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Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?

Birke bei den Brücken

eine Bildergeschichte

Birken wachsen gern in Gruppen. Meist unter sich, aber auch gemeinsam mit anderen Bäumen.

Ich weiß nicht, woher ich das weiß. Vielleicht glaube ich es auch nur. Jedenfalls ist es für mich eine Wahrheit.

Umso mehr erstaunt es mich, als ich die einsame Birke entdecke: Ich gehe, wie so oft, den Bach entlang, unter den Autobrücken hindurch, und da nehme ich sie plötzlich wahr, wie sie zwischen den Brücken steht: die einsame Birke. Als hätte sie gerade jemand hingepflanzt. Jedenfalls kommt sie neu in meine Welt und erschüttert meine Wahrheit über Birken als Gruppengewächse.

Mit grenzenlosem Erstaunen schaue ich zur Birke hoch. Ist das wirklich wahr, diese birkige Einsamkeit? Ich brauche Abstand, um das zu prüfen. Vielleicht täuschen mich ja meine Augen, hier unter den Brücken.

Ich gehe auf die andere Seite des Bachs. Ich betrachte die Birke von der gegenüberliegenden Seite, oberhalb der Brücken, wo ihre Einsamkeit nicht so einsam wirkt und die Brücken nicht so brückig.

Doch dieser Blick stellt mich nicht zufrieden. Ich weiß, dass er nicht der Wahrheit entspricht, hinter der ich her bin. Ich will der Birke wieder näher kommen. Autos rauschen über die Brücken an ihr vorbei. Ich warte einen verkehrsfreien Moment ab, überquere die Fahrbahn, um mich der Welt der einsamen Birke wieder zu nähern.

Mein neuer Anblick ist nur eine Momentaufnahme, denn es treibt mich weiter. Ich krieche an den Brücken hinunter ans Ufer des Bachs. Dort schleiche ich herum und weiß nicht recht, wie mir geschieht.

Dunkel ist es unter den Brücken, obwohl die Sonne scheint. Ich bekomme Angst und kauere mich auf den Betonsockel am Ufer. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit zur einsamen Birke gegenüber. Ich bezweifle nicht mehr ihre Existenz. Ich erkenne mich selbst in ihr. Ich spüre meine Angst vor dem Isoliertsein, vor dem Getrenntsein, vor dem Nichtverbundensein.

Doch statt in eine Angststarre zu verfallen, gehe ich zum mutigen Angriff über. Ich springe in den Bach und schwimme zur Birke hinüber. Ich hätte oben über eine der Brücken zu ihr gehen können, aber das hätte viel zu lang gedauert und den rollenden Autoverkehr auf den Brücken nur unnötig in unsere Beziehung involviert. Außerdem hätte das meiner Gefühlslage nicht entsprochen. Denn ich kann mich unmöglich von der Birke wieder entfernen, keinen Zentimeter, so hingezogen fühle ich mich zu ihr. Ist es Liebe?

Durchnässt steige ich am anderen Ufer aus dem Bach, gehe zur Birke und umarme ihren Stamm. Bang frage ich sie: Birke, wie hältst du das aus, immer so alleine zwischen den Brücken?

Ich bin nicht alleine, sagt die Birke: Der Bach fließt an mir vorbei. Als ich klein war, war es sehr windstill und dunkel unter den Brücken, und er mein einziger Begleiter. Er sagte zu mir: Schau nach oben – der Himmel ist über dir. Durch ihn ist alles mit allem verbunden. Ich wuchs dem Himmel entgegen, über die Brücken empor. Seit ich größer bin, spüre ich den Wind. Manchmal kommt er von meinen Geschwistern, die etwas weiter nördlich stehen, und sie grüßen mich. Manchmal geht er von mir zu ihnen, und ich grüße zurück. Und manchmal bringt er mir etwas ganz Neues, der Wind. So ist jeder Tag ein Erlebnis, hier bei den Brücken.

Skrupellos durch die Welt

Ich irre planlos durch meine Welt. Gefühle und Gedanken schwirren kreuz und quer herum und gerade als ich glaube, vollends im Chaos zu versinken, erscheinen als gegensätzliche Pole meiner Welt die Moral und die Freiheit. Sie geben meiner Welt Struktur, die mich ordnet: Da ist die Moral und dort ist die Freiheit. Nichts dazwischen. Nein halt: Ich bin dazwischen. Ich werde zwischen den beiden zerrissen, jedenfalls fühlt es sich so an. Die Moral zerrt an mir und zur Freiheit zieht es mich hin. Die Moral lässt mich nicht los, und so scheint es eine naheliegende Idee, die Moral genauer anzusehen: Die Moral trägt die Bürde von Jahrhunderten, in denen sie genug Zeit hatte, die Menschheit an sich zu ketten. Wäre es nicht sinnvoll, die Moral einfach loszulassen, anstatt sich lange mit ihr zu beschäftigen, und sich der Freiheit zuzuwenden? Oder ist das zu einfach gedacht?

