München, Westendstraße (Teil 3/3)

auf den Spuren von Grete Trakl

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, ging mit der Dame aus Salzburg weiter die Westendstraße entlang. Sie gingen an Hochhäusern und Verwaltungsgebäuden vorbei. Rechts von ihnen tat sich eine recht trostlose Brache auf. Eine Durststrecke, die sie größtenteils mit Schweigen überbrückten. Schließlich erreichten sie bewohntes Gebiet, das sich beiderseits der Westendstraße erstreckt und von einer Trambahn erschlossen wird. Friedenheim heißt dieses Gebiet. Oskar gefällt dieser Name. In der nun wieder etwas heimeligeren Atmosphäre fasste er sich ein Herz und fragte die Dame aus Salzburg: „Wie heißen Sie?“

„Was tut das zur Sache?“ wehrte die Dame brüsk Oskars Frage ab. „Wir sind hier wegen Grete Trakl und nicht wegen mir. Glauben Sie ja nicht, dass sich mich verführen können! Wir teilen eine Leidenschaft für die Trakls, diese tragischen Geschwister, aber nicht mehr!“

Diese Direktheit hatte Oskar nicht erwartet. Er wünschte sich, nach dieser abweisenden Erwiderung seiner Frage seitens der Dame, nichts sehnlicher herbei als seine Einsamkeit. Er richtete seinen Blick nach vorne und stellte zu seinem Entsetzen fest, dass die Westendstraße einen weiteren Knick nach Süden vollführt, sich also endgültig von ihrer westlichen Bestimmung abwendet. Sie verliert sich nun vollends in der weiten Unordnung der Welt und trudelt ordnungs- und richtungslos ihrem Ende entgegen. Mit einem letzten Kraftakt überquert sie die Autobahn und ergießt sich schließlich, wie ein Fluss, der seine Ufer verliert, in den Münchner Westpark.

Mit einem letzten Kraftakt überquert die Westendstraße die Autobahn, bevor sie sich in den Westpark ergießt

Mit einem letzten Kraftakt überquert die Westendstraße die Autobahn, bevor sie sich in den Westpark ergießt

Gibt es eine Rettung aus dieser uferlosen Wirrnis, in die Oskar mit der Dame aus Salzburg hineingeraten ist? Wie eine reissende Flut will die Westendstraße die beiden in den Westpark hineinspülen. In dieser Not spürt Oskar plötzlich eine Verbundenheit mit der Dame aus Salzburg. Er packt ihren Arm und rettet sich mit ihr in einen kleinen Weg, der rechts abbiegt und sie in den Schutz hoher Bäume bringt. Oskar ist froh, nicht im Westpark zu ertrinken und atmet erleichtert auf, während die Dame etwas pikiert ihren Arm von Oskars Griff befreit. Dunkel führt der Weg sie nun durch die Bäume hindurch. Plötzlich taucht eine Lichtung auf, auf der ein altes, großes Gebäude zu schlafen scheint. Die Dame aus Salzburg sieht Oskar mit großen Augen an, aber Oskar bringt kein Wort heraus. Seine Augen werden genauso groß wie die der Dame, als er auf das Gebäude auf der Lichtung sieht, so überraschend kam es in seinen Blick.

„Wohin führen Sie mich? Ich habe Angst!“ ruft die Dame.

„Schauen Sie! Schauen Sie! Hier ist sie, die Kuranstalt Neufriedenheim für nerven- und gemütskranke beider Geschlechter. Schauen Sie doch, wie Ernst Rehm mit Grete Trakl aus der Tür kommt und sie in den Garten führt!“

Ehemalige Heilanstalt Neufriedenheim

Ehemalige Heilanstalt Neufriedenheim

Oskar dachte kurz daran, dass es nun viel besser wäre, seine Einsamkeit aufzusuchen und die Dame aus Salzburg zu verlassen. Sich wie die Westendstraße in den Westpark zu ergießen und sich in den grünen Weiten zu verlieren. Wieso war er mit ihr in den Waldweg zu dieser Lichtung geflüchtet? Wieso war er nicht vor ihr geflüchtet? Ohne weiter nachzudenken, zu seiner eigenen Überraschung, packte er die Dame an den Schultern, drückte seinen Mund an ihr Ohr und sagte: „Margarethe, ich liebe Sie!“ Was tat Oskar da? Er erschrak vor seinen eigenen Worten. Würde ihm seine Einsamkeit jemals wieder Schutz bieten, wenn er sich so unvorsichtig verhält?

Die Dame aus Salzburg blieb regungslos stehen und starrte auf das Gebäude auf der Lichtung vor ihnen. Ohne sich zu Oskar umzudrehen, ohne darüber überrascht zu sein, dass Oskar sie Margarethe nannte, sagte sie: “ Sagen Sie bitte dich, nicht Sie. Ich liebe dich. Denn das sagte Georg Trakl auch zu seiner Schwester: Ich liebe dich! Aber er nannte sie Grete, nicht Margarethe. Grete nannte er sie.“ Sie löste sich aus Oskars Umklammerung, was Oskar, wie paralysiert vom Moment, ohne Widerstand geschehen ließ. Sie kletterte über den Zaun und ging auf das Gebäude zu. Oskar vernahm jeden ihrer Schritte, er spürte, wie das Gras unter ihren Füßen wogte. Sie war ein weißer Engel, von hellem Licht umgeben. Es waren hundert Jahre vergangen, seit Grete Trakl hier gewesen war, und trotzdem hätte er schwören können, dass er Grete Trakl über das Gras gehen sah. „Grete!“ sagte Oskar, so als hätte ihm ein inneres Drehbuch das vorgeschrieben.

