Alle Beiträge von EmilHinterstoisser

Das Sein in seinen Verschiedenheiten

Vorderbrandner ist wieder in eine Sinnkrise verfallen. Das merke ich sofort, als ich ins Büro komme. Lustlos sitzt er vor seinem Laptop, die Bücher links und rechts davon gestapelt.

„Was ist denn los?“

„Das Verb. Das Verb! Ich bin ein Bezweifler seiner Existenzberechtigung: Alles ist. Wozu braucht es mehr Verben als sein?“

„Ist nicht alles verschieden in seinem Sein? Benötigen wir dafür die weiteren Verben, um diese Verschiedenheit zu beschreiben?“

„Dafür gibt es die Nomen: Ich bin Vorderbrandner, du bist Hinterstoisser.“

„Ich habe eine Idee: Wir führen für jeden ein neues Verb ein. Das wird der Wirklichkeit gerechter. Du, Vorderbrandner, bist nicht, sondern zwist, weil du immer den Zwist suchst. Zwisten – ein neues Verb, nur für dich!“

„Und du, Hinterstoisser, bist der große Allmächtige. Du bist, über allem Zwist.“

„Ich weiß nicht was ich. Es gibt noch kein Verb für mich. Das wäre doch eine Aufgabe, ein Verb für mich zu finden!“

Den Rest des Tages lauschen wir Ernst Jandl bei der Rezitation seines Gedichts auf dem land und hoffen, dadurch neue Verben zu finden:

Ernst Jandl: auf dem land

b.w.gung

Bei mir in der Straße hat ein neuer Laden eröffnet. Auf dem Schild steht: b.w.gung. Ich bin ein neugieriger und offener Mensch, deshalb will ich unbedingt mal in diesen neuen Laden hineinschauen. Ich bin auch ein vorsichtiger Mensch, deshalb mache ich mir vorher meine Gedanken über diesen Laden, bevor ich hineinschaue.

Es wird wohl ein Chinese namens Gung sein, der diesen Laden führt, denke ich. Ich habe nichts gegen Chinesen, im Gegenteil, ich bin neugierig auf andere Kulturen und offen ihnen gegenüber. Aber man stelle sich nur vor, ich betrete den Laden des Herrn Gung und dann steht da zum Beispiel ein Afghane und ein Syrer drinnen. Das wäre eine schwierige Situation, ein Zusammenstoß der Kulturen, auf den ich mich natürlich vorbereiten sollte.

Heute morgen, als ich an dem Laden vorbeigehe, denke ich mir, dass es sich nicht lohnt, so viel zu denken, und ich gehe spontan in den Laden des Herrn Gung. Im Laden begrüßt mich ein Mann, der so gar nicht aussieht wie ein Chinese. Eher wie ein stinknormaler Deutscher. Ich frage den Mann, ob Herr Gung da sei.

„Herr Gung?“

„Ja, Herr Gung. Der Laden heißt B.W.Gung, also nehme ich an, dass er von Herrn Gung geführt wird.“

„Sie haben eine blühende Phantasie“, sagt der Mann und lächelt. „Benedikt Wegener ist mein Name. Freut mich, dass Sie mich besuchen! Der Name meines Ladens steht für Be-we-gung. Ich habe mich der Bewegung verschrieben, weil ich finde, dass sich die Menschen zusehends zu wenig bewegen und nur noch vor ihren Laptops, Tablets und Smartphones sitzen.“

Ich schaue mich im Laden um.
„Sie betreiben also ein Fitnessstudio? Aber sie habe ja gar keine Geräte!“

„Mit Bewegung meine ich das Voranschreiten im Freien, also dreidimensionales Gehen ganz ohne Brille. Ich gehe mit den Leuten herum und zeige ihnen die Phänomene unserer Erde in Echtansicht.“

Herr Gung geht mit mir aus dem Laden und zeigt auf einen Baum auf der anderen Straßenseite: „Sehen Sie die Blätter dieses Baumes, wie sie sich im Wind bewegen?“
Benedikt Wegener geht über die Straße zum Baum. Ich folge ihm.
„Ich habe meiner vier Monate alten Tochter die grünen Blätter gezeigt, wie sie sich im Wind bewegen. Sie war fasziniert, geradezu hingerissen. Da kam mir die Idee für meinen Laden.“

