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Der verliebte Schönheitschirurg

Dem Schönheitschirurg Dr. Silikus ging es schlecht, deshalb suchte er einen Psychiater auf.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“ fragte der Psychiater.

„Ich habe mich in eine Frau verliebt, die als Patientin zu mir kam. Sie will sich von mir die Brüste größer machen lassen.“

„Ich sehe das Problem nicht.“

„Ich kann es nicht. Ich kann ihre Brüste nicht operieren, denn ich finde sie schön, wie sie sind.“

„Haben Sie ihr das gesagt?“

„Nein. Sie weiß von nichts.“

„Hm… Warum sind Sie Schönheitschirurg geworden?“

„Als Kind habe ich oft einen Metzger besucht, der ein Freund meines Vaters war. Er hatte eine eigene Schlächterei. Ich habe beim Schlachten und Ausnehmen der Tiere zugesehen, später habe ich dann selbst Hand angelegt. Es faszinierte mich, die Teile des Körpers zu berühren, zu spüren, sie zu erforschen und mit ihnen umzugehen. Als ich später Medizin studierte, um in die Fußstapfen meines Vaters zu treten, erinnerte ich mich an die Stunden beim Metzger und beschloss, Chirurg zu werden.“

„Vom Metzger zum Chirurg, gut. Aber wieso Schönheitschirurg?“

„Alle sagten: Mit herkömmlicher Chirurgie arbeitest du dir einen Wolf ab im Krankenhaus. Aber mit plastischer und ästhetischer Chirurgie, da kannst du richtig Geld verdienen!“

„Verstehe. Das Geld treibt Sie an. Wen treibt es nicht an! – Lehnen Sie manchmal auch Aufträge ab?“

„Wie?“

„Naja, weigern Sie sich zum Beispiel manchmal, eine bestimmte Operation durchzuführen?“

„Nein. Was der Kunde will, wird gemacht. Schließlich verdiene ich mein Geld damit.“

„Sie kämen also nie auf die Idee, einem Patienten zu sagen, ihn nicht zu operieren, weil Sie die Operation als nicht notwendig und zielführend erachten?“

„Nein. Da könnte ich gleich zusperren. Wissen Sie, für die meisten Leute, die zu mir kommen, ist es nicht notwendig, sich operieren zu lassen. Die sind nur eitel und ertragen ihre eigene Existenz nicht. Sie erhoffen sich von meinen Eingriffen ein schöneres Leben, das nichts mehr mit ihrem bisherigen zu tun hat. Ich kann diese Leute nicht mehr ertragen: kleinere Nase, größere Brüste, Fältchen im Gesicht und Fettpölsterchen an den Schenkeln weg – als ob das so wichtig wäre! Diese Leute glauben, dass sie mit dem Geld, das sie mir zahlen, vor sich selbst weglaufen können.“

„Will das die Frau, in die sie sich verliebt haben, auch?“

„Ich glaube schon. Sie sagt, eine Frau müsse große Brüste haben, mindestens B-Körbchen, sonst sei sie keine Frau.“

„Das hat sie Ihnen gesagt?“

„Ja. Ich hatte ihr gesagt, dass sie sehr schöne Brüste habe, daraufhin hat sie mir das geantwortet.“

„Sie sagten doch, Sie hätten ihr nichts gesagt?“

„Doch, das habe ich ihr gesagt. Es lag mir außerdem auf den Lippen, ihr zu sagen, dass sie eine sehr schöne Frau ist, mit ihren A-Körbchen-Brüsten, aber das habe ich ihr nicht gesagt. Es erschien mir nicht angebracht und unprofessionell.“

„Werden Sie die Frau operieren?“

„Nein! Ich kann es nicht! Ich darf diese schönen Brüste nicht zerstören, sie sind ein Wunder der Natur. Sie gehören zum Gesamtkunstwerk, als das ich diese Frau wahrnehme.“

„Dann sagen Sie ihr, dass Sie ihre Brüste nicht operieren werden!“

„Was nützt das? Sie wird zu einem anderen Schönheitschirurgen gehen und sich dort operieren lassen!“

„Das kann sein. Aber Sie können von dieser Frau, weil Sie sie lieben, nicht verlangen, dass sie sich selbst liebt.“

„Das verstehe ich nicht!“

„Denken Sie darüber nach! Im übrigen empfehle ich zur Therapie folgendes: Bewerben Sie sich in der Unfallchirurgie eines Krankenhauses. Dort arbeiten Sie sich dann einen Wolf daran ab, die entstellten Unfallopfer so gut es geht wieder herzustellen. Sie können das und werden Spaß daran haben! Sie werden zufrieden sein! Das Geld, das Sie verdienen werden, wird schon reichen, keine Sorge! Sie werden das Leben wieder lieben, so wie Sie diese Frau lieben, die Sie nicht operieren wollen.“

Geburtstag des Kindes

Etwas war anders als sonst, und um ehrlich zu sein, wusste ich nicht, wo ich bin. Das Holz des Dielenbodens knarzte, das Holz im Ofen knisterte. Um herauszufinden, wo ich bin, beschloss ich, zunächst einmal nach draußen zu gehen. Aber draußen nur Stille, nichts weiter. Es war Winter, das darf als ziemlich sicher gelten: Es lag Schnee auf dem Boden. Die Zweige der Obstbäume waren kahl. Ein Vogel, den ich aus dem Schlaf geweckt hatte, flatterte aus dem kahlen Geäst. Obwohl es dunkel war, sah ich recht deutlich, denn der Schnee auf dem Boden erhellte alles.