Kurz bevor Grete das Gebäude erreichte, sank sie mit ihren Knien auf das Gras und fing bitterlich zu weinen an. In das Weinen mischte sich das Rascheln der Blätter an den Bäumen, das Oskar wie süße Musik vernahm. Er fragte sich, ob man gemeinsam einsam sein kann. Hatte er nun seine Einsamkeit wieder gefunden? War er noch Oskar, oder war er Georg Trakl? Wo war Ernst Rehm? Kann er denn nicht helfen? Nein, niemand kann helfen, in dieser Einsamkeit des Moments, weil der Moment geschieht, ohne Hilfe zu brauchen. Er sah auf den weißen Engel, der im hellen Licht im Gras kniete: Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung…

Heilanstalt Neufriedenheim
Frühling der Seele

München, Westendstraße (Teil 2/3)

auf den Spuren von Grete Trakl

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, hatte sich gewissenhaft auf den Besuch der Dame aus Salzburg vorbereitet. Er hatte recherchiert, über Grete Trakl und ihre Zeit in München. Er hatte eine Route erdacht, die ihn und die Dame aus Salzburg auf die Spuren von Grete Trakl bringen sollte.

Die Dame aus Salzburg stieg aus dem Zug. Als sie Oskar am Bahnsteig erblickte, sagte sie zu ihm: „Kommen Sie ja nicht auf die Idee, mich in die Innenstadt zu verführen. Ich bin wegen Grete Trakl hier, und wegen sonst niemandem!“

„Selbstverständlich, gnädige Dame, wir werden uns sofort auf den Weg machen, mit einer Zielgerichtetheit, als wäre Bruder Georg darselbst auf dem Weg zu seiner geliebten Schwester.“

Oskar führte die Dame vom Münchner Hauptbahnhof stadtauswärts, zur sogenannten Theresienhöhe.

„Sie sollen mich auch nicht zur Theresienwiese verführen! Ich bin dem Bier nicht zugeneigt, und das Oktoberfest ist bereits vorbei!“

„Keine Sorge, gnädige Dame!“ erwiderte Oskar. „Dies ist die Theresienhöhe, nicht die -wiese. Die Theresienhöhe ist ein äußerst würdiger Startpunkt für unsere heutige Wanderung zu den Spuren Grete Trakls.“ Oskar zeigte auf ein paar Bäume, hinter denen sich ein großes, mit roten Backsteinziegeln erbautes Haus versteckt. „Ich darf Sie auf das Wohnhaus von Georg Hauberrisser hinweisen, dem Erbauer des neugotischen Münchner Rathauses…“

Am Hauberrisser-Haus

Am Hauberrisser-Haus

„Ich sagte Ihnen, Sie sollen mich nicht in die Innenstadt verführen!“

„Nein, gnädige Dame…“

„Wieso erwähnen Sie dann das neugotische Münchner Rathaus?“

„Weil Georg Hauberrisser, der Architekt, der es geplant hatte, hier sein Wohnhaus hatte, und die angrenzende Wiese dieses Wohnhauses liegt am Beginn der Westendstraße, die uns zu den Spuren Grete Trakls führen wird.“

„Das muss ein Säufer gewesen sein, dieser Hauberrisser, wenn er direkt an der Theresienwiese sein Wohnhaus baut!“

„Höhe, gnädige Dame, Höhe!“

„Wie?“

„Theresienhöhe, nicht Theresienwiese!“

„Wie auch immer. Lenken Sie nicht weiter ab, verführen Sie mich weder in die Innenstadt noch auf die Theresienwiese, sondern führen Sie mich endlich zu den Spuren Grete Trakls!“

Oskar tat sich ein wenig leid, dass er seine Einsamkeit geopfert hatte, seine Einsamkeit, in der er sich hemmungslos seinen Träumereien hingeben konnte, um die Dame aus Salzburg zu den Spuren Grete Trakls zu führen. Wie heißt die Dame überhaupt? Jetzt war der falsche Zeitpunkt, das zu fragen. Sie gingen schweigend die Westendstraße entlang, die fast schnurgerade nach Westen führt. Sie gingen vorbei an der Augustinerbrauerei, an alten Häusern, die Oskar gerne genauer betrachtet hätte, aber die Dame aus Salzburg ging zügigen Schrittes voran. Kleine Irritationen ergaben sich, als sie den Mitteren Ring überqueren mussten, der das historische Ensemble unsanft unterbricht. Verkehr rollt von oben und von unten. Doch sie behielten ihr Schweigen bei, betrachteten den kleinen Schlenker den sie machen mussten als ungeschehen und bogen wieder in die Westendstraße ein. Sie erreichten das westliche Ende des Westends, dort wo München früher definitiv endete. Die Westendstraße weiß, dass sie hier das Ende ihrer Bestimmung erreicht hat. Sie muss hier enden! Doch sie tut es nicht! Sie macht stattdessen einen halbherzigen halben Knick nach Süden. Wie ein gerupfter Hahn verliert sie dabei ihre beiderseitige Bebauung und führt Oskar und die Dame aus Salzburg in eine wenig verlockende Vorstadtgegend. Westendstraße, weißt du denn nicht, dass man aufhören soll, wenn es am schönsten ist? denkt sich Oskar. Was treibt dich weiter? Größenwahn? Unvernunft?

Die Westendstraße an ihrem Knick nach Südwesten

Die Westendstraße an ihrem Knick nach Südwesten

„Wohin verführen Sie mich jetzt?“ sagte die Dame aus Salzburg empört. „Glauben Sie, Georg Trakl hätte jemals einen Fuß in diese abstoßende Gegend gesetzt?“

„Das weiß ich nicht, gnädige Dame, aber es geht doch nicht um Georg, sondern um Grete. Und diese Straße führt uns direkt zu den Spuren von Grete.“

Der Name Grete Trakl übte eine derartige Faszination auf die Dame aus Salzburg aus, dass sie ihre Beschwerden sofort aufgab und willig mit Oskar weiter die Westendstraße entlangging. Oskar dachte, dass die Westendstraße nun nach Südwesten in ein völlig zweckentfremdetes Dasein führt, aber er beschloss, dies zu akzeptieren, denn die Ordnung, die sich die Menschheit auferlegt, wird immer eine unvollkommene sein, solange die Menschheit nicht willens und fähig ist, sich eine vollkommene Ordnung zu geben. Im übrigen sprach er die Westendstraße frei von jeder Schuld, denn er hatte den Verdacht, dass böse, die Unordnung beschwörende Menschen die Westendstraße nicht am Ende des Westends enden, sondern sie zweckentfremdet nach Südwesten weitertrudeln ließen.