Mir wird das zu kompliziert, zu schwer, und so beschließe ich, mich der Leichtigkeit des Lebens zuzuwenden. Ich schlage die Sportseiten der Zeitung auf. Dort lese ich, dass in New York die offenen US-Meisterschaften im Tennis stattfinden. Es herrscht große Hitze in New York. Deswegen wechseln die Spieler mehrmals während eines Spiels ihr Shirt. Die Männer machen das auf dem Platz und zeigen dem Publikum ihre nackten Oberkörper. Die Frauen gehen dazu in die Katakomben des Tennisstadions. Schade eigentlich, denke ich, denn trainierte Frauenoberkörper wären doch mindestens genauso schön anzusehen wie trainierte Männeroberkörper.

Das dachte sich wohl auch ein Kameramann, denn er folgte einer Spielerin in die Katakomben, filmte sie beim Umziehen und sendete die Bilder live dem Fernsehpublikum. Wozu ging sie dann überhaupt in die Katakomben? Als die Spielerin auf den Platz zurückgekehrt war, bemerkte sie, dass sie ihr Shirt verkehrt herum angezogen hatte. Ohne noch einmal in die Katakomben zu verschwinden (wo sie wahrscheinlich ohnehin wieder gefilmt worden wäre), zog sie das Shirt kurzerhand auf dem Platz aus und richtig herum wieder an. „Hast du gar keine Skrupel?“ rief ihr der Schiedsrichter daraufhin zu und rügte sie.

Skrupel! Das ist das Wort! Das ist das verbindende Element zwischen Moral und Freiheit! Ein Skrupel ist eine auf moralischen Bedenken beruhende Hemmung, etwas Bestimmtes zu tun. Ein Skrupel beraubt einen der persönlichen Handlungsfreiheit. Ein Skrupel sorgt dafür, dass einen die Moral nicht in die Freiheit entlässt. Das bin ich also: Ein Mensch voller Skrupel. Ich spüre schon wieder die Schwere des Themas und kehre sofort wieder zurück zur Leichtigkeit der Sportberichterstattung.

Die Spielerin blickte den Schiedsrichter nach der Rüge zunächst verduzt an, hatte sie doch beim Aus- und Anziehen des Shirts ihre Brüste moralisch einwandfrei mit einem Sport-BH bedeckt gehabt. Dann aber zerriss sie die Ketten der Moral: Sie zog ihr Shirt wieder aus, anschließend auch ihren Sport-BH und rief dem Schiedsrichter zu: „Nein, ich habe keine Skrupel, denn ich bin frei! Und mit deiner Moral will ich nichts zu tun haben!“ Ein Kampf für die Freiheit, den sie da ausrief. Denn warum darf das Publikum nackte Oberkörper von männlichen Spielern betrachten, aber keine nackten Oberkörper von weiblichen Spielern?

Mit dem Zeigen und Betrachten von nackten Körpern scheint die Menschheit ein großes moralisches Problem zu haben. Wie ist es sonst möglich, dass ein Kameramann die Spielerin beim Umziehen in den Katakomben heimlich filmt und die Bilder live dem Fernsehpublikum sendet, die Spielerin draußen auf dem Platz aber gerügt wird, wenn sie ihr Shirt nochmal aus- und anzieht? Einerseits das große Verlangen, andererseits die große Scham.

Die Sportberichterstattung bringt keine Leichtigkeit in mein Leben, im Gegenteil. Sie führt mich mitten hinein in die Schwere der Problematik von Moral und Freiheit. Wieso hängt die Menschheit so an der Moral? Ist die Freiheit zu anstrengend, weil sie Verantwortung für das eigene Handeln einfordert? Ist es leichter, sich der Moral zu unterwerfen anstatt Verantwortung für sich selbst zu übernehmen? Und viele Skrupel zu entwickeln, um eigenverantwortliches Tun zu verhindern?

Nein, nein, nein! Ich will mich der Moral nicht mehr unterwerfen und habe beschlossen, künftig skrupellos durch die Welt zu laufen. Und bei allen moralischen Bedenken, die da noch kommen mögen: Es fühlt sich frei an!