Ich habe mich, wie gesagt, gewissenhaft vorbereitet auf den Besuch im Laden Benedikt Wegeners, der für mich doch immer Herr Gung bleiben wird. Ich habe mit vielem gerechnet: mit chinesischem Deutsch, mit Afghanen und ihren verschleierten Frauen, mit Syrern die Messer zücken. Aber nicht mit grünen Blättern, die sich im Wind bewegen. Ich sollte mich öfter überraschen lassen.

Das Wogen und das Ruhen der Menschheit

Vorderbrandner hat zu sich geladen, zum philosophischen Gespräch. Ich gehe immer mit einem gewissen Widerwillen zu diesen Abenden, denn ich finde: Während Vorderbrandner spricht, passiert das Leben.

Vorderbrandner sitzt in seinem Stuhl und sucht mit ausladenden Bewegungen seiner Arme und Hände seine Worte:“Die Menschheit bewegt sich in großen, wogenden Wogen, auf der Suche nach ihrer inneren Ruhe und ihrem inneren Gleichgewicht.“

Mitterbichler, der auch in unsere Runde gestoßen ist, sieht ihn an und sagt:“Die innere Ruhe meiner Kinder würde mir oft schon reichen zum Glück, der Rest der Menschheit soll in großen Wogen wogen, meinetwegen.“

„Wie kannst du von deinen Kindern verlangen, dass sie zu ihrer inneren Ruhe finden, während die Welt um sie herum unruhig wogt? Die Menschheit ruht und wogt gemeinsam, niemand kann sich da ausschließen. Vielleicht ist das schwer zu akzeptieren. Manche halten es nicht aus, das Wogen und das Ruhen, und dann schießen sie, mitten hinein in die wogende und ruhende Menge, so als wollten sie ausbrechen aus etwas, aus dem es kein Ausbrechen gibt, weil es ihr Leben ist. Vergewaltige deine Kinder nicht, Mitterbichler, lass sie wogen und ruhen im Rhythmus der Menschheit!“

„Vorderbrandner, red nicht solchen Käse! Du hast keine Kinder, die dir schlaflose Nächte bereiten, die dich jeden Tag aufs Neue herausfordern mit ihrer schonungslosen Art, dir deine Schwächen aufzuzeigen.“

„Nein, ich habe keine Kinder. Aber trotzdem schlaflose Nächte. Kürzlich, in so einer schlaflosen Nacht, ist mir bewusst geworden, warum viele Männer schwul werden. Aus Angst. Nicht aus Angst vor den Frauen, sondern vor ihrer eigenen Männlichkeit. Ich komme aus einem Landstrich, da bekommen die Männer folgende Vorgaben für ihre Männlichkeit: Es gibt die Jungfrau Maria, die es anzubeten gilt. Gedanken an Sex mit ihr sind streng verboten und moralisch äußerst verwerflich. Alle anderen Frauen aber haben sich die Männer untertan zu machen und mit ihrer Stärke zu dominieren. Männer haben keine Schwächen, Schwächen haben nur die Frauen. Gleichzeitig glauben auch viele Frauen an dieses Bild der Männlichkeit, sie unterwerfen sich ihm, glauben an ihre Schwachheit und eifern dem Ideal der unbefleckten Jungfrau Maria nach. Manche Männer nun, die mit diesem Rollenverständnis nicht zurecht kommen, suchen ihr Heil in gleichgeschlechtlicher Liebe.“

„Gut Vorderbrandner. Aber was hat das mit meinen Kindern zu tun?“

„Alles hat mit allem irgendwie zu tun. Es hat keinen Sinn, nach Ursache und Wirkung zu suchen. Vielleicht würde ich alles, was ich gerade gesagt habe, nicht mehr sagen. Aber ich habe es gesagt. Der Landstrich, aus dem ich komme, hat mich so geprägt, dass mein Verhältnis zu Frauen ein schwieriges ist. Doch gleichgeschlechtliche Liebe stellt für mich keine Alternative dar. Ist das der Grund für meine schlaflosen Nächte?“