Sie gingen also weiter, zügigen Schrittes, auf den Spuren von Grete Trakl…

 

Fortsetzung folgt

München, Westendstraße (Teil 1/3)

auf den Spuren von Grete Trakl

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, kann bezeichnet werden als ein Mensch, der die Dinge des Lebens mit sich alleine ausmacht. Das hat er selbst noch nie so gesagt oder gesehen, doch beim Rückblick auf sein mittlerweile nicht mehr ganz junges Leben kommt man nicht umhin, diesen Eindruck bestätigt zu finden. Sein Umgang mit anderen Menschen ist ein äußerst sparsamer, er vermeidet ihn, soweit es geht, und wenn er unvermeidlich ist, gestaltet er ihn äußerst distanziert. So hat er auch seinen Ausflug nach Salzburg, den er vor einigen Wochen unternommen hat, alleine mit sich ausgemacht. Er hat sich in den Zug gesetzt, dabei einen Gedichtband von Georg Trakl in der Hand haltend, und ließ die Landschaft des Alpenvorlands an sich vorbeiziehen. In Salzburg stieg er aus dem Zug, studierte den Stadtplan, um sich eine Route zu ersinnen, besichtigte einige Gebäude, die ihm kunsthistorisch von Interesse erschienen, ehe er sich im Café Bazar niederließ, um sich dort weiter in die Gedichte von Georg Trakl zu vertiefen.

Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung, las Oskar gerade, als er eine Frauenstimme neben sich vernahm, die zu seiner großen Verwunderung ihre Rede an ihn richtete.
„Sie lesen Trakl!“ sagte sie.
„Ja“, sagte Oskar, und ehe er weiteres sagen konnte, hatte die Dame einen Stuhl zurechtgerückt und sich zu ihm an den Tisch gesetzt.
„Lesen Sie weiter. Lesen Sie mir vor!“ sagte die Dame. Etwas unschlüssig blickte Oskar auf die vor ihm aufgeschlagene Seite. Wie konnte er diese unzulässige Störung seiner Einsamkeit unterbinden? Er blickte auf, in die Augen der Dame, die gegenüber von ihm Platz genommen hatte, und vergaß die Wichtigkeit seiner Einsamkeit. Er ließ seinen Blick wieder auf die vor ihm aufgeschlagene Seite fallen und las laut weiter:

Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung
des Waldes und Mittag war und groß das Schweigen des Tiers
Weiße unter wilder Eiche, und es blühte silbern der Dorn.
Gewaltiges Sterben und die singende Flamme im Herzen…

„Das ist aus Frühling der Seele„, sagte die Dame. „Wunderschön! Wie Trakl darin die Liebe zu seiner Schwester beschwört! Was sagen Sie dazu?“

Oskar dachte kurz an seine Einsamkeit, die er verloren hatte, die Einsamkeit, die ihn noch vor wenigen Momenten vor solchen Fragen beschützt hätte. Er hielt den Gedichtband in der Hand, der ihm auch keinen Halt bot, und sagte nur: „Die Liebe zu seiner Schwester?“

„Ja, die Liebe zu seiner Schwester Grete. Es ist doch ein offenes Geheimnis, dass Trakl seine Schwester liebte, in abgöttischer Weise. Bis zu welchem Ausmaß, ich meine auch körperlich, weiß niemand, aber er liebte sie abgöttisch.“

„Körperlich?“

„Ja, vielleicht. Es wird gemunkelt, dass Grete von Georg schwanger war. Inzest also. Faszinierend, auf eine gewisse Art, die Beziehung der beiden!“

Oskar war sprachlos ob der Gesprächigkeit der Dame. Wo war seine Einsamkeit, die ihn in Ruhe hier im Café Bazar in Salzburg sitzen lässt? Stattdessen ließ er sich entlocken, dass er in München wohnhaft ist, woraufhin die Dame einen Schrei der Entzückung von sich ließ, denn Grete Trakl habe ein sehr entscheidendes Jahr ihres kurzen Lebens in München verbracht, als noch einmal Hoffnung aufkeimte in ihr. Ernst Rehm hätte sie retten können, aber er hat sie nicht gerettet, wie überhaupt Männer so tun, als ob sie Frauen retten könnten, aber sie können es nicht, Frauen könnten sich nur selbst retten, meinte die Dame.

Oskar spürte Unbehagen, dass ihn die Dame aus Salzburg über das Leben belehrte. Grete Trakl? Ernst Rehm? Er wollte sich zurückziehen, um seine Gedanken zu ordnen, um seine Welt wieder in Ordnung zu bringen. Gleichzeitig spürte er, dass er seine Einsamkeit unwiederbringlich verloren hatte, und so versprach er der Dame, sie in ein paar Wochen in München empfangen zu wollen und sich mit ihr auf die Münchner Spuren von Grete Trakl zu begeben. Danach setzte er sich in den Zug nach München, mit einem ihm unbekannten Gefühl. Er schlug den Gedichtband auf und las die Zeilen immer wieder: Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung…

Grete Trakl
Ernst Rehm

 

Fortsetzung folgt

 

Gelzer und Gürzer und das versteinerte Geld

Was bisher geschah:
Gelzer und Gürzer (Teil 1)
Gelzer und Gürzer und das verlorene Geld (Teil 2)

Gürzer, der Wohlhabende, will endlich leben, während Gelzer, der Einfache, endlich Geld haben will…

Gelzer und Gürzer sitzen auf den Steintreppen vor dem Eingang zu Gürzers Villa. Es ist wie früher. Scheinbar. Gelzer hat Gürzer schon oft besucht in seiner Villa, und Gürzer hat ihn dabei immer auf den Steintreppen der Villa empfangen. Aber es ist anders als früher. Denn früher haben sie nie auf den Steintreppen gesessen, sondern sind ins Haus oder in den Garten gegangen.