Skrupellosigkeit bei den US-Open

Perfekte Paare

„Filo und Bene trennen sich!“
Vorderbrandner rief mir diese Nachricht zu als eine Weltneuheit, die umfassender Analyse bedarf.
„Hast du gehört: Filo und Bene trennen sich!“

„Ja, ich habe gehört. Was ist denn das für eine Nachricht? Das Erwartbare ist nach langen, quälenden Jahren endlich eingetreten. Zumindest für mich“, sagte ich: „Und was heißt das überhaupt: Sie trennen sich? Hätten sie ihre Vereinigung nicht so ernst genommen, müssten sie ihre Trennung jetzt nicht so ernst nehmen. Die Polarität der Dinge ist eine fatale Falle, die sich das Hirn stellt.“

„Bene zieht aus.“

„Soso, Bene zieht aus. Findet er seine These nun bestätigt?“

„Welche These?“

„Die These, dass der Mann nur der Erzeuger ist, aber mit der Aufzucht des Nachwuchses am besten nichts zu tun haben sollte.“

„Das sagt Bene?“

„Ja, das sagt Bene. Sein Lieblingstier ist der Gepard. Männliche Geparden kümmern sich überhaupt nicht um den Nachwuchs. Das macht das Weibchen alleine. Dieses Rollenmodell, sagt Bene, wäre für die Menschheit ein erstrebenswertes. Was Bene allerdings nicht sagt: Es gilt als wahrscheinlich, dass männliche Geparden ein sehr orientierungsloses Leben führen, weil sie als Junge keine väterliche Führung erfahren.“

„Dann soll also Liliane bei Filo bleiben und Ludwig mit Bene ausziehen?“

„Nein, Schmarren! Li braucht genauso ihren Vater wie Lu seine Mutter. Wir alle, ob Mann oder Frau, tragen männliche und weibliche Anteile in uns.“

„Ist das die Erkenntnis aus deinem letzten Tantra-Seminar?“

„Nein. Das ist meine Überzeugung. Mann und Frau ist genauso eine Polarität wie vereinigen und trennen. Vielleicht sollte man Filo und Bene sagen, dass sie sich nicht trennen sollen. Nicht so permanent, als polare Endlösung. Vielleicht sollten sie mehr changieren zwischen Trennung und Vereinigung. Nicht auf den Polaritäten beharren.“

„Du hast leicht reden. Drückst dich selbst vor jeglicher Beziehung und willst anderen raten, wie sie ihre Beziehung führen sollen. Speziell wenn Kinder da sind, ist es nicht leicht sich zu trennen!“

„Die Kinder! Dann wird auf die Kinder gezeigt! Ein Kind ist nur so glücklich, wie es seine Eltern sind. Kann ein Kind glücklich sein, wenn seine Eltern unglücklich in ihrer Beziehung sind? Das Kind hat ein Recht darauf, nicht in der unglücklichen Beziehung seiner Eltern gefangen zu sein. Und die unglückliche Beziehung, die machen sich die Eltern selbst. Es müsste keine unglücklichen Beziehungen geben, wenn jeder offen wäre für eine glückliche Beziehung. Aber immer sind da diese Vorstellungen und Erwartungen von Glück, die geradewegs ins Unglück führen!“

Ich beendete meinen Vortrag, und auch Vorderbrandner sagte nichts. Dann fiel mir mein Traum von letzter Nacht ein und ich begann, ihn zu erzählen:
„Ich sah Filos und Benes in orange gehaltenes Wohnzimmer mit den grünen Sesseln. Die drei Holzgazellen standen da, die Filo aufgestellt hatte zur Steigerung ihrer Fertilität, weil es doch anfangs mit dem Schwangerwerden nicht geklappt hat. Dann kam Filo in den Raum, ganz in brauner Tarnfarbe gekleidet, und machte merkwürdige Verrenkungen. Sie schien sich auf die Begrüßung von Gästen vorzubereiten. Bald wackelte auch Bene rein, ebenfalls in tarnfarbenem Braun, und schenkte sich erstmal einen ein, um sich auf seine Art auf den anstehenden Abend vorzubereiten. Als erster Gast kam Gusti. Oder heißt sie Gundi?“

„Beides. Sie heißt Auguste Gundula.“

„Auf jeden Fall die mit dem Putzfimmel. Sie nahm gleich nach der Begrüßung den Staubsauger und fing zu saugen an. Schon seltsam, dass mich Filo und Bene hartnäckig mit ihr verkuppeln wollten.“

„Du wärst aufgeräumt gewesen mit ihr.“

„Dann kamst du, mit deiner kackbraunen Strickweste, die du eine zeitlang immer getragen hast.“