Mitterbichler trinkt einen Schluck von seinem Wein, während Vorderbrandner beobachtet, wie der Nachhall seiner Worte den Raum erfüllt. Ich nutze diesen Moment der Ruhe, um die Runde zu verlassen. Mein Fahrrad wiegt mich nachhause mit rhythmischen Bewegungen. Josefine ist noch wach, als ich nachhause komme. Sie fällt mir um den Hals, als hätte sie mich sehnlichst erwartet. Ich reisse ihr und mir die Kleider vom Leib, mit der festen Absicht, Kinder zu machen.

Streitbarer Stürmian

Wir, mein Mitarbeiter Vorderbrandner und ich, sind ein kleines Schreibbüro, das sich aber einträglichen Einnahmequellen nicht verschließen will. Ich habe deshalb Vorderbrandner zur Fußball-Europameisterschaft nach Frankreich geschickt, um dort ein Gespräch mit dem deutschen Nationalspieler Stürmian Beinschweiger zu führen.

Ich hatte Vorderbrandner eindringlich gebeten, seine Sprachverliebtheit hintanzustellen, denn es ginge um Fußball und nicht um Sprache, aber Beinschweiger führte ihn mit eloquenter Wortwahl auf Irrwege:

Vorderbrandner: Stürmian Beinschweiger, heute, kurz vor Ihrem 120. Länderspiel für Deutschland…

Beinschweiger: Ich bestreite es.

Vorderbrandner: Das Spiel oder dass Sie es bestreiten?

Beinschweiger: Wie? Ja, ich bestreite es.

Vorderbrandner: Sie bestreiten also das Spiel, und Sie bestreiten, dass Sie es bestreiten.

Beinschweiger: Mir scheint, Sie wollen einen Streit vom Zaun brechen!

Vorderbrandner: Nein, da verstehen Sie mich falsch. Ich bestreite aufs Eindeutigste, dass ich einen Streit mit Ihnen vom Zaun brechen will, jedoch würde mich interessieren, wie Sie Ihre Rolle sehen in diesem Ihrem mutmaßlich bevorstehenden 120. Länderspiel für Deutschland, dass Sie, wie ich nach wie vor annehme, bestreiten werden, ohne dies zu bestreiten?

Beinschweiger: Was ist das für eine Frage? Das ist doch ein Widerspruch: Wie kann ich ein Spiel bestreiten, ohne es zu bestreiten?

Vorderbrandner: Nun, das ist wiederum eine Frage, die Sie aufgeworfen haben, und ich fürchte, wir werden diesen Widerspruch nicht so schnell auflösen können, da uns die deutsche Sprache, die Sprache dieses Landes, für das Sie in Kürze Ihr 120. Länderspiel bestreiten werden, eine Falle gestellt hat, in der wir, wie es scheint, gefangen sind. Im übrigen sagte ich aber nicht, dass Sie ein Spiel bestreiten, ohne es zu bestreiten, sondern dass Sie ein Spiel bestreiten, ohne dies zu bestreiten.

Beinschweiger: Wollen Sie mich nun etwas fragen oder nicht?

Vorderbrandner: Nach unserem bisherigen Gespräch liegt es mir auf der Zunge zu sagen, dass ich es natürlich nicht bestreite, Sie etwas fragen zu wollen, jedoch sollten Sie dazu die Bereitschaft zeigen, etwas antworten zu wollen, ohne uns in sprachliche Widersprüche zu verwickeln, die ein klar festgelegtes Frage-Antwort-Schema nicht zulassen.

Beinschweiger: Hören Sie, ich habe keine Lust, mit Ihnen zu streiten. Stellen Sie anständige Fragen, die ich beantworten kann, oder ich breche das Gespräch ab!

Vorderbrandner: Streiten und bestreiten, unser Gespräch scheint zwischen diesen Polen zu pendeln. In jedem Fall wünsche ich Ihnen alles Gute für Ihr 120. Länderspiel für Deutschland, das Sie, wie ich hoffe, verletzungsfrei bestreiten werden. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Bestreiten

Sommermärchen, immer wieder

Deutschland ist seit 2006, seit der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land, ein Sommermärchenland. Da wurde gefeiert und Fahnen wurden geschwenkt. Eine Selbstberauschung historischen Ausmaßes.