Von der Ferne sehe ich die Lichter der Stadt, die sich plötzlich in ein flammendes Inferno verwandeln. Wie gelähmt sehe ich das Spektakel am Horizont. Bomben schlagen ein, ja, es müssen Bomben sein, denn ich kann sie hören. Weiß ich, wie sich Bomben anhören? Das Grauen ist in der Ferne und gleichzeitig ergreifend nah. Die räumliche und zeitliche Ferne sind in diesem Moment nicht zu unterscheiden. Es ist so: Die Augen eines kleinen Kindes sehen die Bomben einschlagen. Das kleine Kind ist nicht mehr da, doch die Bomben sind es immer noch.

Diese Überlegungen bringen mich zur Frage zurück, wo ich überhaupt bin? Während ich mich auf diese Frage konzentriere, bemerke ich wieder die Ruhe um mich. Ich drehe mich um zum Haus, aus dem ich gekommen bin, und sehe die erleuchteten Fenster. Ich beschließe, wieder ins Haus zu gehen, und gerade als ich hineingehen will und dabei an Theresa denke, höre ich Josefine rufen, mit der ich in diesem Moment nicht gerechnet habe. Ich drehe mich also wieder um, sehe die kahlen Obstbäume und die Lichter der Stadt und Josefine, die sich dem Haus nähert.

Josefine hat ein Kind bei sich. Was ist das für ein Kind? frage ich. Das ist unser Kind! sagt Josefine, was eine Antwort ist, die mich einigermaßen in Erstaunen versetzt. Ich sehe Josefine an und erinnere mich, dass wir uns gesucht haben, und der Raum, in dem wir uns gesucht haben, war voller Irrungen und Wirrungen, sodass ich diesen Raum, in dem wir uns gesucht haben, als Labyrinth bezeichnen möchte. Völlig erschöpft haben wir uns schließlich gefunden, aber trotz oder wegen der Erschöpfung – das kann ich nicht mehr genau sagen, es war mehr ein Gefühl, das uns antrieb – sind wir übereinander hergefallen. Es gab keine andere Wahl in diesem Labyrinth, als übereinander herzufallen. Wir haben unseren Schweiß und unseren Atem gespürt. Ich erinnere mich gern daran. Während ich mich also daran erinnere, wie wir im Labyrinth übereinander hergefallen sind, umarmt mich Josefine mit dem Kind.

Weshalb bist du gekommen? frage ich Josefine. Was ist los?Wir feiern Geburtstag, sagt Josefine. Geburtstag? Diese Antwort erstaunt mich so, dass ich erneut ganz vergesse, darüber nachzudenken, wo ich überhaupt bin.

Wir gehen nach drinnen ins Haus. Es riecht nach Kerzenwachs. Eine angenehme Wärme durchströmt meinen Körper. Ich habe Hunger, und schon steigt der Duft von frisch Gekochtem in meine Nase. Wir essen also. Ich weiß nicht, wer aller am Tisch ist, denn ich habe solchen Hunger, dass ich mich auf den Geruch und den Geschmack des Essens konzentriere. Es ist anzunehmen, dass Josefine und das Kind am Tisch sind, aber es sind noch weitere Personen am Tisch, die ich jedoch im Moment nicht wahrnehme, was mir selber ein Rätsel ist. Ich nehme jetzt Josefine und das Kind wahr, ganz deutlich. In diesem Moment sagt Josefine, dass das Kind müde sei. Doch statt zu schlafen, schreit es wie am Spieß. Ich beginne, dem Kind Schlaflieder vorzusingen, zum Beispiel Schlafe in himmlischer Ruh.

Als das Kind sich endlich beruhigt hat und nah am Einschlafen ist, klopft es plötzlich an der Tür. Ich weiß nicht mehr, wer die Tür geöffnet hat, vielleicht war es Theresa, ziemlich sicher war es Theresa. Oder war es jemand anderer, der am Tisch gesessen war, um die Tür zu öffnen. Ich weiß es nicht mehr, sodass ich annehme, dass es Theresa war, die die Tür öffnete. Jedenfalls hieß es, die Heiligen Vier Könige seien an der Tür. Ich fragte Josefine, ob das sonst nicht immer drei wären. Sie antwortete nicht auf meine Frage. Stattdessen kamen die Heiligen Vier Könige herein und wollten dem Kind ein Geburtstagsständchen spielen. Ich merkte an, dass das Kind gerade am Einschlafen sei. Ob sie nicht ein Schlaflied singen könnten statt dem Geburtstagsständchen und das Geburtstagsständchen auf morgen verschieben? Die Heiligen Vier Könige willigten ein und spielten ein Schlaflied.

Neun Städte mit Burgen

Mein Geographielehrer hieß Grub. Er war fasziniert von Städten mit Burgen. Anfangs dachte ich, er ist so fasziniert von diesen Städten, weil Grub, sein Name, rückwärts gelesen Burg heißt. Doch irgendwann begriff ich, dass das nicht der einzige Grund sein konnte, denn er war so dermaßen fasziniert von diesen Städten, dass er stets von uns verlangte, neun von ihnen aufzählen zu können. Wie er dabei auf die Zahl neun kam, ist mir ebenso ein Rätsel wie seine überbordende Faszination für diese Städte.

Wir erzählten unserem Deutschlehrer, der Ylliw Rotsa hieß, von der Anforderung im Geographieunterricht, neun Städte mit Burgen aufzählen zu können. Ylliw Rotsa war ein großer Geschichtenerzähler, also erzählte er uns eine Geschichte von neun Städten mit Burgen:

Ein Wirt ging vor seine Kneipe, wo sich einige seiner Gäste aufhielten, um zu rauchen, und rief: "Ascht mir doch nicht den ganzen Gehsteig voll, ihr Affen! Was hier schon wieder Kippen herumliegen!"
"Ach Wirt, hab dich nicht so!" sagte daraufhin einer der Gäste, "da duis ich einmal mit dem Besen drüber, und schon ist der Gehsteig wieder frei. Den Rest erledigt das Wasser des Regens. Lass dir dafür Folgendes sagen: Würz nicht soviel mit Salz wenn du kochst! Außerdem bist du garstig, Wirt. Da könnt ich glatt glauben, dass ich in des Wolfs Augs schau! Musst halt auf einer einsamen Burg hausen, wenn dich die Leute so aufregen."
"Wir ham keine Burg in unserer Stadt. Also werd ich wohl weiter in meiner Kneipe bleiben, so wie eine Magde bei ihrem Herrn." sagte daraufhin der Wirt.