Es hat sich nichts verändert, die Villa ist diesselbe. Aber die Veränderung liegt in der Luft: Gürzers Villa ist versteinertes Geld. Gelzer hat Gürzers gesamtes bares, flüssiges Geld verloren. Jetzt, ohne flüssiges Geld, wird das versteinerte Geld zu bröckeln beginnen, denn es braucht flüssiges Geld, um das versteinerte Geld zu erhalten. Oder das versteinerte Geld muss sich auflösen, um flüssiges zu werden. Wie gelähmt sitzen Gelzer und Gürzer auf den Steintreppen vor dem versteinerten Geld in Form der Villa, durch den Verlust des baren, flüssigen Geldes scheinbar all ihrer Handlungsmöglichkeiten beraubt.

„Ich habe immer gehabt. Ich habe immer Geld gehabt“, sagt Gürzer, „und mein Ziel war es immer, zu sein. Das Haben hat mich gefangen genommen, sodass ich glaubte, nicht mehr zu sein. Deshalb habe ich dir mein gesamtes bares, flüssiges Geld gegeben, mein Haben, weil ich mir erhoffte, mehr zu sein, wenn ich mich der Bürde des Habens entledige.“

„Du hast doch noch immer. Du hast deine Villa!“ entgegnet Gelzer.

„Das stimmt. Ich sollte konsequenter sein. Ich sollte dir auch meine Villa geben, mein gesamtes Vermögen, nicht nur mein bares Geld, das ich dir ja schon gegeben habe.“

Gelzers Augen leuchten: Ein Verkauf der Villa, also eine Auflösung des versteinerten Geldes in bares, flüssiges, würde sie beide, Gürzer und ihn, finanziell wieder sanieren! Das Haben ist immer Gelzers Ziel gewesen, ganz im Gegensatz zu Gürzer, und deshalb hat er Gürzer immer verehrt in seiner habenden Existenz. Doch das Leuchten in seinen Augen weicht augenblicklich einer für ihn ungewohnten Nachdenklichkeit: Er war vor kurzem unverhofft in Besitz von Gürzers gesamtem Geld gekommen, durch die Idee Gürzers, ihm sein gesamtes Geld zu geben, eine Idee, die er immer noch nicht versteht. Das Denkmal Gürzer hat sich seines Habens entledigt und sich selbst gestürzt. Aber wie auch immer, er hatte plötzlich Geld im Überfluss, er hatte Haben im Überfluss, doch weil er vom Haben nicht genug bekommen konnte, wollte er es vermehren. Mit dieser Habsucht hat er das gesamte Haben ebenso schnell wieder verloren, wie er es gewonnen hatte. War er zum Haben nicht geeignet? Mitten in diese Nachdenklichkeit durchzuckt ihn wie ein Blitz die Faszination des Habens, des Besitzes, des Geldes, ein für ihn vertrautes Gefühl. Er spürt seine Erregung darüber und sagt zu Gürzer:

„Ja, gib mir deine Villa! Ich werde sie verkaufen und wir beide haben wieder Geld.“

Während also Gelzer zu dem schlussendlich nicht überraschenden Entschluss gekommen ist, Gürzers Villa haben zu wollen, ist Gürzer mittlerweile nicht mehr überzeugt von seiner Idee, Gelzer seine Villa zu geben. Ihm wird unbehaglich bei dem Gedanken, Gelzer seine Villa zu geben. Er sagt zu Gelzer: „Die Lösung für mein Sein kann nicht dein Haben sein. Oder ist die Lösung für mein Sein dein Haben? Sein oder Haben, ist das hier die Frage?“

„Ohne Haben sind wir nicht: Wir verhungern, wir erfrieren, wir sterben, ohne Haben. Haben ist die Voraussetzung für das Sein. Ich habe, seit ich lebe, Angst, dass ich ohne Haben nicht bin.“

„Und deshalb hast du ohne Not mein ganzes Geld verbraten? Ich habe dir Haben in Hülle und Fülle gegeben, doch du willst offensichtlich nur sein, sonst hättest du mein Geld, dass ich dir anvertraut habe, nicht so rücksichtslos verbraten. Ich werde dir meine Villa nicht geben!“

Betreten blickt Gelzer zu Boden, wie ein Diener, der von seinem Herrn gemaßregelt wurde.

Gürzer sitzt auf der Steintreppe und spürt Unbehagen. Er spürt die Veränderung in der Luft. Zu viel frische Luft dringt plötzlich in seine Lungen. Er steht auf, kehrt Gelzer den Rücken und flüchtet in seine Villa, in sein versteinertes Geld. Er schlägt die Tür hinter sich zu. Er ist zornig auf Gelzer, dass dieser so brav gelernt hat, dass scheinbar nichts so viel zählt wie der schnöde Besitz, der Reichtum, das Geld, das Haben; dass man ohne Haben nicht ist, wie er es ausgedrückt hat.

Er fühlt sich unfähig zu sein. Sein Haben hat er verloren, weil er sein Geld dem nichtsnützigen Gelzer anvertraut hat. Er fühlt sich schwach, lehnt sich an eine der Mauern seiner Villa, an einen Teil seines versteinerten Geldes. Wie lange werden diese Mauern noch halten, bis sie zu bröckeln beginnen?

Inszenierung des Lebens

Die Rollen in dem nun folgenden Schauspiel sind klar verteilt: Das Leben ist der Stierkampf, ich bin der Stierkämpfer. Um mich auf meine Rolle vorzubereiten, haben sie mir einen Holzverschlag gebaut. Sie sagen, ein Stier sei etwas Gefährliches. Wer sagt das? Die das sagen, sind das dieselben, die mir den Holzverschlag gebaut haben? Wollen die, die den Holzverschlag gebaut haben, mich beschützen vor dem Leben oder abhalten vom Leben? Habe ich den Holzverschlag selbst gebaut? So klar die Rollen sind, so unklar ist die Inszenierung.

