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Der Kot ist ein Segen

Der Kot ist ein Segen, sagte einer der Käfer, und dann fraßen sie weiter an ihren Pillen. Wie kam es dazu?

Es war so, sagt Vorderbrandner: Ich ging durch die Stadt, im milden Dämmerlicht, an einem klaren Abend im frühen Frühling. Ich sah durch die erleuchteten Fenster in die Restaurants hinein. Ich sah Menschen um Tische sitzen, sah sie abwechselnd ihre Münder öffnen, um Ess- und Trinkbares in sich hineinzuwerfen. Bei diesem Anblick dachte ich unvermittelt ans Scheißen, denn Scheißen ist ja sozusagen das Gegenteil von dem was ich sah: Das Auswerfen von für den Körper nicht mehr Verwertbarem. Und bei dem, was da alles hinter den Scheiben gegessen wurde, brauchte es keine große Phantasie, um sich vorzustellen, was da alles geschissen werden wird. Essen und Scheißen sind zwei komplementäre Vorgänge, aufs Nächste miteinander verwandt. Ohne Essen kein Scheißen und ohne Scheißen kein Essen. In der menschlichen Kommunikation gibt es zwischen diesen beiden Dingen allerdings ein großes Mißverhältnis: Man redet viel übers Essen, aber wenig übers Scheißen. Lass uns was essen gehen, lautet eine beliebte Ansage. Lass uns was scheißen gehen führt zu Irritation und Abscheu.

Ich ging weiter durch die Stadt, sagt Vorderbrandner, und sah die essenden Menschen hinter den erleuchteten Fenstern. Meine Gedanken waren gefangen zwischen Essen und Scheißen. Ich hatte gerade gegessen, ja, ich hatte keinen Hunger, und ich glaube, Hunger spielte auch bei den Menschen auf der anderen Seite der Fenster nur eine untergeordnete Rolle. Nein, sie aßen gegen die innere Leere und glaubten, sie mit Essen auffüllen zu können. Muss der Mensch wirklich so viel essen, oder isst er bloß so viel, weil er es sich angewöhnt hat? Essen als Droge gegen innere Leere? Ich bekam nun doch Hunger, obwohl ich gerade etwas gegessen hatte. Ich beneide das Meerschweinchen, dass sein Essen immer in sich trägt. Es scheißt dazu das Gegessene und frisst es nochmal, um es in einem zweiten Verdauungsdurchgang besser zu verwerten. Der Mensch verwertet zu gut, sonst könnte er wie das Meerschweinchen das Essen immer in sich tragen.

Es war einst ein König, der so unglücklich über das Scheißen war, dass er Goldklumpen aß, um Gold zu scheißen. Sein Körper konnte die Goldklumpen aber nicht verwerten, sie verletzten seinen Darm tödlich und er starb daran. Er ist rektal verreckt. Der Mensch hat das Scheißen aus seiner Kultur verdrängt. Kommt vom Klo und tut als wäre nichts gewesen. Das war nicht immer so. Bei Rabelais, neben Cervantes der Mitbegründer der europäischen Hochkultur des Romans, wird gefressen und geschmaust was das Zeug hält, um danach zu scheißen und zu furzen was das Zeug hält. Und auch Till Eulenspiegel macht bei jeder Gelegenheit einen Haufen. Ist das Essen ein Fest, ist das Scheißen ein mindestens genauso großes.

Die Dämmerung wich fast schon der Dunkelheit. Ich ging aus der Stadt in den Stadtwald. Unter den Bäumen bekam ich große Lust zu scheißen. Ja, es kann sehr lustvoll sein, nicht nur etwas aufzunehmen wie beim Essen, sondern auch etwas abzugeben wie beim Scheißen, sagt Vorderbrandner. Ich schiss einen beherzten Haufen auf den Boden, und sein Aroma stieg wie ein Wohlgeruch in die Nasen der nahe lagernden Käfer und lockte sie an. Sie flogen heran und freuten sich. Sie nahmen vom Haufen und rollten den Kot zu kleinen Pillen. Deshalb nennt man sie Pillendreher. Als jeder sich eine Pille gedreht hatte, setzten sie sich zu einer Runde zusammen und labten sich daran. Der Kot ist ein Segen, sagte einer der Käfer: Mir ist unbegreiflich, wie man ihn verschmähen kann. Dann fraßen sie weiter unter dem Mond dieser klaren Frühlingsnacht.