Ich bin vernarrt in den Fußball, in seine Athletik, in seine Taktik. In seine Einfachheit, in seine Komplexität. Ich liebe dieses Spiel.

Als der letzte Elfmeter geschossen war, zogen sie laut und grölend durch die Straßen und betranken sich noch mehr, als sie ohnehin schon waren. Eine Selbstberauschung historischen Ausmaßes. Sind wir im Krieg gegen andere Nationen, oder war es nur ein Fußballspiel?

Ich habe gelesen: In Frankreich, der Grand Nation, also der Nation der Nationen überhaupt, zumindest laut Selbstdefinition, gehen sie ins Bistro und schauen sich ein Fußballspiel an, ohne grölend die Fahnen zu schwenken, einfach so. Und danach reden sie miteinander und gehen nachhause. Ja, geht denn das? fragt da der Deutsche. Wo bleibt denn da das Sommermärchen? Und zieht fassungslos weiter, mit einer Flasche Bier in der Hand.

Ich brauche den Fußball, aber brauche ich dazu die National-Mannschaften? Ich habe gelesen: Patriotismus ist, wenn man sein Land liebt. Nationalismus ist, wenn man die anderen Länder hasst. In Tagen des Brexit, des Aufschwungs der Rechtspopulisten, löst der Begriff der Nation bei mir Angst aus. Angst vor Abgrenzung und Isolation.

Müssen jetzt auch noch die National-Mannschaften gegeneinander spielen? – Beruhige dich, Emil: Es ist alles nur Fußball, sagt eine innere Stimme zu mir. Na denn: Prost Sommermärchen!

BRD gegen UdSSR 1972

Entwurf von Regeln für das Durchschreiten von Parkanlagen

Oskar, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, ist von der tiefen Überzeugung durchdrungen, dass Regeln dazu da sind, eingehalten zu werden. Die Welt ist ein wohlgeordnetes Universum, das mathematischen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Wenn diese noch nicht ausreichend erforscht und durchdrungen sind, gilt es, sich mit Verhaltensregeln zu behelfen, um der wohlgeordneten Ordnung der Welt nicht im Wege zu stehen. Dies ist, grob umrissen, Oskars Postulat für eine wohlgeordnete Welt.

Um seinem Kopf ein wenig Erholung von seiner Studierstube zu geben, war Oskar in den Park gegangen. Dort fand er, am Beginn eines neu angelegten Weges, folgendes Schild vor:

Schrittgeschwindigkeit

Zweifellos handelt es sich hier um eine Verhaltensanweisung, die Oskar nun, gemäß seines Postulats einer wohlgeordneten Welt, gewillt war zu befolgen. Doch er sah sich mit einer großen Schwierigkeit konfrontiert, was die Befolgung der Verhaltensanweisung betrifft: Was ist Schrittgeschwindigkeit, wie definiert sie sich? Die Menschen gehen unterschiedlichen Schrittes: schleichenden Schrittes, laufenden Schrittes, zum Beispiel. Überhaupt bietet Sprache hier keinen Anhaltspunkt. Denn würde auf dem Schild spezifiziert stehen Schleichende Schrittgeschwindigkeit, so böte das wieder unendliche Interpretationsmöglichkeiten. Was für den einen ein Schleichen ist, ist für den anderen bereits rasende Geschwindigkeit. Es würde einzig und allein eine präzise mathematische Angabe helfen, mit welcher Geschwindigkeit man den Weg zu durchschreiten habe, wobei man hier wieder einen präzisen Geschwindigkeitsmesser bei sich haben müsste, um sicher zu gehen, den Weg nicht mit zu niedriger oder zu hoher Geschwindigkeit zu durchschreiten. Kann man der Bevölkerung zumuten, sich für ihre Parkspaziergänge einen Geschwindigkeitsmesser zu besorgen, um die Wege mit der vorgegebenen Schrittgeschwindigkeit zu durchschreiten?