Das war die Geschichte meines Deutschlehrers Ylliw Rotsa über neun Städte mit Burgen. So nannte er seine Erzählung, und wiederum war es mir schleierhaft, wie er dabei auf die Zahl neun kam, wo ich doch eindeutig, nach mehrmaligem konzentrierten Durchlesen, immer zwölf Städte in seiner Erzählung identifizieren konnte. Er erzählte die Geschichte jedenfalls so lustig, dass sie sich in meinem Gedächtnis eingebrannt hat.

In den Geographiestunden mit Herrn Grub war sie mir sehr hilfreich. Herr Grub referierte stundenlang über Städte mit Burgen. Wenn er dann am Schluss der Stunden verlangte, dass jemand in der Klasse neun Städte mit Burgen aufzählt, meldete ich mich oft freiwillig, rief mir die Geschichte von Ylliw Rotsa ins Gedächtnis und sagte: 1. Asch-affenburg, 2. Duisburg, 3. Freiburg, 4. Wasserburg, 5. Regensburg, 6. Würzburg, 7. Salzburg, 8. Wolfsburg, 9. Augsburg.

„Sehr gut Hinterstoisser, bitte setzen!“ sagte Herr Grub dann zufrieden. Manchmal ergänzte ich: „Burghausen wüsste ich auch noch, als zehnte Stadt“, was Herr Grub mit einem Nicken erwiderte, das ich nie recht deuten konnte. Deshalb ließ ich Hamburg und Magdeburg fast immer unerwähnt.

Vereinsgründung mit Hindernissen

Es war mir wieder einmal völlig unklar, wer ich bin, als ich an diesem Morgen erwachte. Die Augen schon geöffnet, aber den Körper noch nicht aufgerichtet, lag ich im Bett.

Zu sein, wer ich bin, ist eine Aufgabe, die mir das Leben täglich stellt, sagte eine Stimme am anderen Ende des Raumes zu mir. Ich richtete mich auf, rieb mir die Augen und sah, dass mein Spiegelbild zu mir gesprochen hatte. Ich gab ihm recht. Um mich der Aufgabe des Lebens zu stellen, nämlich zu sein wer ich bin, stand ich auf und machte mich bereit für den Tag.

Ich beschloss, ein paar Schritte zu gehen, denn Bewegung tut immer gut, und ging nach draußen. Auf der Straße sah ich an einem Haus folgendes Schild:

Abschaffungsverein

Bringt mich dieser Verein weiter bei meinem Anliegen, zu sein, wer ich bin? Um es herauszufinden, wollte ich klingeln, tat es aber nicht, sondern ging weiter. Drei Wörter kreisten nun in meinem Kopf: Sex, Missbrauch und Gewalt. Da ich überzeugt bin, dass Sex ein Mittel ist, um herauszufinden, wer ich bin, ich dieses Mittel jedoch nicht mit Missbrauch und Gewalt in Verbindung bringen will, war ich froh, nicht geklingelt zu haben. Ich setzte mich auf eine Bank und überlegte, was ich tun könnte. Mein Spiegelbild hat mir schließlich eine Aufgabe gestellt, die ich nicht unerledigt lassen wollte. Ich beschloss daher, den Verein zur Förderung von sexueller Liebe und sexueller Befreiung zu gründen.

Ich stand auf, und drei Wörter kreisten in meinem Kopf: Sex, Liebe und Befreiung. Ich rannte in die naheliegende Kirche, die für ihre gute Akustik gerühmt wird, stellte mich in den Mittelgang und rief laut:

„SEX, LIEBE, BEFREIUNG!“

Dies sollte eine Art Gründungsakt des Vereins zur Förderung von sexueller Liebe und sexueller Befreiung sein. Einige Leute saßen oder knieten in den Bänken der Kirche und blickten mich böse an. Einer stand auf, ging auf mich zu und sagte:
„Sind Sie verrückt? Hören Sie sofort mit Ihrem Geschrei auf, oder ich hole die Polizei!“
„Nein, bitte nicht! Die Gründung des Vereins zur Förderung von sexueller Liebe und sexueller Befreiung soll von keinem Gewaltakt überschattet werden. Ich entschuldige mich, wenn ich diese Kirche soeben missbraucht haben sollte!“
Unter bösen Blicken verließ ich die Kirche.

Welche Wörter hatte ich soeben gebraucht: Gewaltakt und Missbrauch? Sind diese Wörter also fest in meinem Kopf eingebrannt? Ja, wer bin ich denn? Ein gewalttätiges Monster, das das Leben missbraucht? Ich stellte fest, dass für die Etablierung des Vereins zur Förderung von sexueller Liebe und sexueller Befreiung noch einiges an Beharrlichkeit und Überzeugungsarbeit nötig sein wird.

Wagemuts Hochzeit

Es ist eine Ungerechtigkeit, dass die Schwermut in der deutschen Sprache weiblich und der Wagemut männlich ist. Nur so konnten meine Eltern auf die Idee kommen, mir den Namen Schwermut und meinem Bruder den Namen Wagemut zu geben. Wie kamen sie überhaupt auf diese Namen? Wahrscheinlich weil sie selbst Hildemut und Hartmut heißen.