 

Penetrations-Workshop

Ich hatte einen eigenartigen Traum, sagt Vorderbrandner: Ich war in einem Penetrations-Workshop. Die Frau, mit der ich übte, war recht locker drauf, und wir mussten beide lachen, als ich mir das Kondom etwas ungeschickt überzog. Schon lange nicht mehr gemacht, sagte ich, sagt Vorderbrandner, und sie meinte, sie nehme jetzt auch Gleitcreme, obwohl sie die normalerweise nicht brauche.

Ich war in Sorge, dass meine Erektion weggeht, sobald ich das Kondom übergezogen habe, sagt Vorderbrandner, aber sie ging nicht weg. Im Gegenteil. Ich drang in die Frau ein, und wir lächelten uns an. Ich schob ihn rein und raus, anfangs vorsichtig und langsam, dann wild und schnell. Wir hatten großen Spaß dabei. Unbeschwertheit. Leichtigkeit. Dann erwachte ich aus diesem Traum. Ich war sehr entspannt und hatte in der Tat eine Hammererektion. Nur die Frau war verschwunden.

Am nächsten Tag rief ich Agathe an, sagt Vorderbrandner. Ich sagte ihr, ich müsse dringend bei ihr vorbeikommen, weil ich sie unbedingt penetrieren will. Ob sie denn was dagegen habe? Ich fuhr sofort zu ihr und habe Agathe in die Augen geschaut wie ich ihr noch nie in die Augen geschaut habe. Fordernd und liebevoll zugleich. Wir küssten, spürten und berührten uns. Lange. Innig. Dann habe ich meine Übung aus dem Penetrations-Workshop mit Agathe fortgesetzt, nur dass ich bei Agathe kein Kondom übergezogen habe.

Erschöpft und zufrieden lagen wir uns schließlich in den Armen. Dann begann Agathe zu weinen. Bei mir brechen gerade alle Dämme, sagte sie, ich kann nicht anders. Ich bin so glücklich. Ich sagte nichts, sagt Vorderbrandner. Ich habe Agathe wortlos gestreichelt, und in diesem Moment spürte ich, dass ich sie liebe, ja, dieses Wort will ich jetzt benutzen: Liebe.

Normalerweise ist unser Sex recht frustrierend. Ich bin so angespannt, dass ich keine ordentliche Erektion bekomme. Dann bin ich so enttäuscht, dass ich weinen möchte. Aber meistens fluche ich stattdessen. Ich fluche auf meine christliche Kindheit, die die Vagina zum Himmel und zur Hölle zugleich machte. Jedenfalls zu etwas Übermenschlichem wie die Jungfrau Maria, dem ich nie gerecht werden kann, dem ich unterliege und das ich daher ablehnen muss. Agathe, die meine Schimpftiraden geduldig ertrug, sagte dann oft: Dann mach es dir doch wenigstens selbst, und ich fuchtelte angespannt und nervös an meinem Penis herum, um Samenflüssigkeit aus mir herauszupressen. Schließlich einigten Agathe und ich uns, dass ihre Vagina mit anderen Penissen und mein Penis mit anderen Vaginas in Berührung kommen sollte. Das verschaffte mir gewisse Erleichterung. Die Moralkeule, dass man nur mit einem Menschen intime Kontakte haben darf und alles andere Todsünde ist, hatte mich belastet, sagt Vorderbrandner. Auf diese Weise schafften Agathe und ich es, so etwas wie halbwegs entspannten Sex miteinander zu haben. Dennoch hat sich meine Anspannung beim Sex nie richtig gelegt, egal mit wem ich ihn hatte. Entsprechend nervös war ich vor dem Penetrations-Workshop.

Konnte ich denn ahnen, dass der Workshop so ablaufen würde? Mittlerweile bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich von diesem Workshop wirklich nur geträumt habe, oder ob ich ihn tatsächlich besucht und nur vergessen habe, dass ich ihn besucht habe, sagt Vorderbrandner. Jedenfalls bin ich meiner Übungspartnerin sehr dankbar, kann mich aber beim besten Willen nicht mehr an sie erinnern.