Oskar fühlte sich im Stich gelassen. Was soll diese unpräzise Verhaltensanweisung auf dem Schild vor ihm, die er sich unfähig fühlte zu befolgen! Kurz überlegte er, ob er den Weg laufenden Schritts durchschreiten sollte, um so die Zeit zu vermindern, in der er einer externen Beobachtung einer eventuellen Regelwidrigkeit ausgesetzt war. Er streckte seinen Hals und schaute kurz den Weg entlang, für den die unpräzise Verhaltensanweisung galt. Er konnte kein Ende der Verhaltensanweisung erspähen. Also unterließ er es, den Weg laufenden Schrittes zu durchschreiten, da ihn die Vorstellung zu sehr beunruhigte, eine langandauernde eventuelle Regelwidrigkeit zu begehen. Es bestünde dann ein erhöhtes Risiko, dass ihn ein externes Regelorgan wie etwa ein Polizist dabei ertappte. Es würde schwierig sein, diesem sein Verhalten zu erklären, da er ja nicht einmal für sich hinreichend würde falsifizieren können, keine Regelwidrigkeit begangen zu haben.

Oskar machte kehrt und ging nachhause. Zuhause setzte er sich sogleich an seinen Schreibtisch und begann einen Aufsatz zu schreiben mit dem Titel: Entwurf von Regeln für das Durchschreiten von Parkanlagen.

Walentin Worderbrandner

Ich kam zur Tür herein und Vorderbrandner schaute mich missmutig an. Er sagte: „Ich zweifle an der Sprache – an ihrer Fähigkeit, irgendetwas zu sagen.“

„Ich weiß.“

„Was? Du weißt?“

„Heute ist Donnerstag, Redaktionstag, da zweifelst du regelmäßig an der Sprache, weil du etwas Geschriebenes liefern sollst.“

„Das meine ich nicht. Ich meine es wirklich ernst diesmal mit dem Zweifel. Gut dass du Geschriebenes erwähnst: Ich meine nämlich vor allem die geschriebene Sprache, an der ich zweifle. Wie kann etwas Geschriebenes etwas aussagen, wenn es sich durch nichts ausdrücken kann als durch Schrift, durch etwas Totes wie Schrift?“

„Weil du mit deinen Gedanken und deinen Gefühlen hinter dieser Schrift stehst und ihr etwas Lebendiges dadurch gibst.“

„Danke für die Belehrung, Herr Oberlehrer!“

„Du hast Recht. Ich wollte gerade etwas Weises sagen. Meist kommt Wirres dabei heraus. Aber es ist egal. Wichtig ist doch nur, welches Bild in meinem Kopf ist, das ich transportieren will. Ob das Bild, das ich im Kopf habe, beim Leser ankommt, ist eine andere Frage. Es ist als Schreibender bereits ein Riesenerfolg, wenn mein Bild überhaupt gelesen wird und irgendein Bild im Leserkopf kreiert wird.“

„Vielen Dank für das Kurzreferat! Ich betitle es mit: Das Wisuelle.“

„Das gefällt mir, Vorderbrandner: Das Wisuelle. Das ist ein noch viel passender Begriff als Das Bild. Es ist das Ganze: die Gedanken, die Gefühle – ist mir warm, ist mir kalt, bin ich verliebt, bin ich verlassen worden.“

„Das W machts eben – mit V wär es wieder nur ein Bild, das Visuelle.“

„Schön dass dir das W gefällt.“

„Gefallen? Ich arrangiere mich mit deinem W-Tick.“

„Mag sein, dass ich einen W-Tick habe. Aber die Welt hat einen noch viel größeren Tick: einen WWW-Tick. Alles hängt nur noch am Netz. Aber ich muss in der Tat aufpassen mit meinem W-Tick: Erinnerst du dich an Valentina, die mal zu uns stoßen wollte? Die hat es sich dann anders überlegt, als ich ihr mein WWW-Konzept (Weises, Wirres, Wisuelles) erläutert habe, weil sie plötzlich dachte, sie müsste sich fortan Walentina nennen, um mit mir zu arbeiten.“