Wir wohnten in einem Haus neben einem großen, tiefen Wald. Ich fürchtete mich oft in schwermütigen Gedanken vor seiner Größe und seinen Tiefen. Mein Bruder Wagemut hingegen hat sich schon als kleiner Junge in diesen großen, tiefen Wald getraut. So ist es nur logisch, dass er Waltraud kennenlernte, die er nun beabsichtigt zu heiraten. Meine Schwermut hielt mich anfangs davon ab, zur Hochzeit zu gehen, was man mir als Hochmut auslegte. Mehr Demut vor der Liebe deines Bruders, Schwermut! sagten meine Eltern zu mir. Wieso habt ihr mich nicht Demut genannt, wenn ihr sie jetzt so vehement einklagt. Dann wäre nicht alles so schwer! erwiderte ich trotzig, was ihren Hochmutsverdacht lediglich bestärkte.

Ich fühlte mich in die Enge gedrängt und dachte an den großen tiefen Wald, vor dem ich mich bisher so gefürchtet hatte, als meine einzige Ausflucht. Ich lief also in den großen tiefen Wald und bewegte mich unter den hohen Bäumen und glaubte, in meiner Schwermut zu vergehen. Plötzlich hörte ich meinen Bruder Wagemut rufen, der offensichtlich seine eigene Hochzeit verlassen hatte: Schwermut, mein Schwesterherz, wie kommt es, dass du dich alleine in den Wald traust? Waltraud, die Braut, die die Hochzeit scheinbar ebenfalls verlassen hatte, kam von der anderen Seite auf mich zu und hielt eine Kettensäge in der Hand. Ich entriss ihr die Kettensäge und begann, in einem Anfall von Wagemut, Bäume zu fällen, die auf mich fallen sollten, um mich unter ihrer Schwere zu begraben. Doch die Bäume blieben stehen. Stattdessen löste sich der Boden unter mir. Ich sah Waltraud und Wagemut neben mir ins Bodenlose fallen und befürchtete das Schlimmste. Da flog ein Klavier mit Pianist heran, gefolgt von einem ganzen Orchester, und spielte das Klavierkonzert Nr. 23 von Mozart. Anfangs dachte ich, die ganzen Musiker mitsamt ihren Instrumenten würden wohl gleich krachend zu Boden fallen, doch es gab ja keinen Boden mehr, weil ich ihn, statt die Bäume zu fällen, abgesägt hatte. Die Musiker mit ihren Instrumenten flogen also weiter mit mir.

Zu meiner großen Überraschung sah ich meine kleine Schwester Anmut heranschweben, die ich nicht erwartete, weil sie als kleines Mädchen beim Spielen im Wald gestorben war, als ihr der dicke Ast eines großen Baumes auf den Kopf gefallen war. Ich wollte sie fragen, ob auf der Hochzeitsgesellschaft von Waltraud und Wagemut Missmut herrscht, weil wir nicht da sind, doch sie sagte nichts dazu. So tanzte ich mit Anmut weiter zu den Klängen von Mozart, voller Übermut.

Das Leben über alles

Vorderbrandner ist im Theater gewesen und hat Terror gesehen. In dem Stück wird ein Gerichtsprozess verhandelt: Ein Militärpilot ist wegen Mordes angeklagt. Er hat ein Passagierflugzeug mit 164 Personen an Bord abgeschossen. Das Flugzeug war von einem Terroristen gekapert worden und steuerte auf das vollbesetzte Fußballstadion in München mit 70.000 Zuschauern zu. Durfte der Militärpilot die Maschine abschießen, um Schlimmeres zu verhindern? Rechtlich hatte er keinerlei Rückendeckung, denn der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes besagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Also darf man unschuldige Passagiere in einem Flugzeug nicht abschießen, so das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Wenn die Flugzeuge, die am 11. September 2001 in die Hochhäuser in New York und in den Pentagon flogen, vorher vom Militär abgeschossen worden wären – würden wir uns besser fühlen? fragt Vorderbrandner.

Nein, sage ich. Wir würden uns nicht besser fühlen. Wir wüssten ja nicht, ob sie in die Hochhaustürme und in den Pentagon geflogen wären. So etwas konnte sich bis zu diesem Tag niemand vorstellen, dass jemand eine solche Tat begehen würde. Und die Terroristen haben es über Funk nicht angekündigt. Es würde sich erst recht um Mord handeln, wenn die Flugzeuge abgeschossen worden wären.

Die amerikanische Regierung unter George Bush hat damals gesagt, ein Abschuss wäre rechtlich erlaubt gewesen.

Weil die Amerikaner das Recht für sich beanspruchen, alle zu töten, die nicht so denken wie sie.

Nein. Weil sie die Menschen in den Hochhäusern und im Pentagon retten wollten.

Ich will etwas ausholen: Ich erzähle dir, was ich am 11. September 2001 gemacht habe. Ich habe meinen kleinen Neffen gehütet. Bald habe ich mitgekriegt, was geschehen war, und habe den Fernseher angemacht. Ich sah die Bilder der einschlagenden Flugzeuge, die Explosionen, immer wieder, und mein kleiner Neffe saß neben mir und sah sie auch. „Was ist mit den Menschen in den Flugzeugen passiert?“ fragte er mich, nachdem wir lange fassungslos vor dem Fernseher gesessen waren. „Die sind alle gestorben.“ „Und mit den Menschen in den Hochhäusern?“ „Viele konnten sich wahrscheinlich retten, aber viele sind auch gestorben.“

Abends wollte ich ihn ins Bett bringen, aber er wollte immer wieder die Bilder der einschlagenden Flugzeuge sehen. „Komm“, sagte ich, „ab ins Bett!“ Ich hatte ein schlechtes Gewissen, den kleinen Buben so lange diesen Schrecklichkeiten ausgesetzt zu haben. Aber er ließ sich nicht vom Fernseher bewegen.