„Das ist ja schon ewig her!“

„Ja, ihr wart alle recht jung in meinem Traum. Du kamst tanzend in den Raum, mit der Ungarin, die ganz in grün gekleidet war, dabei aber das Kunststück fertigbrachte, dass der Rock nicht zum Oberteil passte.“

„Mit der kam ich auf die Party, stimmt. Sie sagte, sie will nur mitkommen, wenn wir tanzen. Das war aber keine Ungarin.“

„Mag sein. Aber jeder nannte sie doch Die Ungarin.“

„Und dann?“

„Kamen noch ein paar andere Leute. Auch der Verehrer, den sich Filo immer hielt. Stand draußen am Fenster, hat reingeguckt und getrunken. Seltsam, dass Filo sich immer Trinker hält. Und dann kam Agathe reingehüpft, mit einem kurzen schwarzen Kleidchen und einem Stirntuch in den Haaren.“

„Das ist kein Traum – das war so! Agathe kam zur Tür herein, total aufgedreht, und ist über den von Auguste Gundula bedienten Staubsauger gefallen. Ich saß in einem der grünen Sessel, und sie ist quasi direkt in meinen Schoß gefallen. Damals haben wir uns das erste Mal gesehen. Ich erinnere mich genau. Du warst übrigens nicht auf der Party, hast komisch rumgedruckst. Wolltest wohl Auguste Gundula nicht treffen.“

„Auguste Gundula – was macht die eigentlich?“

„Hat einen rechten Spießer geheiratet, hat mit ihm zwei Kinder und lebt im Reihenhaus im Umland, das sie schön sauber hält. Ein perfektes Paar sozusagen.“

„Ein perfektes Paar? So wie Filo und Bene? Ich will nichts mehr hören von perfekten Paaren!“

„Bist ja bloß neidisch, dass du nicht Teil eines perfekten Paares bist!“

„Ja, wahrscheinlich. Und du und Agathe? Seid ihr auch so ein perfektes Paar?“

„Agathe und ich? Wir sind ziemlich unperfekt. Haben kein Bedürfnis zusammenzuziehen wie es die bürgerliche Konvention für perfekte Paare vorschreibt. Freuen uns jedesmal, wenn wir uns sehen. Wahnsinn eigentlich, dass sie mir damals so in den Schoß gefallen ist. Ich habe das Gefühl, wir sind auf einer Reise, von der wir nicht wissen, wo sie uns hinführt und auf der wir uns immer wieder begegnen. Das ist schön.“

„Eine Frage: War eigentlich die Blondine damals auf der Party, in die ich so verknallt war? Und trug sie einen bunten blumigen Hosenanzug?“

„Daher weht der Wind. Deshalb der Traum. Ich weiß nicht mehr, ob sie da war. Kann schon sein. – Und selbst wenn ich es wüsste: Ich würde es dir nicht sagen. Wärst du damals einfach gekommen, dann müsstest du nach so langer Zeit nicht mehr von ihr träumen! Sondern würdest auf deiner Lebensreise vielleicht von ihr begleitet werden. Oder auch nicht. Jedenfalls würdest du nicht mehr in Sehnsucht nach ihr zergehen und von der perfekten Beziehung träumen.“

Perfekte Paare: Der Traum in Bildern

 

Huckleberry und Klause

Ich bin Künstler und Psychologe, sagt Uteto Fritz, aber ich bezeichne mich selbst gerne als Sprachenergetiker. Neulich bin ich in meinem sprachenergetischen Tun wieder einmal mit der Liebe in Berührung gekommen, als ich Huckleberry und Klause kennenlernte, ein junges Paar, das eigentlich sehr glücklich miteinander ist.

Ihr seht sehr glücklich aus, sagte ich zu ihnen, sagt Uteto Fritz, woraufhin Klause meinte:

Sind wir auch. Aber wir trauen diesem Glück nicht.

Klause – ein sehr ungewöhnlicher Vorname für eine Frau, sagte ich.

Da fängt das Unglück schon an, sagte Klause, bei meinem Vornamen.

Wieso?

Ich habe vier ältere Schwestern, wir sind also fünf Schwestern. Meine Eltern wollten eigentlich nur zwei Kinder. Mein Vater wollte aber unbedingt einen Sohn, sodass sie weitergemacht haben mit dem Kinderkriegen nach der Geburt meiner zweitältesten Schwester, bis endlich ein Sohn auf die Welt kommen würde. Als ich auf die Welt kam, als fünftes Mädchen, sagte meine Mutter zu meinem Vater: „Klaus, ich mag nicht mehr! Fünf Kinder sind genug, auch wenn kein Junge dabei ist. Ich habe einen Vorschlag: Lass uns unsere Jüngste doch Klause nennen, so wie Simon und Petra eines ihrer Mädchen Simone genannt haben. So hat sie wenigstens deinen väterlichen Namen.“

Kurz überlegte mein Vater, ob er meine Mutter verlassen und mit einer anderen Frau mit dem Kinderkriegen weitermachen sollte, bis ein Sohn dabei herausspringt, doch dann entschied er sich, bei meiner Mutter zu bleiben und stimmte beidem zu: nämlich es bei fünf Kindern zu belassen und mich Klause zu nennen.