Musik aus dem Penetrations-Workshop

August und Adelheid II

eine Straßengeschichte – zweiter Teil: Adelheid

Die Adelheidstraße in München, benannt nach Henriette Adelheid von Savoyen, Kurfürstin von Bayern, führt vom Josephsplatz etwas über einen halben Kilometer nach Norden. Beim Überqueren der Elisabethstraße schlägt sie einen kleinen Haken nach links und mündet in einem leichten Bogen nach rechts in die Bauerstraße.

Adelheidstraße von oben

August blickte nachdenklich zu Boden. Da fragte ihn eine Frauenstimme von der Seite, ob er Feuer hat. Er sah weiße Turnschuhe. Sein Blick ging nach oben, und er sah Beine, die in einer Jeans steckten. Weiter oben sah er eine aufgeknöpfte Jacke über einem weißen T-Shirt, das den Bauch und die Brüste einer jungen Frau bedeckte. Sein Blick schweifte weiter über den blassen, glatten Hals in das Gesicht, in das er sich sofort verliebte. Feuer? fragte die Stimme nocheinmal. August nickte und gab Feuer. Wo kommst du her? fragte die Stimme und setzte sich zu ihm. August machte eine Kopfbewegung nach links.
Augustenstraße?
Ja.
Aha. Und wie heißt du?
August.
Red keinen Scheiß! August aus der Augustenstraße?
August sah in das Gesicht, das nun auf Augenhöhe mit ihm war und in das er sich mehr und mehr verliebte.
Ich heiß Adelheid und komm aus der Adelheidstraße, sagte der schöne Mund in diesem schönen Gesicht. Bescheuerter Name, aber leicht zu merken. Ich heiß wie die Straße, sagte Adelheid, und machte eine Kopfbewegung nach rechts.

Adelheidstraße vom Josephsplatz gesehen

August zündete sich eine Zigarette an, schaute nach rechts Richtung Adelheidstraße, aber eigentlich schaute er nach rechts, um Adelheids Gesicht zu sehen. Ich verliebe mich gerade in eine Großkopferte, dachte er.
Und was machst du so, Adelheid? fragte er, um sich abzulenken und die schöne Stimme aus dem schönen Mund wieder sprechen zu hören.
Nenn mich Heidi. Bitte! Genauso bescheuert wie Adelheid, aber irgendwie doch besser. – Was ich mache? Jetzt geh ich nachhause, weil meine kleine Schwester nachhause kommt und meine Eltern nicht da sind.
Wo ist zuhause?
Am Ende der Adelheidstraße.
Am Ende der Adelheidstraße? August blickte ungläubig.
Begleit mich doch!

August lief es heiß und kalt gleichzeitig über den Rücken. Adelheid begleiten? Natürlich! Aber Adelheid begleiten heißt, dahin zu gehen, wo die normale Welt nicht mehr existiert. Und noch dazu bis ans Ende der Adelheidstraße, also tief in die abnormale Welt der Großkopferten. War es nicht schon dumm genug, sich bis zum Josephsplatz vorgewagt zu haben? Nein, er konnte nicht weitergehen! Mit einer, die den Adel im Namen trägt. Die ist sicher eine Thusnelda wie diese Auguste, nach der die Augustenstraße benannt ist. Aber dann kam der rettende Gedanke: Sie nennt sich Heidi, nicht Adelheid. Vielleicht ist sie als Heidi doch eine wie ich. Er fasste all seinen Mut zusammen und ging mit ihr in die Adelheidstraße.

Vorgärtchen in der Adelheidstraße

Die Welt war wirklich eine andere. Kleine Vorgärten vor den zurückversetzten Häusern, und im Vergleich zur Augustenstraße war jedes der Häuser ein kleiner Palast. August blieb stehen und staunte. Adelheid ging ein paar Schritte voraus. Er sah ihr nach, und staunte wieder. Mit ein bißchen Entfernung fand er sie noch schöner. Ihr Lächeln, als sie sich umdrehte. Schließlich kamen sie zu einem Haus, das wirklich ein kleiner Palast ist. Es liegt versteckt und doch majestätisch am Ende der Adelheidstraße.

Bauerstraße 38a am Ende der Adelheidstraße

Hier wohn ich, sagte Adelheid. Ich hab dir nicht die Wahrheit gesagt. Ich wohn nämlich gar nicht in der Adelheidstraße, sondern in der Bauerstraße 38a, aber schau, sagte sie und drehte sich um: Von hier sehe ich die ganze Adelheidstraße entlang bis zum Turm von St. Joseph.
St. Joseph – das verbindende Element zweier Welten? August sah Adelheid an und Adelheid sah August an. August spürte ein heftiges Verlangen, das schier unerträglich wurde. Und was machen wir jetzt? fragte er, um die Stille zu durchbrechen und sein Verlangen zu besänftigen.