„Wieso willst du das denn immer wieder sehen?“ fragte ich ihn schließlich.

„Vielleicht fliegen die Flugzeuge beim nächsten Mal vorbei. Dann müssen nicht so viele sterben.“

Jetzt verstand ich seine Anspannung, und seine Hoffnung, dass die Flugzeuge doch nicht in die Hochhäuser einschlagen. Erst jetzt wurde mir bewusst, was passiert war. Es geht nicht um die Amerikaner oder um die Moslems. Es geht um die Menschen in den brennenden Hochhäusern. Ich war ergriffen und gerührt vom Glauben meines kleinen Neffen an das Leben, wie er jedes Mal wieder aufs neue hoffte, dass die Flugzeuge vorbeifliegen würden.

Schließlich schaffte ich es, ihn ins Bett zu bringen. Ich musste mich sehr überwinden, den Fernseher auszumachen, so unfassbar war das alles. Im Bett erzählte ich ihm die Geschichte von dem Mädchen, das durch die bevölkerten Straßen geht, an das Gute im Menschen glaubt und sich jedesmal freut, wenn ihr Glaube mit einem Lächeln erwidert wird. Während ich ihm das erzählte, konnte ich meine Tränen nicht unterdrücken. Was war denn da passiert heute? Irgendwann schliefen wir beide nebeneinander ein.

Seit diesem Erlebnis mit meinem kleinen Neffen am 11. September 2001 glaube ich noch viel mehr an das Leben als davor. Ich glaube an das Leben, bis zum letzten Moment und bedingungslos. Wieso also sollte man Passagierflugzeuge abschießen dürfen? Ist das nicht eine Absage an das Leben? Hätte man die Flugzeuge am 11. September 2001 abgeschossen, würden die Zwillingstürme in New York noch immer in den Himmel ragen, aber man würde sich fragen, ob man die Passagiere nicht vielleicht doch hätte retten können. Man hätte die Mordabsicht der Terroristen mit Mord vergolten. Wird das dem Leben gerecht?

Ich wurde im Theater, während der Vorstellung von Terror, von Ängsten getrieben, sagt Vorderbrandner; dass unser westliches Leben bedroht wird von dunklen Mächten, die uns vernichten wollen. Und ich dachte, dass man einen redlichen Menschen wie den angeklagten Militärpiloten, der nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat, der unsere Werte schützt und verteidigt, doch nicht wegen Mord verurteilen darf. Leben heißt, sich entscheiden. Wenn es sein muss, über Leben und Tod. Das hat mir Terror vor Augen geführt.

Ich wollt ich wär ein Huhn

Der Mensch hat den Wunsch, ein Huhn zu sein. Denn ein Huhn hat nicht viel zu tun. Es legt täglich ein Ei, ansonsten hat es frei. Hühner in beengten Geflügelfarmen haben so wenig zu tun, dass sie sich mir ihren Schnäbeln gegenseitig verletzen. Doch dazu später.

Bleiben wir zunächst bei der Frage, wie weit der Mensch gekommen ist mit seinem Wunsch, ein Huhn zu sein. Viele laufen auf den Straßen bereits herum wie blinde Hühner, starren gebannt auf ihre Smartphones und haben keinen Blick mehr für ihre Umwelt. Es werden Forderungen laut, diese blinden Hühner einzusperren, um ihre Umwelt vor ihnen und sie selbst vor sich zu schützen. Wahrscheinlich würden die blinden Hühner es nicht merken, wenn sie eingesperrt werden. Falls doch, könnte man ihnen zur Ablenkung vor der Festnahme eine App installieren, mit der sie virtuell durchs All fliegen, um die Festnahme zu einem unkomplizierten, gewaltlosen, vom Betroffenen unbemerkten Vorgang zu machen.

Was sollte man mit denen machen, die ein Huhn sein wollen, aber nicht über den Umweg, zunächst ein blindes Huhn unter Menschen zu sein? Man könnte sie gleich einsperren, in einen Raum ähnlich einem Ei, der dafür sorgt, dass die körperliche Ver- und Entsorgung rund um die Uhr funktioniert, ohne das der Betroffene sich bewegen muss. Wer soll das bewerkstelligen? Computer natürlich. Künstliche Ernährung, künstlicher Darmausgang, alles kein Problem. Visuelle Projektionen an die Innenwand vom Ei sorgen für geistige Ablenkung. Der Mensch lebte wie ein Küken im Ei. Er hätte das Huhn sozusagen überholt in seinem Nichstun, indem er dessen pränatalen Status annimmt.

Womit wir wieder bei den echten Hühnern wären, die in Geflügelfarmen so wenig zu tun haben, dass sie sich mit ihren Schnäbeln gegenseitig verletzen. Für diese Hühner entwirft man mittlerweile Beschäftigungsprogramme. Man gibt ihnen zum Beispiel gepresste Dinkelballen mit eingeschlossenen Weizenkörnern. So picken sie an den Dinkelballen, um Weizenkörner zu finden, anstatt sich mit ihren Schnäbeln an das Gefieder des Nachbarn zu machen. Entwickeln sich Hühner also gegenläufig zum Mensch? Der eine will mehr tun, der andere weniger?

Ist der ideale Mensch ein im Nichtstun erstarrtes, von der digitalen Berieselung eingelulltes Huhn? Braucht der Mensch nicht auch etwas zu tun, um seinem Leben Sinn und Erfüllung zu geben? Dinkelballen, in denen er nach Weizenkörnern sucht. Herausforderungen, die er zu bewältigen hat. Oder sind das alles unberechtigte Zweifel am Nichtstun, und ich sollte mich endlich davon überzeugen lassen, ein Huhn (im Ei) sein zu wollen?