Erstaunlich, wie leicht Ihren Eltern das Kinderkriegen fiel, sagte ich. Sie wirken auf mich in Ihrer Erzählung, trotz der Sohn-Problematik, wie ein verständnisvolles und zufriedenes Paar. Was macht nun Sie als Tochter dabei so unglücklich?

Ich weiß nicht, sagte Klause. Ich fühle mich einfach unglücklich. Ich suchte mein Unglück in meinem Namen. Eine Psychologin meinte, Klause bedeutet Enge – ob es denn bei meiner Geburt recht eng zugegangen sei? Ich fragte meine Mutter, sagte Klause, und sie meinte: „Nein, wieso denn? Da kamen doch vorher schon vier andere raus.“ Ein anderer Psychologe meinte, Klause ist ein altes Wort für Einsiedelei – ob denn Einsamkeit eine große Rolle spielt in meinem Leben? Nein, sagte ich, ich bin mit vier älteren Geschwistern aufgewachsen, die jung genug waren, um Spielgefährten zu sein, sagte Klause, als sich plötzlich Huckleberry zu Wort meldete und meinte, in seinem Leben spiele sie dafür eine große Rolle, die Einsamkeit.

Sind Sie Einzelkind? fragte ich.

Ja, sagte Huckleberry, ich bin Sohn einer Amerikanerin und eines Deutschen. Um ihr Heimweh zu lindern, wollte mir meine Mutter einen amerikanischen Namen geben. Mein Vater, Horst Hackl sein Name, gestand meiner Mutter das zu.

Sie heißen also Huckleberry Hackl?

Ja. Allein schon wegen meinem Namen zum Außenseiter erkoren.

Ich wusste nicht, was ich weiter sagen sollte, sagt Uteto Fritz, also ließ ich der Stille ihren Raum. Das junge Paar, so mein Eindruck, war bedrückt von der Stille. Huckleberry wechselte von einer Verlegenheitsgeste in die andere, während Klause mich erwartungsvoll ansah, auf dass ich endlich die Stille beende. Ich dachte jedoch nicht daran, im Gegenteil – ich fand die Stille sehr wohltuend, bis es schließlich aus Klause herausplatzte: „Und das Schlimmste ist: Ich bin schwanger. Stellen Sie sich vor, es wird ein Junge – sollen wir ihm wieder einen amerikanischen Namen geben Huckleberrys Mutter zuliebe, obwohl Huckleberry ihm so gerne einen deutschen Namen geben würde? Oder es wird ein Mädchen! Meine Schwestern haben noch keine Kinder. Können wir meinem Vater das antun, dass sein erster Enkel wieder ein Mädchen wird?“

Für einen Moment dachte ich, nun sollte wieder Stille einkehren, sagt Uteto Fritz, doch dann ergriff ich selbst das Wort und sagte: Das Schöne ist, dass Sie beide, Huckleberry und Klause, sich lieben. Es ist was es ist, sagt die Liebe, sagt Erich Fried in seinem berühmten Gedicht. Und das ist doch, was zählt.

Ja, aber.., sagte Klause, und ich fuhr streng dazwischen und sagte: Ich möchte, dass ihr jetzt für fünf Minuten still seid! Kein Wort!

Klause sah mich entgeistert an, während Huckleberrys Gesichtsausdruck eine Mischung aus Skepsis und Erleichterung war.

Da saßen wir nun zu dritt in der Stille. Nach etwa drei Minuten fing Klause zu weinen an, und mit kurzer Verzögerung weinte auch Huckleberry. Was raus muss muss raus, dachte ich mir, sagt Uteto Fritz. Endlich kommt es raus! Dann legte ich Matten auf den Boden, wir legten uns auf sie und lagen über eine halbe Stunde schweigend da. Als wir uns verabschiedeten, urarmten mich Huckleberry und Klause lang und innig. Ich glaube, ich habe Liebe gespürt, sagt Uteto Fritz.