Es ist schade, sagte Adelheid, dass meine Schwester gleich nachhause kommt, denn sonst würde ich dich fragen, ob du mit reinkommst. Ich würde dir zeigen, was unter meinen Klamotten steckt und würde gerne sehen, was unter deinen Klamotten steckt. Ich weiß, ein Mädchen soll nicht so reden, aber ich habe gerade Lust darauf, und warum soll ich nicht sagen, worauf ich gerade Lust habe. Ja, sagte August, und schaute Adelheid mit offenem Mund an und stellte sich vor, die nackte Adelheid zu erforschen und von ihr erforscht zu werden. Adelheid drückte August einen Kuss auf die Lippen. Dann lief sie zur Haustür. Beim Hineingehen drehte sie sich um und rief: Du kommst mich doch wieder besuchen, oder?

Als sie hinter der Haustür verschwunden war, zündete sich August eine Zigarette an. Noch nie hatte er ein Mädchen so zärtlich über Sex reden gehört wie Adelheid eben. Er muss sie wiedersehen! Er muss sie wiedersehen! Auch wenn sie eine Großkopferte ist. Unsicher blieb er stehen, bis er schließlich langsam und mit zittrigen Beinen Richtung Josephsplatz ging. Vorbei an den Palästen mit den kleinen Vorgärten. Eine unwirkliche Welt. Eine Welt außerhalb der Welt. Adelheid, die Außerirdische. Heidi, die Irdische? Am Josephsplatz setzte er sich wieder auf die Stufen vor der Kirche. Noch einmal der Blick zurück in die Adelheidstraße, noch einmal der Blick zurück zu Adelheid. Was war das eben? War das ein Traum? Er bekam plötzlich Angst. Angst, verloren zu sein, in dieser wunderbaren Welt der Großkopferten. Verloren in den Armen Adelheids, der Außerirdischen. Heidi, die Irdische, drang nicht durch. Nein, sie blieb Adelheid in seinem Kopf. Er blickte nach links zur Augustenstraße. Da gehört er hin. Da gibt es Arbeit. Und vielleicht gehört es zum Leben, dass man immer in Gefahr ist, derschossen zu werden. Er blieb noch lange auf den Stufen vor der Kirche sitzen. Er schaute den Eltern zu, die ihren Kindern beim Spielen zusahen. Eine Träne lief über seine Wange. Er wollte zu Adelheid. Heidi! sagte er heimlich und leise zu sich und doch zur ganzen Welt. Schließlich stand er auf und ging wie hypnotisiert die Augustenstraße entlang. Geh immer zum Bahnhof, Bub, denn da gibt’s Arbeit. Alles andere kannst du vergessen! Alles andere musst du vergessen!

August und Adelheid I

eine Straßengeschichte – erster Teil: August

Die Augustenstraße in München, benannt nach Prinzessin Auguste Amalia Ludovika von Bayern, zweigt nahe des Hauptbahnhofs von der Dachauer Straße ab und führt in nordnordöstlicher Richtung auf knapp eineinhalb Kilometern Länge zum Josephsplatz, an dem sie endet.

Augustenstraße von oben

August lebt in der Nähe des Hauptbahnhofs, am Beginn der Augustenstraße, schon immer. Beim Bahnhof gibt es Arbeit, sagt seine Mutter. Was für Arbeit? fragte August, als er noch ein kleines Kind war. Na, Arbeit halt! sagte seine Mutter, damit dein Vater Geld verdient. Sein Vater war oft arbeiten, und manchmal kamen die Leute, mit denen Vater arbeitete, vorbei, und fragten, wo Vater ist, und Mutter sagte diesen Leuten, dass sie nicht weiß, wo er ist. Aber August wusste, dass Mutter wusste, wo Vater ist. Wenn die Leute wieder weg waren, sagte Mutter zu August: Dass du denen fei ja nicht sagst, wo der Vater ist! Hast mich verstanden! Oft kam Vater tagelang nicht nachhause, und August fragte seine Mutter, warum Vater tagelang nicht nachhause kommt, und Mutter sagte nur: O mei Bub, und August fragte, ob er sich denn vor den Leuten versteckt, die immer vorbeikommen und fragen, wo er ist.