Ich fühle mich nicht bereit für das Leben, denn sein Erscheinen als Stierkampf schüchtert mich ein, obwohl ich noch keinen Stier gesehen habe. Ich verkrieche mich hinter dem Holzverschlag. Es ist dunkel, nichts zu sehen, nur die Maserung des Holzes vor meinen Augen. Ich bekomme Angst. Bekomme ich Angst wegen dem Holzverschlag, weil durch ihn das Leben, das sich auf der anderen Seite befindet, eine unsichtbare Bedrohung wird? Oder hätte ich ohne den Holzverschlag noch viel mehr Angst? Ich stelle mir die bedrohlich schauenden Augen eines Stiers vor. Ich schmiege mich an das Holz. Ich rieche sein Aroma. Der Geruch betört mich. Ich vergesse das Leben, diesen bedrohlichen Stierkampf, so betört bin ich vom Geruch des Holzes. Ich bin Holzschnüffler statt Stierkämpfer, während auf der anderen Seite des Holzes das Leben weitergeht. Wie ist das Leben auf der anderen Seite des Holzes? Sind die Stiere schon wild, weil ich mich nicht zeige? Sie sagen, Stiere seien immer wild, zu allem bereit. Ich schnüffle weiter am Holz, um meine Angst zu bändigen. Ich glaube zu bemerken, dass ich, je länger ich am Holz schnüffle, desto weniger mit dem Leben zu tun habe. Trotzdem schnüffle ich wie ein Süchtiger am Holz herum. Deswegen schnüffle ich wie ein Süchtiger am Holz herum. In jedem Fall, ob trotzdem oder deswegen, schnüffle ich wie ein Süchtiger am Holz herum. Während meiner wilden Schnüfflerei ahne ich, dass das Leben weitergeht, auch wenn ich nichts mit ihm zu tun habe. Was passiert im Leben? Ich horche, eng an das Holz angeschmiegt. Ich höre Geräusche, die ich nicht einordnen kann. Sind die Stiere wild geworden? Meine Gedanken spielen verrückt. Die Angst kommt wieder, wie ein Blitz durchzuckt sie meinen Körper. Angestrengt horche ich weiter. Alles was ich höre beunruhigt mich. Der Geruch des Holzes, er betört nicht mehr, er ist nur noch schal.

Ich erinnere mich an die Rolle des Lebens: ein Stierkampf. Wenn das Leben ein Stierkampf ist, was ist die Rolle der Stiere in diesem Schauspiel? Sind sie wirklich nur die blutrünstige Fassade, der ich hilflos ausgeliefert bin? Ich sehe die kraftvollen, bulligen Stiere vor meinem geistigen Auge. Ich spüre ihre Kraft, obwohl ich noch nie einen Stier gesehen habe. Ich rieche das Holz nicht mehr. Stattdessen rieche ich Schweiß, Fleisch und Blut, und ehe ich denke, dass ich jetzt wohl mitten im Leben bin, birst das Holz in Stücke. Ein heftiger Einschlag des Lebens, der so nicht im Drehbuch stand.

Ich lebe, trotz dieses Einschlags, das ist erstaunlich. Ich überlege: Es war ein Einschlag des Lebens, denn ich lebe. Wäre ich tot, hätte diesen Einschlag wohl der Tod verursacht. Es war ein Einschlag des Lebens, was jeder Logiker mir wohl bestätigen würde. Der Geruch des Holzes kommt mir wieder in den Sinn, doch ich verfolge ihn nicht weiter. Stattdessen folge ich dem Geruch von Schweiß, Fleisch und Blut. Die Stiere galoppieren herum, und ich bin mitten im Leben, was im Drehbuch wiederum so vorgesehen war. Ich stolpere beinahe über eines der herumliegenden Holzstücke, und ehe ich weiter denken kann, was jetzt wohl geschieht, springe ich geistesgegenwärtig auf einen Stier, halte mich an seinen Hörnern fest und galoppiere mit ihm davon. Ich glaube zu träumen, aber es ist tatsächlich so: Ich sitze auf einem wild galoppierenden Stier. Ist das der Stierkampf des Lebens? Schneller, immer schneller galoppiert der Stier. Die Geschwindigkeit betört mich, wie mich vorhin der Geruch des Holzes betört hat. Doch das ist eine unzureichende Analogie. Der Stier ist mein Freund, er trägt mich durchs Leben. Wie kann das Leben ein Stierkampf sein, wenn der Stier mein Freund ist? Sind die Rollen klar verteilt? Jetzt, wo alles klar ist, ist alles unklar. Die Inszenierung des Lebens nimmt ihren Lauf.

Sonniger Septembertag

Ich sehe Bilder, auf dem Bildschirm. Ich sehe sie jetzt, fünfzehn Jahre später. Sie faszinieren noch immer. Was ist jetzt anders an diesen Bildern als vor fünfzehn Jahren? Glaube ich, jetzt etwas zu wissen über diese Bilder, obwohl ich gar nichts über sie weiß? Ist die Geschichte dieser Bilder jetzt erzählt? Kann man die Bilder jetzt deuten und bewerten? Es sind Bilder, Bilder, Bilder, aufgenommen von Kameras, die mehr oder weniger nahe am Ort des Geschehens waren, vor fünfzehn Jahren.

Ich versuche mir vorzustellen: Die Bilder im Kopf der Menschen im brennenden Gebäude. Die Visionen der hilflosen Menschen in den Stockwerken über den Einschlägen der Flugzeuge. Die Geschichten dieser Menschen, die sie uns nie erzählen werden, weil sie alle gestorben sind. Die Bilder im Kopf der Selbstmordattentäter, als sie mit einer Entschlossenheit in die Zerstörung rasen, mit riesigen Flugzeugen, nicht nur den Tod anderer, sondern ihren eigenen auf schrecklich plakative Weise willentlich in Kauf nehmend.