Wie aus vererbter Angst Miserablismus wird

Es gibt etwas, sagt Vorderbrandner, das ich vererbte Angst nenne. Es steckt in mir und in vielen anderen in diesem Land. Über die vererbte Angst in mir kann ich Folgendes sagen: Mein Urgroßvater hat große Angst erfahren im Ersten Großen Krieg und sie in die Familie eingebracht. Mein Großvater war erster Erbe der Angst meines Urgroßvaters, um dann selbst die große Angst im Zweiten Großen Krieg zu erfahren. Mein Vater war dann Erbe der Angst aus zwei großen Kriegen, ohne selbst diese große Angst zu erfahren. Er hatte sie im Blut. Das Konzept der großen Angst dominierte sein Leben. Ein anderes Konzept kannte er nicht. Es klingt fatal und es ist auch so: Er sollte das Konzept der großen Angst bis zu seinem Tod nicht aus sich herausbekommen.

Dann kam ich als nächster Angst-Erbe, der nicht den geringsten Hauch der tatsächlichen großen Angst im Krieg selbst erlebt hat. In den 1980er-Jahren, dem Jahrzehnt meiner Kindheit, sangen viele andere von der Angst, zum Beispiel Die Schmidts und die Jungs aus der Tierhandlung. Am Ende dieses Jahrzehnts, am Beginn meines Übergangs zum Erwachsenwerden, veröffentlichten die Jungs aus der Tierhandlung ein Lied namens Miserablismus, das so einprägsame Aussagen enthält wie: Verneine Glück als eine Option und du wirst nicht mehr enttäuscht sein! Liebe ist ein unmöglicher Traum. Dein Leben ist als Drama inszeniert: Jede Vorstellung hat kein glückliches Ende aber eine deprimierende Botschaft. Blicke um der Sache willen immer finster drein (Angst! Angst! Angst!), das zeigt der Welt deine Substanz und Tiefe! Das Leben ist ein unmöglicher Entwurf und Liebe ein nicht wahrnehmbarer Traum. Es wird die Philosophie des sogenannten Miserablismus entworfen, eine Art Manifest der kultivierten Angst. Und diese Philosophie wurde meine Religion für mein beginnendes Erwachsenenleben. Natürlich war mir damals nicht bewusst, dass ich ein Anhänger des Miserablismus geworden war. Es gab für mich einfach kein anderes Leben, so sehr war die große Angst meiner Väter in mir verankert. Leben bedeutete Miserablist sein, nichts anderes. Ich unterfütterte diese Lebensform mit der Musik der Schmidts und der Jungs aus der Tierhandlung. Apropos Schmidts: Vor etwa zehn Jahren wurde mein miserablistisches Elend so groß, dass ich Schmidts-Platten hervorkramte und das Lied Der Himmel weiß wie elend mir zumute ist in Dauerschleife anhörte. Ich war auf dem Höhepunkt des Miserablismus angelangt, musste jedoch erkennen, dass Miserablismus in zu harten Dosen zum Tod führt. In der Todesangst, der scheinbaren Erfüllung jedes Miserablisten, entschied ich mich für das Leben.

Nun war der Gang ins Leben jedoch nicht so einfach, denn die geerbte Angst stand mir hartnäckig im Weg, wie ein großer und steiniger Berg. Trotzdem begab ich mich auf Wanderung, kletterte über steile Hänge und kroch durch dunkle Höhlen, weil ich eine Ahnung von dem bekommen hatte, was ein Leben ohne geerbte Angst sein könnte. Angst an sich, sagt Vorderbrandner, ist ein gutes lebenserhaltendes Gefühl, zum Beispiel die Angst vor dem Tod im Krieg. Wenn sich die Angst jedoch im Körper festsetzt wie Krebs, ohne ersichtlichen äußeren Grund, wird sie zum lebenszersetzenden Albtraum.

Es war ein harter Weg über und durch diesen steinigen Berg. Auf steilen Hängen und in dunklen Höhlen begegnete ich dem Manifest meines bisherigen Lebens, dem Lied Miserablismus der Jungs aus der Tierhandlung. Wie magisch angezogen tauchte ich tief ein in die Tiefen dieses Lieds. Bei diesem Tiefgang entdeckte ich, dass im Refrain gesungen wird: Miserablismus ist und ist nicht, und im Mittelteil: Aber wenn „ist“ nicht war und „ist nicht“ war, dann kannst du nicht sicher sein: Aber du könntest große Freude finden. Eine Logik, die für mich plötzlich sehr logisch war, obwohl ich sie so viele Jahre überhört hatte. Jetzt war mir klar: Die Jungs aus der Tierhandlung singen gar keine Hymne auf den Miserablismus, sondern eine Persiflage auf die Lieder des Elends der Schmidts. An diesem Tag, auf dem steilen Hang am Eingang zur dunklen Höhle, erkannte ich den Miserablismus als verwerfungswürdiges Konzept und begann voll Zuversicht an ein Leben zu glauben, in dem ich große Freude finden kann. An ein freies und selbstbestimmtes Leben jenseits der vererbten Angst, sagt Vorderbrandner.