Weises wirres wisuelles

„Nur deswegen ist sie nicht geblieben?“

„Ich glaube schon. Vielleicht ist es besser. Könnte sein, dass ich wohl nur scharf war auf Walentinas Wagina – oder Valentinas Vagina, das ist mir jetzt einerlei – und nicht auf ihre Schreibkünste.“

„Und sie auf Peters Penis und nicht auf deinen.“

„Vorderbrander, du machst dich! Haben wir deine Zweifel an der Sprache nun ausgeräumt?“

„Ich zweifle, dass ich nicht zweifle.“

„Solange du mir nicht sagst: ‚Ich lebe, dass ich nicht lebe‘, ist alles halb so schlimm. Ich werde dir deine Zweiflereien schon austreiben! An die Arbeit! Und verzeih mir, wenn ich dich ab jetzt manchmal Walentin Worderbrandner nenne!“

Unterwegs nach St. Petersburg

Ich bin wütend und brülle die Frau an: „Setzen Sie sich gefälligst auf Ihren Platz, und kommen Sie nicht mehr auf die Idee, ihn jemandem anzubieten! Niemand will auf Ihrem Platz sitzen! Sie haben das auszuhalten, dass Sie dort sitzen und sonst niemand dort sitzen will! Sie soziale Vergewaltigerin, Sie kümmergenisierter Krüppel!“

Ich sehe mich im Waggon um. Es herrscht Stille und alle sehen mich an. Ich setze mich auf meinen Platz und kann meinen Atem hören. Meine Wutrede hat mich angestrengt. Ich sehe zum Fenster hinaus. Die Landschaft zieht vorüber. Meine Wutrede hat mich durcheinandergebracht. Wo war ich stehen geblieben mit meinen Gedanken? – Die russischen Zaren haben St. Petersburg erbaut und zur Hauptstadt gemacht, um Russland näher an Europa heranzuführen. Was hat die russischen Zaren zu dieser Weltoffenheit getrieben, zu diesem Interesse für Europa, um eine neue Stadt in einer Sumpflandschaft mit Überschwemmungsgefahr zu bauen? Heutzutage will jeder raus aus Europa, zum Beispiel die Briten, und die Russen bauten sich einst eine neue Hauptstadt, um nach Europa zu kommen!

Nach jeder Haltestelle blicke ich auf, zu der Frau hinüber, ich blicke auf, ob jemand eingestiegen ist und sie wieder jemanden nötigt, ihren Platz einzunehmen, um ihr soziales Gewissen zu beruhigen. Bevor ich mich wieder den Gedanken widme, die mir eigentlich wichtig sind, sollte ich erklären, was mich so entzürnt hat an dieser Frau und mich wütend auf sie einbrüllen ließ: Sie ist wohl etwa dreißig Jahre alt und hat durchaus hübsche Anlagen, aber es strahlt eine innere Unzufriedenheit aus ihren Augen, die ihre hübschen Anlagen überlagert. An einer Haltestelle war nun eine andere Frau eingestiegen, vermutlich etwa doppelt so alt wie die eine Frau, die an ihrem Platz sitzt mit der Unzufriedenheit in ihren Augen. Die jüngere Frau erhob sich von ihrem Platz und forderte die ältere Frau auf, ihren Platz einzunehmen. Die ältere Frau verweigerte sich höflich dieser Aufforderung. Die jüngere Frau bot erneut ihren Platz an, worauf die ältere erneut verweigerte. Das ging so weiter, bis die jüngere die ältere unerbittlich anflehte, sie möge doch bitte ihren Platz einnehmen, denn sonst fühle sie sich so schlecht, und das würde sie nicht aushalten. Es war eine Nötigung in ihren Worten, in ihren Gesten, in ihren unzufriedenen Augen, mit der sie die ältere Frau zwingen wollte, ihren Platz einzunehmen. Ich hatte während dieser ganzen Szene versucht, an St. Petersburg zu denken, doch es fiel mir immer schwerer, bis ich schließlich vollkommen von der Szene erfasst wurde und zu meiner Wutrede ansetzte.