August fragte seine Mutter auch, warum denn die Augustenstraße, in der sie wohnten, so heißt wie er? A geh, sagte die Mutter, die heißt doch nicht so wie du, die ist nach irgendsoeiner adligen Thusnelda namens Auguste benannt, die keine Ahnung vom Leben hatte und trotzdem glaubte, einen besseren Dreck zu scheißen als Leute wie wir. Mutter, fragte August weiter, was ist denn das für eine gelbe Kirche, die man am Ende der Augustenstraße sieht? Das ist St. Joseph, und hinter St. Joseph hört die normale Welt endgültig auf, da wohnen die Großkopferten, die glauben, dass sie was Besseres sind als wir. Da brauchst nie hingehen, Bub! Geh immer in die andere Richtung, zum Bahnhof, denn da gibt’s Arbeit.

Am Beginn der Augustenstraße

Eines Tages weinte und fluchte Augusts Mutter, und August fragte, was los ist, und Mutter sagte, dass der Vater nicht mehr nachhause kommt. Wieso denn? fragte August. Muss er so viel arbeiten? Nein. Derschossen haben’s ihn, diesen Deppen, weil er nicht aufgepasst hat. Derschossen, bei der Arbeit? Ja, derschossen bei der Arbeit. Zuviel beschissen hat er die anderen, dein Vater. Man darf schon ein bisserl bescheissen, wahrscheinlich muss man sogar ein bisserl bescheissen, um was abzukriegen vom Kuchen, aber man darf’s nicht übertreiben, weil wenn die anderen merken, dass sie beschissen werden, dann werden sie zornig und derschießen einen. Dann weinte und fluchte sie wieder. August, sagte sie, jetzt musst du Geld verdienen. Geh gleich zum Bahnhof und schau dass du ein Geld verdienst. Und August, obwohl noch mehr Junge als junger Mann, ging zum Bahnhof und schaute, dass er ein Geld verdient. Er machte alles Mögliche, um ein Geld zu verdienen, und traf dabei Leute, von denen er sich nach einiger Zeit sicher war, dass sie es waren, die den Vater derschossen haben. Aber es half ja nichts: Er musste Geld verdienen, und wenn es sein musste, dabei auch diese Leute bescheissen, die seinen Vater derschossen haben. Das Wichtigste war, Geld nachhause zu bringen, für sich und die Mutter.

Einmal saß August zuhause und zählte das Geld und hatte plötzlich das Gefühl, dass er die Leute, denen er das Geld abgenommen hatte, ein bißchen zuviel beschissen hatte. Er bekam Angst. Würden sie jetzt kommen und ihn derschießen, wie den Vater? In seiner Angst beschloss er, die Augustenstraße in die andere Richtung entlangzulaufen, Richtung St. Joseph, denn dort würden sie ihn bestimmt nicht suchen. Auch wenn seine Mutter gesagt hatte, dass er da nicht hingehen braucht.

In der Augustenstraße

Viele Läden hier, dachte sich August, als er die Augustenstraße entlangging, und viel zu essen kann man kaufen. Verhungern tut man hier nicht, wenn man Geld hat. Aber es gibt immer weniger Leute, für die ich arbeiten kann, je weiter ich gehe. Hier kriegt man kein Geld, hier hat man es. Nach etwa einer Viertelstunde erreichte er St. Joseph und staunte über die große Kirche. Er setzte sich auf die Stufen vor dem Eingang und schaute auf den Platz vor sich. Eltern saßen und Kinder spielten. Sind das die Großkopferten, von denen Mutter spricht? Es war ruhig und friedlich. Ungewohnt. Eine andere Welt. Hier hatte er jedenfalls keine Angst, derschossen zu werden.

Ankunft am Josephsplatz

zweiter Teil

Marionette (nicht zuhaus)

Marion fand es nett bei Bernadette und Henriette und blieb über Nacht bei ihnen im Bett. Papa war zuhaus in seinem Bett, und starrte am Morgen auf den Plafond. Neben ihm schlief noch Maman.

Papa überlegte sich folgendes Morgenprogramm: Wecken und necken und lecken, dann recken und strecken und stecken. Da erwachte Maman und fragte: Wo ist Marion? Die ist bei Bernadette und Henriette. Marion dachte im selben Instant: Es wäre doch nett, ich hieße Marionette, dann passte ich besser zu Bernadette und Henriette.