Abschied ist ein Schaf so schwer

Ich spielte mit meinen Kindern im Wohnzimmer, sagt Mitterbichler, da kamen meine Schwiegereltern noch einmal herein für den Moment, vor dem sie sich eigentlich drücken wollten: Gleich würden sie zum Bahnhof fahren und in einen Zug einsteigen, der sie nachhause nach Bremen bringt. Sie drückten ihre Enkel, meine Schwiegermutter sehr körperlich, mein Schwiegervater mehr in Gedanken. Meine Schwiegermutter meinte, es hätte schlimmer kommen können: Amerika, Australien, zum Beispiel. Da ist es doch ein Glück, dass es nur München geworden ist. München – Bremen, das ist doch eigentlich keine Entfernung in der heutigen Zeit. Und trotzdem: Abschied ist ein Schaf so schwer, sagte meine Schwiegermutter, um dem Schmerz mit Humor zu begegnen, sagt Mitterbichler.

Als sie das sagte – Abschied ist ein Schaf so schwer – kamen Erinnerungen in mir hoch, sagt Mitterbichler. Erinnerungen an Abende auf dem Sofa, als Kind, als im Fernsehen die ZDF-Hitparade lief mit Dieter-Thomas Heck und Roger Whittaker Abschied ist ein scharfes Schwert sang. Zu dieser Zeit starb mein Großvater, der Vater meiner Mutter, meint Mitterbichler daraufhin: Ich spürte die Traurigkeit zuhause im Wohnzimmer, wo die Familie versammelt war. Ich stellte mich auf einen Stuhl, als eine Art Bühne, und sang voller Inbrunst Abschied ist ein scharfes Schwert. Ich glaube, es war das erste eigene Konzert das ich gab, als damals Achtjähriger. Meine Mutter weinte hemmungslos, sagt Mitterbichler.

Später, als Student, trat ich mit meiner Band auf Festen und Bällen auf, wo wir Schlager interpretierten, um Geld zu verdienen. Bald kam mir die Idee, Abschied ist ein scharfes Schwert als Schlusslied bei diesen Festen und Bällen zu spielen. Wir probten das Lied. Unser Bassist und unser Schlagzeuger waren sehr gelangweilt wegen der Eintönigkeit ihrer Linien in diesem Lied. Ich versuchte dem zu begegnen, indem ich es mit dem Whittakerschen Akzent ziemlich übertrieb und hatte großen Spaß dabei. Oder war der Spaß nur so groß, weil so großer Ernst dahinter war? Zwischen Konsti, meiner ersten großen Liebe, und mir kriselte es damals nämlich gewaltig. Außerdem wollte sie nach Göttingen zum Studieren. Ein Abschied stand im Raum. Bei den Proben war ich deswegen einmal so durcheinander, dass ich statt scharfes Schwert Schaf so schwer sang. Abschied ist ein Schaf so schwer waren seitdem geflügelte Worte innerhalb der Band. Scheinbar auch in Bremen. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass meine geflügelten Worte von meiner Schwiegermutter zitiert wurden, sagt Mitterbichler.

Als wir für einen großen Ball engagiert wurden, beschlossen wir, das Lied zum ersten Mal vor Publikum zu spielen. Ich setzte mir eine große Brille auf, wie Roger Whittaker sie immer trug, und versuchte, seinen schmachtenden Akzent so gut wie möglich nachzuahmen. Konsti und Kathi waren als Backgroundsängerinnen dabei, obwohl Konsti und ich uns gerade getrennt hatten. Da flossen bei mir die Tränen hinter der dicken Brille, sagt Mitterbichler.

Meine Schwiegermutter drückte ihre Enkel noch einmal an sich, während mein Schwiegervater die Wohnung schon verlassen hatte. Es ist anzunehmen, dass er im Treppenhaus, wo er wartete, ein paar stille Tränen verdrückte, sagt Mitterbichler. Da war er also, der Moment des Abschieds. Opa Oma Bahnhof, sagte meine Tochter zu mir, als wir am Fenster standen und den beiden nachsahen und winkten. Als wir sie nicht mehr sahen, nahm ich meine Gitarre und gab ein kleines Konzert, wie in alten Zeiten:

Die Welt in schwarz und bunt

Da kommt mir also folgender Satz in den Sinn: Ich sehe eine rote Tür, aber sehen will ich sie schwarz, und ich weiß nicht, ob es bloß ein musikalisches Zitat ist oder ein ernstzunehmender Gedanke, denn es fühlt sich an wie eine Wahrheit.