Ich sehe die ersten Fernsehbilder, nicht die späteren, die sich an Interpretationen und Deutungen versuchen. Ich sehe die ersten live gesendeten Fernsehbilder dieses sonnigen Morgens in New York am 11. September 2001, diese jungfräulichen, unschuldigen, nichtsahnenden Bilder, in deren Verlauf sich die beiden riesigen Zwillingstürme in Schutt und Asche auflösen. Ich höre das Ringen der Kommentatoren um Auflösung der Bilder, die nicht gelingt, weil ein Bild, sobald es gedanklich bearbeitet wird, vom nächsten abgelöst wird. War es ein Flugzeug-Unfall? Mitten in diese Überlegungen kracht das zweite Objekt in den anderen Turm. War es wieder ein Flugzeug? Wenn ja, was für ein Flugzeug? Das kann kein Unfall sein! wird nach dem zweiten Einschlag klar. Wer macht so etwas? Wie geht es den Menschen in den brennenden Türmen? Da stürzt einer der Türme inmitten einer riesigen Aschewolke in sich zusammen. Suche nach Augenzeugen im Chaos. Wer hat die Wahrheit im Blick? Gibt es denn Wahrheit, wenn jeder sie anders erlebt? Was ist die Wahrheit des Mohammed Atta, des ersten Todespiloten, an die er bis zur letzten Konsequenz geglaubt hat, mit der er den Tod über das Leben gestellt hat. Der Tod in Lower Manhattan, herbeigeführt mit menschlicher Energie, die fassungslos macht. Das Leben am Abgrund der Menschheit, die sich selbst vernichtet. Die Sonne scheint noch immer über New York an diesem Septembermorgen, aber nicht für die, die sich im Qualm und Staub von Lower Manhattan befinden.

Kann irgendjemand die Geschichte von 9/11 erzählen? Oder sind es nur die Bilder, die bleiben? Kann die Menschheit das reflektieren und deuten, oder ist sie überfordert damit? Die Welt in Gut und Böse zu teilen war das erste Lösungsmittel, das schon wenige Stunden nach der Katastrophe griff. Ist das die einzige Möglichkeit, diese Bilder zu verarbeiten? Warum sehe ich mir die Bilder an, nach fünfzehn Jahren? Ist das ein Sehnen nach Miterleben mit denjenigen, die dabei waren? Geräusche und Gerüche zu erfühlen und nicht nur Bilder zu sehen, die auf fatale Weise hängenbleiben – sondern Erleben, Durchleben?

Meine persönliche Geschichte ist die eines Liedes: Ich war noch niemals in New York. Mein Kopf ist voller Geschichten, die miteinander konkurrieren. Manchmal glaube ich, mein Kopf ist die ganze Welt. Doch das überfordert meinen Kopf. Ich will meine Gedanken verkleinern und nicht die ganze Welt einbeziehen. Ich will auch nicht die Geschehnisse in Lower Manhattan am 11. September 2001 in meinen Kopf einbeziehen, denn was gibt es an den Bildern zu deuten? In Wahrheit ist es so: Mein Kopf ist bereits überfordert, wenn er sich eine Geschichte ausdenkt und mein Bauch sie nicht gut findet. Mein Bauch bekommt heftige Übelkeit, wenn er eine Geschichte nicht gut findet, die mein Kopf erfunden hat, woraufhin mein Kopf sich dann gerne zurückzieht in sein gekränktes Gehirnstübchen. Ich habe mir also angewöhnt, Geschichten aus dem Bauch zu erzählen, was meinen Kopf dann neugierig macht und ihn aus seinem gekränkten Gehirnstübchen hervorlockt. Mein Kopf sagt: 9/11 – ich will das nicht sehen, ich will das nicht denken. Mein Bauch sagt: 9/11 – ich fühle es irgendwie, die Energie dieses Tages; ich will es erleben, ich will es durchleben. Ist mein Bauch also die ganze Welt und nicht mein Kopf?

Jedenfalls gebe ich dem Gefühl meines Bauches nach und erzähle etwas über 9/11: Es war der Beginn eines sonnigen Septembertages in Lower Manhattan… Ist dann so eine Geschichte entstanden, sind sie zufrieden, mein Bauch und mein Kopf. Aber kaum ist ein Tag vergangen, kommt mein Bauch wieder aus seiner stillen Zufriedenheit und stellt Fragen wie: Was ist das, die Welt? Was bedeutet das alles? Dann erzählt er wieder eine Geschichte, über die Welt und ihre Bedeutung. Denn wir wissen ja: Mein Bauch ist die ganze Welt.

Manchmal bin ich so mutig, die Geschichten, die mein Bauch gedichtet und mein Kopf genehmigt hat, jemandem anderen als mir zu erzählen. Je nachdem, wie sie dann drauf sind, mein Bauch und mein Kopf, während ich die Geschichte erzähle, entsteht jedesmal eine neue Geschichte, denn eine Geschichte von gestern ist heute schon eine andere Geschichte. Was mir beweist, dass nicht die Welt voller Geschichten ist, sondern mein Kopf ihr immer neue andichtet, weil er scheinbar davon besessen ist, dem Leben Bedeutung zu geben. Dabei braucht er doch nur auf den Bauch zu hören, der sagt: Bedeutend ist, was du bedeutend nennst. Oder ist das wieder nur eine Geschichte, die schon morgen ohne Bedeutung ist?

Es war der Beginn eines sonnigen Septembertages in Lower Manhattan…

9/11 CNN Unedited Live Coverage

Anziehangelegenheiten

Vorderbrandner schmunzelt immer nur, wenn ich ihn darauf anspreche. Ich musste die Polizei rufen, sage ich ihm, aber er schmunzelt nur darüber.

Wir waren auf einer öffentlichen Badewiese, Vorderbrandner und ich. Ganz in der Nähe von uns redeten einige Leute auf eine Frau ein, die vollständig verhüllt war und nur durch Schlitze bei ihren Augen mit der Umwelt verbunden war. Die vollständig verhüllte Frau sah aus wie ein Gespenst, weil sie zwar offensichtlich durch die Schlitze nach draußen sehen konnte, ich ihre Augen aber durch die Schlitze nicht erkennen konnte. Die Leute, die auf die verschleierte Frau einredeten, empfanden ihre Vollverschleierung als störend und verlangten von ihr, sich ihres Schleiers zu entledigen. Ich hörte nicht, was sie wortwörtlich zu ihr sagten, aber ihren Gesten war zu entnehmen, dass sie von ihr verlangten, sich ihres Schleiers zu entledigen.

