen.

Und so heißt das Sendlinger Tor nicht nur so, weil es ein Tor ist, sondern weil ein Tor aus Sendling, der Sendlinger Tor, dort so laut jammerte und klagte, dass sogar der König erschien.

Trotzdem gefahren

Jeder sagte
ich solle nicht
zum Verfahren fahren
die Straßen
seien voller Gefahren
und nicht zu befahren

Sie sagten:
Lass das Verfahren
fahren

Ich bin
trotz aller Gefahren
gefahren
nur um mich
auf dem Weg zum Verfahren
zu verfahren

Welt Wer Worte