Anscheinend die Sonne

Ich reisse Vorderbrandner den Zettel aus der Hand und lese:

Die Sonne scheint mich an. Anscheinend hat die anscheinende Sonne nichts anderes zu tun, als mich anzuscheinen.

„Das ist Mist, Vorderbrandner! Du sollst etwas schreiben, das unsere Leser interessiert, und dich nicht selbstgefällig an der Sprache verlustieren. Du könntest zum Beispiel etwas über Geld schreiben, denn Geld interessiert und bewegt die Leute. Geld ist die Schmiere des modernen Lebens.“

„Geld, Geld, Geld. Hast du noch etwas anderes im Kopf außer Geld? Es geht auch ohne Geld. Gestern habe ich gelesen, dass man in Düsseldorf Trambahn fahren kann ohne Geld. Man muss sich lediglich vier Werbespots à zwanzig Sekunden anschauen, und schon bekommt man sein Ticket.“

„Das ist toll. Ich wollte schon immer vor dem Trambahnfahren, wenn ich in der Regel in Eile bin, mir in aller Ruhe vier Werbespots anschauen. Wer macht denn diese Werbespots? Die Rheinbahn AG, der Betreiber der Düsseldorfer Trambahnen, die ihre Kunden in diesen Spots informiert, dass sie ab sofort auf Geld für ihre Dienstleistung verzichtet?“

„Ach quatsch. Weiß ich nicht. Irgendwer halt. Coca Cola oder so.“

„Irgendwer, der will, dass man etwas von ihm kauft. Womit wir wieder beim Geld wären. Um Werbung zu finanzieren, muss irgendjemand irgendwann etwas kaufen. Am besten der, der in Düsseldorf mit der Trambahn fährt.“

„Also gut, ich kapituliere. Du hast den Bogen zum Geld wieder gespannt. Ich werde trotzdem nicht über Geld schreiben, sondern über die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten.“

„Da ist der Bogen zum Geld aber auch schnell gespannt. Apropos Donald Trump: Seine Wahl zum US-Präsidenten ist für mich inkonsequent. Ich hätte gleich Larry Page gewählt, denn eines nicht allzu fernen Tages wird Google nicht mehr von Werbung abhängig sein, sondern es wird die Welt beherrschen und Geld einkassieren und verteilen wie es ihm gefällt. Google ist die Wahrheit, sonst nichts. Warum also Trump, wenn es Page gibt?“

„Larry Page hat sich nicht als US-Präsident nominieren lassen, weil er Mark Zuckerberg als Vize-Präsident wollte. Der ist aber wegen Volksverhetzung angeklagt, weil er, wie die klagende Partei sagt, Drohungen bezüglich Mord- und Gewaltverbrechen absichtlich nicht aus Facebook löschen lässt. Page sagt dazu: Ohne Zuckerberg kann ich nicht, denn sollte Google nicht die Wahrheit sein, dann ist es Facebook.“

„Weißt du was: Wir bleiben bei deinem Text mit der Sonne. Ich bin froh, dass sie mich anscheint und anscheinend nichts anderes zu tun hat als mich anzuscheinen. Ganz einfach so, ohne Geld, ohne Werbung, ohne Google, ohne Facebook und was es sonst noch in der modernen Welt gibt.“

30. Ansonsten nur Zufälle.

Am 30. Oktober des Jahres 2016 ging Benedikt Mitterbichler mit seiner 30 Wochen alten Tochter im Morgengrauen spazieren. Es lässt sich nicht mehr ermitteln, wieso Benedikt Mitterbichler am 30. Oktober des Jahres 2016 mit seiner 30 Wochen alten Tochter im Morgengrauen spazieren ging. Es erscheint geradezu absurd, dass Benedikt Mitterbichler das tat, denn seine Frau erzählt, dass ihre 30 Wochen alte Tochter fest schlief, als Benedikt Mitterbichler sie in die Babytrage packte und mit ihr im Morgengrauen spazieren ging. Sie wisse jedoch nicht genau, ob ihre Tochter wirklich fest schlief, da sie selbst fest schlief, als Benedikt mit ihrer 30 Wochen alten Tochter aufbrach zum Spaziergang im Morgengrauen.

Benedikt Mitterbichler ging mit seiner 30 Wochen alten Tochter in einen Park, der früher ein Friedhof war. Die Kieswege in diesem Park, der früher ein Friedhof war, sind so angelegt, dass sie sich im rechten Winkel einander begegnen. Zwischen diesen Wegen liegen die Reste der ehemaligen Gräber, wachsen Bäume, Sträucher und Gras. Mitterbichler ging die Wege entlang, die sich im rechten Winkel einander begegnen. Mitterbichlers 30 Wochen alte Tochter sah die Bäume, Sträucher und das Gras zwischen den Wegen und wäre gerne durch die Reste der alten Gräber, vorbei an den Bäumen, Sträuchern und Gräsern gegangen. Aber mit 30 Wochen kann man noch nicht gehen, also bewegte sie manchmal lediglich ihren Kopf ein wenig hin und her, um mit den Augen einen Ausflug ins Grün zu machen, während Mitterbichler die geradlinigen, sich einander im rechten Winkel begegnenden Wege entlangging.