Papa und Maman starteten ihr Morgenprogramm, und weckten und neckten und leckten, und reckten und streckten und steckten. Marion kam nachhaus und rief aufgeregt: Es war so nett bei Bernadette und Henriette, und ich heiß jetzt übrigens Marionette. Hast du denn Hunger? fragte Maman. Nein, sagte Marion: Zu essen gab’s Ecke, zum Haupttisch Schnecke, zum Nachtisch Nussecke.

Das Grauen (Eltern im Streit)

Sie stritten heftig
an diesem Abend
Es war nicht schön anzuschauen
Es war sozusagen
das Abendgrauen
Der Himmel so schwarz
Die Wolken die grauen
Sie stritten die Nacht
Sie wollten sich hauen
Mir graute davor
den Morgen zu schauen
Das nennt man wohl
Das Morgengrauen

S7 Kreuzstraße (Es fährt ein Zug nach Nirgendwo)

Dieser alte Schlager hat einen verheißungsvollen Titel: Es fährt ein Zug nach Nirgendwo.

Ich habe mir Nirgendwo immer als einen schönen Ort vorgestellt, als einen Ort, an den man sich zurückziehen kann, um sich zu finden und dann gestärkt wieder von Nirgendwo nach Irgendwo zurückzukehren. Doch der Schlager enttäuscht mich textlich: Der will gar nicht nach Nirgendwo. Der singt davon, dass er nach Nirgendwo fährt, aber da gar nicht hin will.

Ich jedenfalls will nach Nirgendwo. Ich setze mich in Giesing in den Zug, bereit, ihn bis zu seiner Endhaltestelle in Nirgendwo nicht zu verlassen. Zunächst rauscht die Stadt vorbei, Nirgendwo ist noch ganz weit weg. Die Vorstadt, also die Gegend der verschluckten, ehemaligen Dörfer: Das alte Bahnhofsgebäude von Perlach steht unbenützt und einsam und scheint verloren in seiner städtischen Umgebung, und in Neuperlach-Süd glaube ich eher an eine Reise in eine utopische Urbanität statt nach Nirgendwo. Auch beim Verlassen des Stadtgebiets bleibt alles beim Alten: Neubiberg, Ottobrunn, Hohenbrunn, Höhenkirchen, Siegertsbrunn – alles dichtbesiedelte Kleinstädte, deren Nähe zur großen Stadt München spürbar ist. Aber dann: Es wird sehr ländlich. Die Haltestellen tragen so sperrige Namen wie Dürrnhaar oder Peiß, dazwischen Aying als Metropole der Ländlichkeit. Nirgendwo kann nicht mehr weit sein! Ist es auch nicht.

Nirgendwo trägt den Namen Kreuzstraße und ist eine Ansammlung einiger Häuser. Der Zug hält abseits dieser Häuser, in einer bewaldeten Geländevertiefung namens Teufelsgraben.

Ich gehe nicht nach Kreuzstraße, sondern überquere die Gleise und verlasse den Teufelsgraben in die andere Richtung. Nach ein paar Minuten komme ich aus dem Wald auf freie Wiesen. Stille. Ich kann die Erde atmen hören und die Sterne beim Herabblicken sehen. Ich spüre mich, vom Kopf bis zu den Füßen. Ich spüre mein Sein. Ich spüre mich leben in diesem flirrenden Universum. Ich bin wieder bereit für Irgendwo nach dieser kurzen Auszeit in Nirgendwo. Danke Kreuzstraße, danke, dass es dich gibt!

Bilder aus Nirgendwo

 

 

Vorderbrandner wird Vater und schreibt über François Truffaut

Vorderbrandner wird Vater, und das, sagt er, überwältigt ihn dermaßen, dass er nichts darüber schreiben kann. Deshalb, sagt er, sei er froh, dass er heute, am 21. Februar, etwas über François Truffaut schreiben kann. François Truffaut ist an einem 6. Februar geboren und an einem 21. Oktober gestorben. Der 21. Februar eignet sich also hervorragend, um über ihn zu schreiben. Der 6. Oktober genauso, sagt Vorderbrandner, und vielleicht werde er auch am 6. Oktober etwas über François Truffaut schreiben, aber das werde er erst entscheiden, nachdem er am 21. Februar etwas über François Truffaut geschrieben hat.