Nun herrscht Ruhe im Waggon. Die ältere Frau hat sich etwas entfernt und lehnt an einer durchsichtigen Trennwand. Wo war ich stehen geblieben? Bei den Sumpfgebieten, auf denen St. Petersburg erbaut wurde? Ich weiß es nicht mehr. – In jedem Fall steht da also nun St. Petersburg, auf diesen ehemaligen Sumpfgebieten, immerhin die viertgrößte Stadt Europas. Es scheint ziemlich allein zu stehen in einem Europa, das keiner mehr zu haben scheinen will. Ich versuche, nicht aufzublicken zu der Frau, denn ich merke, dass meine Gedanken kompliziert werden und einige Konzentration erfordern. Wäre da nicht diese Unzufriedenheit in den Augen dieser Frau, ich würde mich nicht wehren können gegen den Impuls, zu ihr aufzublicken und durch ihre Augen ihre hübschen Anlagen zu erspähen. Doch so schaffe ich es, bei meinen Gedanken zu bleiben: Europa und die Nationen. Ist die Nation ein politisch gewollter Begriff, oder ist sie eine menschliche Notwendigkeit? Der Mensch tobt sich aus, und um dieses Austoben zu legitimieren, schafft er die Nation, um gegen andere Nationen Krieg zu führen. Der Feind sucht sich leichter anderswo als in sich selbst. Ist die junge Frau mein Feind?

Nein! Ich will mich nicht ablenken lassen, schon gar nicht von dieser Frau, die mich so wütend gemacht hat mit ihrer sozialen Vergewaltigung. Nein! Stattdessen denke ich: Ich fahre nicht so oft nach St. Petersburg, weil ich denke: Nur wenn ich russisch sprechen kann, verdiene ich es, St. Petersburg zu betreten. Bin ich zu streng zu mir?

Der Zug hält. Die ältere Frau steigt aus. Die jüngere wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich atme tief durch, weil ich mich schäme für meinen Wutanfall. Wieso machte mich diese Frau so wütend und jetzt so beschämt? Ich spüre neue Wut in mir hochkommen, weil es mir nicht gelingt, ihre hübschen Anlagen wahrzunehmen hinter diesen unzufriedenen Augen.

Agathes Fahrrad und die Sterne hinter ihr

Ich bin froh um Vorderbrandner. Er ist so etwas wie ein Bruder für mich. Ich habe mir als Kind immer einen Bruder gewünscht, am liebsten einen Zwillingsbruder. Und wenn ich an eigene Kinder denke, würde ich am liebsten Zwillinge haben. Ein einzelnes Kind stelle ich mir so einsam vor in seiner Welt. Woher kommt diese Einsamkeit?

Ich gehe mit Vorderbrandner die bevölkerte Straße entlang. Ich bemerke eine gewisse Aufregung bei ihm. Als ich ihn darauf anspreche, sagt er: „Die Welt dreht sich nur um Muschis und Schwänze.“

Was für eine Frau ist jetzt in seinem Kopf? Immer wenn er mit solchen Allgemeinplätzen rausrückt, drückt ihn etwas ganz Bestimmtes. Ich sage: „Du hast Recht. Die Welt dreht sich um Muschis und Schwänze. Ich finde diese Welt eine sehr anregende Welt, auf die ich jeden Tag aufs Neue gierig, neu-gierig bin. Ich habe nichts als Frauen im Kopf. Durch sie küsst mich die Muse, durch sonst nichts.“

Schweigend gehen wir weiter die bevölkerte Straße entlang. Vorderbrandner denkt an eine Frau, da bin ich mir sicher. Ich bin mir außerdem sicher, dass Frauen über das Leben bestimmen. Weil die Männer das nicht glauben wollen, erfinden sie unsinnige Geschichten, um Frauen zu unterdrücken. Und weil die Frauen schon so lange unterdrückt werden, haben viele von ihnen es sich zum Ziel gesetzt, die Männer zu unterdrücken.

Plötzlich bleibt Vorderbrandner vor einem Fahrrad stehen. Es ist ein altes schwarzes Damenfahrrad, mit einer gewissen Patina, aber elegant.

„Das ist ihr Fahrrad“, sagt er. „Das ist Agathes Fahrrad.“

Jetzt ist die Katze also aus dem Sack: Agathe heißt die Frau, um die es geht.