Eine Frau, deren Name sich leider nicht ermitteln lässt – und ich habe keine weiteren Ermittlungen unternommen, ihren Namen herauszufinden, da ihr Name für den weiteren Fortgang der Ereignisse nicht wichtig ist -, ging an jenem Morgen ebenfalls in den Park, der früher ein Friedhof war. Weiters, dies sollte der Vollständigkeit halber erwähnt werden, ging auch ein Mann an diesem Morgen in den Parkfriedhof. Die geschlechtliche Unterscheidung der Personen im Parkfriedhof, die ich soeben vorgenommen habe, hebe ich jedoch sofort wieder auf, da sie nicht von Belang ist. In vielen Erzählungen spielt die Geschlechtlichkeit der Personen eine große Rolle, wenn nicht sogar die Hauptrolle, nicht jedoch in dieser. Es lässt sich also zusammenfassend feststellen, dass vier Personen an diesem Morgengrauen im Parkfriedhof unterwegs waren: Mitterbichler mit seinem 30 Wochen alten Kind, einer Tochter, und zwei weitere Personen.

Die beiden weiteren Personen, die sich neben Mitterbichler und seiner Tochter an diesem Morgen im Friedhofspark aufhielten, gingen wie Mitterbichler die geradlinigen Wege entlang, die im rechten Winkel aufeinandertreffen. So war die Wahrscheinlichkeit groß, dass Mitterbichler und die zwei besagten Personen einander begegnen würden. Und tatsächlich begegnete Mitterbichler einer dieser beiden Personen. Als sie aneinander vorbeigingen, war Mitterbichler unsicher, ob er die Person grüßen sollte, denn in den Park im Morgengrauen geht man, um allein zu sein, nicht um Personen zu grüßen, so lautet zumindest die ungeschriebene Regel, und es ist anzunehmen, dass auch Mitterbichler das so sieht, da er unsicher war, ob er die Person grüßen sollte. Ich könnte feststellen: Wieso sollte er sie grüßen, denn sie waren in der Stadt, kannten einander nicht? Wieso sollte er sie grüßen? Aber diese Begegnung im Morgengrauen des Parkfriedhofs hatte eine gewisse Intimität. Sie war eine andere Begegnung als in der Münchner Kaufingerstraße zur Hauptgeschäftszeit.

Mitterbichlers Tochter stieß einen lauten Schrei aus, als sie der Person begegneten. Das wunderte Mitterbichler. War der Schrei ein zufälliger, oder hing er mit der Person zusammen, die ihnen begegnet war? Er erinnerte sich an das Gesicht der Person, die ihnen eben begegnet war: Es war ein ernstes Gesicht gewesen, mit strengen Augen, die mit ihrer Strenge eine Trauer zu verbergen scheinen, oder zumindest eine Enttäuschung. Der Mund war dünnlippig zusammengekniffen, was Mitterbichler schlussendlich dazu bewogen hatte, nicht zu grüßen. Irgendwie, so dachte Mitterbichler, hatte seine Tochter mit ihrem Schrei statt ihm gegrüßt, hatte ihr Gefühl und ihre Empathie zu diesem verbitterten Gesicht kundgetan.

Mitterbichler ging weiter, auf den rechtwinklig angelegten Wegen. Die Geschichte könnte hier zu Ende sein, wenn der Erzähler beschließt, dass sie zu Ende ist. Oder sie geht weiter, und zwar damit, dass Mitterbichler weiter auf den rechtwinklig angelegten Wegen im Parkfriedhof entlanggeht und dabei entweder niemanden mehr trifft, diesselbe Person nochmals trifft, die er bereits getroffen hat und seine Tochter dabei wieder einen Schrei ausstößt oder nicht, oder die andere Person trifft, die ebenfalls im Morgengrauen im Parkfriedhof unterwegs ist.

Es sei festgestellt, dass außer der 30 Wochen alten Tochter Mitterbichlers alle sonstigen Personen im Park, also Mitterbichler und die beiden anderen Personen unterschiedlichen Geschlechts (was jedoch nicht wichtig ist), zum Zeitpunkt des Geschehens älter als 30 Jahre waren. 30 Jahre alte und ältere Personen gehen in der Regel auf angelegten Wegen in einem Park spazieren, und so ist der wahrscheinliche Fortgang der Geschichte, dass Mitterbichler auch die andere Person auf einem der rechtwinklig angelegten Wege des Parks treffen wird.

Mitten in diese Überlegungen hinein raschelte es im Gebüsch am Wegesrand, die andere Person, die Mitterbichler noch nicht getroffen hatte, kam daraus hervor und sah Mitterbichler und seine Tochter mit freudestrahlenden, offenen Augen an. Mitterbichlers Tochter gluckste in diesem Augenblick vor Überraschung und Freude, und ehe Mitterbichler zu einem „Guten Morgen“ ansetzen konnte, war die Person wieder verschwunden. Mitterbichler sah seine gutgelaunte Tochter und sprang in das Gebüsch, aus dem die andere Person soeben hervorgesprungen war. Hinter dem Gebüsch tat sich einen ungeahnte Welt auf: Amseln pickten am Boden herum. Eichhörnchen sprangen von Ast zu Ast… Mitterbichler hüpfte mit seiner Tochter im Gras herum und summte dazu den Ungarischen Tanz Nr. 5 von Brahms. Die weiteren Geschehnisse an diesem Morgen im Parkfriedhof wären noch zu ermitteln.