Nun könnte man schreiben, sagt Vorderbrandner, dass François Truffaut an diesem Donnerstag, dem 21. Februar 2019, 87 Jahre, zwei Wochen und einen Tag alt geworden wäre. Das könnte man. Als François Truffaut starb, sagt Vorderbrandner, war er sieben Jahre alt, also ich, sagt Vorderbrandner, nicht François Truffaut. Am 21. Oktober 1984, einem Sonntag, sagt Vorderbrandner, kletterte ich auf einen Apfelbaum im Chiemgau. Als ich ziemlich weit oben war, schaute ich nach unten und bekam Angst. Ich klammerte mich fest an den Stamm. Ich war wie erstarrt, aus Angst, hinunterzufallen. Sein Vater, sagt Vorderbrandner, sah ihn, seinen Sohn, auf dem Apfelbaum, und kam langsam und zögernd näher. Er stand unten am Stamm, und die Blicke von Sohn und Vater trafen sich, der ängstliche Blick des Sohns nach unten und der ängstliche Blick des Vaters nach oben. Dann kletterte sein Vater nach oben zu ihm, und als er ihn erreicht hatte, kletterten sie gemeinsam, mit langsamen und vorsichtigen Bewegungen wieder nach unten. Ich atmete erleichtert auf, als meine Füße den Erdboden berührten, sagt Vorderbrandner, und es interessierte mich einen Scheißdreck, dass an diesem Tag François Truffaut in Neuilly-sur-Seine starb, genauso wenig wie es mich heute interessiert, Filme von François Truffaut zu analysieren, ich will sie einfach nur sehen, und manchmal will ich nicht einmal das, manchmal ist es mir sogar schon passiert, dass ich wütend auf die Fernbedienung gedrückt habe, um das Sehen eines Truffaut-Films abrupt abzubrechen, weil mich dieses Sehen so wütend gemacht hat, dass ich diese Wut nicht mehr ertragen wollte. Warum er so wütend geworden sei, beim Sehen eines Truffaut-Films? frage ich Vorderbrandner. Das wisse er nicht, sagt er, genauso wenig wie er wisse, warum ihn seine Gefühle so dermaßen überwältigen, jetzt, wo er wisse, dass er Vater wird. Vielleicht wäre das das Thema dieses Aufsatzes: Meine Wut auf François Truffaut. Es sei aber nicht nur Wut, sagt Vorderbrandner, die ihn überkomme, wenn er an François Truffaut denkt, es sei auch Trauer, eine intensive Wut und Trauer, die zeigten, wie sehr ihn die Filme von François Truffaut berührten.

Ich weiß nichts von François Truffaut, sagt Vorderbrandner, ich weiß nur, dass ich mich ängstlich an den Stamm des Apfelbaums krallte, als er starb. Ich fühlte mich oft allein als Kind, ich fühlte mich verloren, und das, obwohl ich eine liebevolle Mutter, einen liebenswürdigen Vater und sorgende Großeltern hatte, und eine ältere Schwester, die ihren kleinen Bruder liebte. Aber auch sie waren so verloren, so allein. Jeder war für sich allein. Da konnte keiner eine Verbindung zum anderen herstellen, nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte. Vielleicht habe ich deswegen später die Filme von François Truffaut entdeckt, weil in ihnen die Protagonisten oft so allein, so verloren sind. Weil sie nicht geliebt werden. Ja, jetzt fällt es mir ein, weil sie nicht geliebt werden, das ist es, oder, um noch grausamer zu sein oder einfach nur, um zum Kern der Sache vorzudringen: weil sie nicht geliebt werden wollen. Weil sie vor der Liebe davonlaufen. Das macht mich so wütend und so traurig beim Sehen eines Truffaut-Films: das Davonlaufen vor der Liebe. Weil ich es selbst so gut kenne. Und jetzt weiß ich, was mich dermaßen überwältigt an der Tatsache, dass ich Vater werde: Ich habe Angst, dass es bei meinem eigenen Kind weitergeht, dieses Davonlaufen vor der Liebe, dass ich mein Kind nicht lieben kann, wie es verdient, geliebt zu werden.