Vorderbrandner, der neben mir saß, hatte die Sache auch mitbekommen. Vorderbrandner befand sich kleidungstechnisch in einem scharfen Gegensatz zur vollverschleierten Frau, denn er war vollständig nackt. Vorderbrandner geht an dieser Badestelle immer nackt baden, wie viele andere auch. Niemand hätte Vorderbrandner beachtet, wie er nackt in der Wiese lag. Doch unvermittelt stand er auf und ging, nackt wie er war, zu den Leuten um die vollverschleierte Frau. Er fragte, ob er helfen könne, den Konflikt, der hier offensichtlich herrsche, zu lösen.
„Du gehst besser, du nackter Saubär!“ sagte einer der Leute zu ihm, woraufhin Vorderbrandner meinte, ob denn jetzt An- oder Ausgezogensein das Problem sei.
„Wie?“ fragte der Mann aus der Gruppe, der ihn als einen nackten Saubären bezeichnet hatte.
„Ihr wollt, dass die verschleierte Frau ihren Schleier auszieht, aber ich, der ich ausgezogen bin, bin ein nackter Saubär. Diesem derben Vokabular entnehme ich, dass ihr wünscht, dass ich mir etwas anziehe.“
„Das ist doch etwas ganz anderes. Misch dich nicht ein und schleich dich!“
Vorderbrandner schleichte sich nicht, sondern sagte, mit einer provozierenden Art, mit der er in solchen Situationen zu Hochform aufläuft: „Ausziehen und anziehen sind für mich sehr verwandte Begriffe, in der Tat, sie bedingen sich gegenseitig.“
„Es geht hier um Grundsätzliches, um eine Ideologie. Nicht ob sich jemand auszieht oder anzieht“
„Ausziehen und anziehen sind sehr grundsätzliche Dinge. Ein Kind zieht sich aus, wenn ihm warm ist, ein Kind zieht sich an, wenn ihm kalt ist. Wo ist da eine Ideologie? Das ist eine pure Notwendigkeit des Lebens, sich aus- oder anzuziehen.“
„Dann frag doch mal die Vollverschleierte, ob sie sich aus purer Notwendigkeit des Lebens ihren Schleier überwirft in dieser Hitze!“
„Es sieht unbequem aus, bei diesen sommerlichen Temperaturen mit einem Vollumhang herumzulaufen. Sie muss schrecklich schwitzen. Ich erkenne in der Tat keine Notwendigkeit, im Gegenteil“, sagte Vorderbrandner, und alle schienen sich einig zu sein. Nur von der Vollverschleierten war nichts zu hören und nichts zu sehen, und sie machte, trotz des einleuchtenden Arguments Vorderbrandners, dass es bei sommerlichen Temperaturen schön sei, sich auszuziehen, keine Anstalten, sich des Schleiers zu entledigen.

Plötzlich kamen Männer auf die Wiese, etwas fremdartig in ihrem Aussehen, für unsere Breiten üblich angezogen (also Gesicht, Hände und Arme nicht bedeckt). Sie suchten wohl die verschleierte Frau, denn sie waren sehr aufgeregt, als sie sie erblickten. Sofort rissen sie sie recht grob an sich. Vorderbrandner mischte sich ein und sagte, sie sollen nicht so grob sein zu der Frau, wo sie doch wahrscheinlich ohnehin furchtbar schwitze unter ihrem Schleier. Er fragte, ob man sie denn nicht erlösen könne, nahm ihren Schleier und hob ihn leicht in die Höhe.

Ich dachte mir: Vorderbrandner, du Kindskopf, lass das! Du bist ein Kind geblieben, aber die meisten anderen – vor allem Männer, die vollverschleierte Frauen suchen – sind verbohrte Erwachsene, die sich hinter ihren Ideologien verstecken. Durch die Ideologie wird Aus- oder Angezogensein zum Problem gemacht, denn ein Problem lässt sich besser kontrollieren als die Welt mit all ihren Möglichkeiten des Aus- und Angezogenseins. Das dachte ich mir, und während ich mir das dachte, hatten sie Vorderbrandner schon zu Boden geworfen, wälzten und rauften sich mit ihm. Der nackte Vorderbrandner im Ringkampf mit den Männern, während die Vollverschleierte regungslos stehenblieb – ein Bild wie ein Krieg. Ich hatte Angst um Vorderbrandner, aber ich war zu ängstlich, mich ins Getümmel zu werfen, um ihm beizustehen. Also rief ich die Polizei. Als ich die Polizei gerufen hatte, war ich unsicher, ob die Polizei eine Hilfe für Vorderbrandner sein würde, denn der nackte Vorderbrandner in diesem Getümmel würde wohl als Erregung öffentlichen Ärgernisses identifiziert werden. Als nackter Saubär eben.

Die Leute, die Vorderbrandner anfangs als nackten Saubären betitelt hatten, kämpften jetzt großteils gegen die Männer, die die vollverschleierte Frau gesucht hatten. Plötzlich, inmitten des Aufruhrs, fiel die Vollverschleierte um wie ein Baumstamm. War sie in der Sommerhitze kollabiert? Niemand der Kämpfenden hatte ihren Zusammenbruch bemerkt, stattdessen wurde unverdrossen weitergebalgt und -gestritten. Vorderbrandner konnte sich unterdessen aus dem Getümmel befreien, lief schnurstracks ans Ufer des Sees und sprang ins Wasser. Ich überlegte, ob ich es wagen sollte, die Vollverschleierte von ihrem Schleier zu befreien oder ob jede Hilfe schon zu spät kam oder ob ich zusätzlich zur Polizei einen Krankenwagen rufen sollte oder ob ich einen der Männer, die die vollverschleierte Frau gesucht hatten, darauf hinweisen sollte, sich nicht weiter zu prügeln, weil die Frau Hilfe benötigt. Oder ob ich dem ganzen Irrsinn, als den ich ihn erlebte, einfach seinen Lauf nehmen lassen sollte.