München, Westendstraße (Teil 3/3)

auf den Spuren von Grete Trakl

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, ging mit der Dame aus Salzburg weiter die Westendstraße entlang. Sie gingen an Hochhäusern und Verwaltungsgebäuden vorbei. Rechts von ihnen tat sich eine recht trostlose Brache auf. Eine Durststrecke, die sie größtenteils mit Schweigen überbrückten. Schließlich erreichten sie bewohntes Gebiet, das sich beiderseits der Westendstraße erstreckt und von einer Trambahn erschlossen wird. Friedenheim heißt dieses Gebiet. Oskar gefällt dieser Name. In der nun wieder etwas heimeligeren Atmosphäre fasste er sich ein Herz und fragte die Dame aus Salzburg: „Wie heißen Sie?“

„Was tut das zur Sache?“ wehrte die Dame brüsk Oskars Frage ab. „Wir sind hier wegen Grete Trakl und nicht wegen mir. Glauben Sie ja nicht, dass sich mich verführen können! Wir teilen eine Leidenschaft für die Trakls, diese tragischen Geschwister, aber nicht mehr!“

Diese Direktheit hatte Oskar nicht erwartet. Er wünschte sich, nach dieser abweisenden Erwiderung seiner Frage seitens der Dame, nichts sehnlicher herbei als seine Einsamkeit. Er richtete seinen Blick nach vorne und stellte zu seinem Entsetzen fest, dass die Westendstraße einen weiteren Knick nach Süden vollführt, sich also endgültig von ihrer westlichen Bestimmung abwendet. Sie verliert sich nun vollends in der weiten Unordnung der Welt und trudelt ordnungs- und richtungslos ihrem Ende entgegen. Mit einem letzten Kraftakt überquert sie die Autobahn und ergießt sich schließlich, wie ein Fluss, der seine Ufer verliert, in den Münchner Westpark.

Mit einem letzten Kraftakt überquert die Westendstraße die Autobahn, bevor sie sich in den Westpark ergießt

Mit einem letzten Kraftakt überquert die Westendstraße die Autobahn, bevor sie sich in den Westpark ergießt

Gibt es eine Rettung aus dieser uferlosen Wirrnis, in die Oskar mit der Dame aus Salzburg hineingeraten ist? Wie eine reissende Flut will die Westendstraße die beiden in den Westpark hineinspülen. In dieser Not spürt Oskar plötzlich eine Verbundenheit mit der Dame aus Salzburg. Er packt ihren Arm und rettet sich mit ihr in einen kleinen Weg, der rechts abbiegt und sie in den Schutz hoher Bäume bringt. Oskar ist froh, nicht im Westpark zu ertrinken und atmet erleichtert auf, während die Dame etwas pikiert ihren Arm von Oskars Griff befreit. Dunkel führt der Weg sie nun durch die Bäume hindurch. Plötzlich taucht eine Lichtung auf, auf der ein altes, großes Gebäude zu schlafen scheint. Die Dame aus Salzburg sieht Oskar mit großen Augen an, aber Oskar bringt kein Wort heraus. Seine Augen werden genauso groß wie die der Dame, als er auf das Gebäude auf der Lichtung sieht, so überraschend kam es in seinen Blick.

„Wohin führen Sie mich? Ich habe Angst!“ ruft die Dame.

„Schauen Sie! Schauen Sie! Hier ist sie, die Kuranstalt Neufriedenheim für nerven- und gemütskranke beider Geschlechter. Schauen Sie doch, wie Ernst Rehm mit Grete Trakl aus der Tür kommt und sie in den Garten führt!“

Ehemalige Heilanstalt Neufriedenheim

Ehemalige Heilanstalt Neufriedenheim

Oskar dachte kurz daran, dass es nun viel besser wäre, seine Einsamkeit aufzusuchen und die Dame aus Salzburg zu verlassen. Sich wie die Westendstraße in den Westpark zu ergießen und sich in den grünen Weiten zu verlieren. Wieso war er mit ihr in den Waldweg zu dieser Lichtung geflüchtet? Wieso war er nicht vor ihr geflüchtet? Ohne weiter nachzudenken, zu seiner eigenen Überraschung, packte er die Dame an den Schultern, drückte seinen Mund an ihr Ohr und sagte: „Margarethe, ich liebe Sie!“ Was tat Oskar da? Er erschrak vor seinen eigenen Worten. Würde ihm seine Einsamkeit jemals wieder Schutz bieten, wenn er sich so unvorsichtig verhält?

Die Dame aus Salzburg blieb regungslos stehen und starrte auf das Gebäude auf der Lichtung vor ihnen. Ohne sich zu Oskar umzudrehen, ohne darüber überrascht zu sein, dass Oskar sie Margarethe nannte, sagte sie: “ Sagen Sie bitte dich, nicht Sie. Ich liebe dich. Denn das sagte Georg Trakl auch zu seiner Schwester: Ich liebe dich! Aber er nannte sie Grete, nicht Margarethe. Grete nannte er sie.“ Sie löste sich aus Oskars Umklammerung, was Oskar, wie paralysiert vom Moment, ohne Widerstand geschehen ließ. Sie kletterte über den Zaun und ging auf das Gebäude zu. Oskar vernahm jeden ihrer Schritte, er spürte, wie das Gras unter ihren Füßen wogte. Sie war ein weißer Engel, von hellem Licht umgeben. Es waren hundert Jahre vergangen, seit Grete Trakl hier gewesen war, und trotzdem hätte er schwören können, dass er Grete Trakl über das Gras gehen sah. „Grete!“ sagte Oskar, so als hätte ihm ein inneres Drehbuch das vorgeschrieben.

Kurz bevor Grete das Gebäude erreichte, sank sie mit ihren Knien auf das Gras und fing bitterlich zu weinen an. In das Weinen mischte sich das Rascheln der Blätter an den Bäumen, das Oskar wie süße Musik vernahm. Er fragte sich, ob man gemeinsam einsam sein kann. Hatte er nun seine Einsamkeit wieder gefunden? War er noch Oskar, oder war er Georg Trakl? Wo war Ernst Rehm? Kann er denn nicht helfen? Nein, niemand kann helfen, in dieser Einsamkeit des Moments, weil der Moment geschieht, ohne Hilfe zu brauchen. Er sah auf den weißen Engel, der im hellen Licht im Gras kniete: Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung…

Heilanstalt Neufriedenheim
Frühling der Seele