„Das ist das Fahrrad, mit dem sie mit mir durch die Nacht flaniert ist, durch diese laue, sternenklare Nacht letzten Sommer. Ich glaube, das ist ihr Fahrrad – nein, ich bin mir sicher: Das ist ihr Fahrrad! Ich sehe sie darauf sitzen, mit Eleganz, Anmut und Sinnlichkeit, und hinter ihr funkeln die Sterne.“

Vorderbrandner betrachtet das Fahrrad und erlebt noch einmal seine laue Sommernacht mit Agathe. Sein Blick sagt mehr als er jemals beschreiben könnte. In seinen Augen funkeln die Sterne dieser Nacht.

Er redet weiter: „Ich weiß gar nicht, ob ich Agathe noch erkennen würde. Ich habe sie nicht mehr gesehen seit dieser Nacht letzten Sommer. Aber in meinem Kopf ist sie ständig da. Was macht sie mit mir? Bin ich verliebt in diese Nacht, oder bin ich verliebt in Agathe?“

Ich bin gerührt von Vorderbrandners Verliebtheit. Er ist verliebt in dieses Leben, das sich um Muschis und Schwänze dreht. Wir bleiben am Fahrrad stehen, während die Leute an uns vorbeigehen, so als wollten wir diesen Moment der Andacht in die Länge ziehen. Bin ich naiv, wenn ich glaube, dass es in diesem Leben um Liebe und nicht um Macht geht?

Ode an Josefine

Josefine kommt zur Tür herein und sieht mich lächelnd und zufrieden im Sessel sitzen.

„Was strahlst du so?“ fragt sie mich.

„Ich habe herausgefunden, warum die naturwissenschaftlichen Fächer in der Schule so eine Qual für mich waren.“

„Und das versetzt dich in so gute Laune?“

„Ich will es dir erklären. Ich versuche es. Die Verdunstung, zum Beispiel. Da steht: Bei einer Verdunstung geht ein Stoff vom flüssigen in den gasförmigen Zustand über, ohne dabei die Siedetemperatur zu erreichen. Ist das nicht ein Wunder, dass Wasser an der Luft verdunstet? Ich habe weitergelesen über Verdunstung, aber schon bald gab ich auf. Ich bin steckengeblieben bei diesem Wunder, so als würde ich voller Erstaunen beobachten, wie das Wasser aus frisch gewaschener Wäsche an der Leine verdunstet. Und so bin ich immer in den Physik- und Chemiebüchern steckengeblieben, weil ich aus dem Staunen nicht herauskam.“

Ich möchte Josefine noch von der Quelle erzählen, von dem Ort, an dem dauerhaft oder zeitweise Grundwasser auf natürliche Weise an der Geländeoberfläche austritt, und was für ein Wunder das ist, und wie schön es ist, sich am Quellwasser zu waschen und zu erfrischen, doch da geschieht schon das nächste Wunder: Josefine küsst mich leidenschaftlich.

Ich sollte dieses Wunder geschehen lassen, doch bei diesem Kuss, bei diesem oralen Körperkontakt, erwacht der Naturwissenschaftler in mir. Ich sollte in diesem speziellen Fall spezifizieren: der Philematologe.

Wie fühlt sich der Kuss an? Die Grenzen verschwimmen. Wo fange ich an, wo höre ich auf? Wer bin ich überhaupt? Ich weiß es nicht. Ich fühle es. Jeden Tag ist es ein neues Wunder, mich zu erleben, ohne zu wissen, wer ich bin. Ein Herantasten an das Leben, das ist jeder Tag. Dein Betasten meiner Lippen, meiner Haut, meines Körpers, mein Betasten deiner Lippen, deiner Haut, deines Körpers. Ist das nicht ein Wunder?

Ich wollte nichts über Wunder schreiben, weil ich es tunlichst vermeide, über Wunder zu schreiben. Wunder geschehen. Dennoch kann ich es nicht lassen, mit dem Schreiben. Ich weiß einen Ausweg: Ich lasse Musik sprechen. Vielleicht kann sie Wunder besser beschreiben: Ode an Josefine!