Liebeserklärung an François Truffaut

Valentinstag (ist vorbei)

Ich wusste, es war Valentinstag, aber ich hatte keine Lust auf rote Rosen, wahrscheinlich, weil ich sie niemandem schenken wollte. Ich wollte ins Musäum des Karl Valentin gehen, was ich dann aber auch nicht tat, denn am Valentinstag ins Valentin-Musäum gehen fand ich doof, fantasie- und humorlos, sodass ich nicht ins Valentin-Musäum ging. Stattdessen hörte ich das Lied Valentinstag ist vorbei, was mir passend erschien, denn wieso sollte ich mich genau am Valentinstag mit dem Valentinstag beschäftigen? Ich hörte zehn Mal das Lied Valentinstag ist vorbei, vielleicht sogar elf Mal, ich begann zu hören um 18:45 Uhr und hörte auf zu hören um 19:29 Uhr, also müsste ich das Lied zwölf Mal gehört haben, ich glaube aber, ich habe es nur elf Mal gehört, weil ich zwischen dem Hören in die Küche gegangen war, um ein Glas Wasser zu trinken, wo ich aus dem Fenster sah und eine Amsel vor jenigem sitzen sah und sie eine zeitlang betrachtete, also kann ich, bei eingehender Betrachung nicht nur der Amsel, sondern der Gesamtsituation im Hinblick auf den zeitlichen Aspekt, das Lied nur elf Mal und nicht zwölf Mal gehört haben, vielleicht habe ich es sogar nur zehn Mal gehört, je nachdem, wie lange ich die Amsel vor dem Fenster betrachtet habe, was ich mir jedoch nicht notiert, geschweige denn gemerkt habe.

Um 19:29 Uhr machte ich jedenfalls einen Schnitt und hörte auf, das Lied Valentinstag ist vorbei zu hören, und dann, nachdem ich zu hören aufgehört hatte und Stille im Raum war, kam mir die Idee, etwas über Leute zu schreiben, die 1929 geboren sind und überlegte, welche Leute ich kenne, die 1929 geboren sind, und mir fielen keine solchen Leute ein. Es könnte sein, dass ich solche Leute mal gekannt habe, dass sie aber mittlerweile gestorben sind, ja, das ist eine sehr wahrscheinliche Tatsache, und Tote, kennt man die noch, oder sind sie nicht nur aus dem Leben, sondern auch aus der Kenntnis entschwunden?

Mitten in diese Überlegungen hinein erinnerte ich mich, dass einst – damals zu meiner völligen Überraschung – Milan Kundera und Max von Sydow durch den Ort im Alpenvorland spazierten, in dem ich aufgewachsen bin. Es war noch Winter, als ich sie dahinspazieren sah am Fluss, aber der Frühling schien nahe, und Max sagte zu Milan: „Es ist schön hier, am Fluss mit dem Blick auf die Berge, im Licht der stärker werdenden Sonne. Da will ich gar nicht an den Tod denken, obwohl ich schon Schach mit ihm spielte.“ „Ja“, sagte Milan daraufhin, „der Spaziergang hier am Fluss entlang lässt mich die Schwere vergessen, die das Leben haben kann, und ich will dieses Gefühl Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins nennen.“ Milan Kundera und Max von Sydow sind 1929 geboren, also kenne ich zumindest zwei Menschen, die 1929 geboren sind, und nicht irgendwelche Menschen, sondern Milan Kundera und Max von Sydow! Mehr Worte will ich über diese Begegnung gar nicht verlieren, denn es ist nicht originell, über Personen zu schreiben in dem Jahr, in dem sie neunzig Jahre alt werden, genauso wie es nicht originell ist, am Valentinstag über Karl Valentin oder rote Rosen zu schreiben.

Ich lief damals aufgeregt nachhause, um meinen Eltern von meiner Begegnung mit Milan Kundera und Max von Sydow zu erzählen, denn es war eine wichtige Begegnung für mich, weil ich nach dieser Begegnung beschloss, entweder Schriftsteller oder Schauspieler oder beides zu werden. Als ich nachhause kam, stand mein Vater mit roten Rosen vor meiner Mutter. Meine Mutter kokettierte damit, sie entgegenzunehmen und sagte zu meinem Vater: „Gestern habe ich dich mit einer anderen gesehen. Wer war denn das?“ „Das war meine ehemalige Zukünftige“, sagte mein Vater, und ich glaube, diese Worte hatte ihm der Valentin in den Mund gelegt.

Valentinstag ist vorbei (10x hören oder öfter)
Milan Kundera
Max von Sydow