Die Offenheit des Künstlers

Ich fühlte mich im Sommerloch und saß etwas ratlos vor einem weißen Blatt Papier. Ich sah nach draußen. Ich sah, wie die sattgrünen Blätter der Esche im reifen Sommerwind wogten. Plötzlich klingelte es an der Tür. Ich öffnete, und vor mir stand Grübeldinger aus Salzburg, der Salzburg normalerweise nie verlässt. Zumindest hatte er das bisher immer behauptet. Er fühle sich gezwungen, in Salzburg zu sein, hat Grübeldinger über all die Jahre immer wieder gesagt, es sei Verrat an seinem eigenen Leben, Salzburg zu verlassen. Er sei glücklich und gleichzeitig todunglücklich, immer in Salzburg zu sein und es nie zu verlassen, wobei er meist betonte, dass er glücklich sei, in Salzburg zu sein, aber unglücklich sei über seinen inneren Zwang, es nie zu verlassen. Das Sein in Salzburg mache ihn glücklich, während das Nie-verlassen-können-von-Salzburg ihn unglücklich mache. Es sei aber nunmal seine Pflicht, in Salzburg zu sein. Diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, als Grübeldinger vor meiner Tür stand, dieser Tür, die sich nicht in Salzburg, sondern in München befindet. Ehe ich etwas sagen konnte, sagte Grübeldinger: Ich habe den Künstler in mir entdeckt. Es ist die Pflicht eines jeden Künstlers, offen für die Welt zu sein, und so habe ich beschlossen, von Salzburg nach München zu fahren.

Es gelang mir, Grübeldingers Worte zu vernehmen und sie gleichzeitig zu ignorieren, was eine neue Erfahrung für mich war. Ich konnte diese neue Erfahrung jedoch nicht reflektieren, da ich mich an Grübeldinger vorbeizwängte und mich ins Treppenhaus begab. Die Treppen knarzten unter meinen Füßen, als ich ins Freie stürmte. Ich raste wie entfesselt die Straße entlang und hatte gerade noch Zeit, die sattgrünen Blätter der Pappeln im reifen Sommerwind zu sehen, als mich plötzlich ein Luftzug erfasste und mich nach oben zog. Ich schwebte über den Häusern Münchens und erinnere mich, dass mich eine Angst erfasste, so ganz ohne Boden unter meinen Füßen. Die Angst wich schnell der Begeisterung, denn es war ein schöner Anblick, die Stadt im reifen Sommerlicht unter mir und die Berge in der Ferne glitzern zu sehen. Ich dachte kurz an Grübeldinger, wie er vor meiner offenen Tür steht mit seiner neuentdeckten Offenheit. Zumindest meine Tür steht ihm offen.

Ich blicke nach unten und versuche zu erkennen, was unter mir liegt, doch ehe ich mich weiter damit beschäftigen kann, bin ich auf einem Berggipfel gelandet und erkenne unter mir das einsame Bergahorn, das ich letzten Sommer einmal besucht habe. Freudig schwebe ich zu ihm und lande in seiner Krone. Seine Blätter wogen im reifen Sommerwind. Unter uns erkenne ich einen See, an dessen Oberfläche der Wind kleine Wellen kräuselt. Ich will mich abkühlen im Wasser des Sees und schwebe also weiter, als ich plötzlich meine Schwerelosigkeit verliere und mit einem heftigen Satz ins Wasser stürze. Wasser gischtet und spritzt um mich herum. Ich erkenne ein paar Fische, die erschrocken zur Seite springen. Als sich das Wasser nach meinem Einschlag beruhigt hat, drehe ich mit den Fischen ein paar Runden im See. Auf einmal merke ich, dass ich heftig zu schwitzen beginne, was ich merkwürdig finde, denn ich schwimme mit den Fischen im kühlen Wasser. Ich schaue nach oben zur Sonne, die das Wasser hell beleuchtet. Mitten in dieser Wasser-Sonnen-Welt denke ich plötzlich an meine Wohnungstür und mache mir Sorgen, weil ich sie nicht verschlossen habe, als ich fluchtartig das Haus verlassen habe. Ich schließe meine Augen, beschließe aber gleich darauf, sie zu öffnen, um Klarheit in meine Gedanken zu bringen. Ich öffne also die Augen und sehe die sattgrünen Blätter einer Esche über mir, die im reifen Sommerwind wogen. Die Sonne scheint hell und warm, und ich schwitze in ihren flachen Strahlen. Ich höre eine sehr angenehme Stimme, sehr nah, die sagt: „Lass uns schwimmen gehen!“ Trotz dieser sanften und liebevollen Einladung fällt mir genau in diesem Moment wieder die offene Tür ein, die ich nicht verschlossen habe, als ich fluchtartig das Haus verlassen habe. Grübeldinger und die offene Tür – das ist ein Bild, das mich nicht verlässt; die Offenheit des Künstlers, von Salzburg nach München zu fahren. Merkwürdigerweise sehe ich Grübeldinger jetzt am Münchner Hauptbahnhof stehen, wie er einen Zug nimmt nach Worpswede. Wieso Worpswede? Ich weiß nicht, wieso ich glaube, dass Grübeldinger nach Worpswede fährt. Ich weiß auch nicht, ob es wichtig ist zu wissen, dass Grübeldinger meine Wohnungstür verschlossen hat, bevor er nach Worpswede gefahren ist.

Ich blicke in die tiefe Sonne und sehe vor mir die Umrisse eines Frauenkörpers. Mir gefällt dieser Frauenkörper im tiefen Sonnenlicht. „Lass uns schwimmen gehen!“ höre ich wieder die Stimme sagen. Langsam erhebe ich mich. Die Sonne blendet. Ich gehe wie blind durch das sanfte Gras, das ich unter meinen Füßen und an meinen Beinen spüre, von Gefühlen geleitet.

Welt Wer Worte