Allmählich, ganz langsam und schleichend, übernimmt das musikalische Zitat die Macht über mich und ich entgleite mir und meinem Leben. Die Menschen auf der Straße sind nicht schön in meiner schwarzen Welt, im Gegenteil, sie öden mich an, speziell die Frauen, die ich speziell verachte, und nun, als ich mich so in meiner schwarzen Welt bewege, fällt mir Josefine ein, und ich verachte sie umso mehr, noch mehr als alle anderen, und ich kann nicht verstehen, wie ich jemals an unsere Beziehung glauben konnte.

Es fällt mir schwer, diese Geschichte nun weitererzählen, denn meine Welt wird immer schwärzer und man möchte meinen, dass es nicht mehr viel zu erzählen gibt. Doch als meine Welt am wohl schwärzesten Punkt angelangt ist, beschleicht mich plötzlich eine Ahnung, dass es auch eine andere Welt als die schwarze geben könnte. Diese Ahnung hat es schwer gegen meinen festen Glauben an die schwarze Welt, denn so schwarz die schwarze Welt auch ist, sie bietet mir Schutz gegenüber dieser anderen Welt die ich vermute, und ich vermute sie bunt und mein schwarzer Glaube malt lauter Gefahren in diese bunte Welt.

Nichtsdestotrotz – im Nachhinein ist es wie ein Wunder – entwickelt sich diese Ahnung von einer bunten Welt zu einer Neugier, die mich beschließen lässt, jeden Tag ein Stück der bunten Welt zu entdecken, bevor ich mich nachts wieder in die schwarze Welt zurückziehe, um mich auszuruhen von meinen Entdeckungen in der bunten Welt. Auf meinen täglichen Streifzügen gehe ich zunächst, um es mit den Farben nicht zu bunt zu treiben und mein schwarzes Gemüt nicht zu überfordern, über grüne Wiesen. Ich bestaune die Gräser an meinen Füßen. Bald getraue ich mich, zum Himmel hochzublicken und das Blau zu bestaunen, das ich bei diesem Hochblicken wahrnehme. Bei einem meiner Streifzüge komme ich schließlich an eine Wiese, die mir besonders gut gefällt. Ich lege mich in das Gras dieser Wiese. Im Liegen sind die Gräser neben mir noch grüner und der Himmel über mir noch blauer. Ich stehe wieder auf und beschließe, die Wiese, die mir so besonders gut gefällt, weiter zu erkunden, denn nun fühle ich mich bereit, nach dem Grün der Gräser und dem Blau des Himmels die Wiese nach bunten Blumen zu durchsuchen.

Bei diesem Suchen kommt eine Frau in mein Blickfeld. Sie liegt in der Wiese zwischen den Gräsern. Meine Neugier treibt mich, ich nähere mich der Frau zwischen den Gräsern. Beim Näherkommen bemerke ich, dass die Frau zwischen den Gräsern Josefine ist. Ich bekomme heftiges Herzklopfen. Es ist ein neues Gefühl, Josefine in der bunten und nicht in der schwarzen Welt zu begegnen. Meine Neugier darüber, wie es ist, Josefine in der bunten Welt zu begegnen, ist größer als alle meine Sorgen und Bedenken, die ich aus der schwarzen Welt kenne, ja ich glaube so ist es, denn ich gehe freudig auf sie zu und setze mich zu ihr ins Gras. Wir sitzen im Gras und erzählen uns von unseren Sorgen und Nöten, von unseren Freuden und Glücksmomenten, und die Welt – im Nachhinein ist es wie ein Wunder – hört nicht auf, bunt zu sein.

Josefine sagt, sie hatte sich bereits entschlossen, fortzugehen, sie war innerlich schon fort, doch vor ein paar Tagen hat sie entschieden, hier zu bleiben.

Dann bist du ja neu hier! sage ich und stelle fest, dass Josefine zwar aussieht wie immer, aber sich in meinen Augen verändert hat. Ich glaubte sie zu kennen, aber jetzt merke ich, dass ich sie nicht kannte und dass ich sie gerade neu kennenlerne.

Ich habe mir angewöhnt, jeden Tag als etwas Neues zu betrachten, sagt Josefine, als die Sonne schon tief hinter ihr steht.

Deine Haare waren nie blonder und die Sonne nie goldener als jetzt, und obwohl es nicht regnet, leuchtet alles um dich herum in den Farben eines Regenbogens, sage ich, und wieder weiß ich nicht, ob mich lediglich in musikalischen Zitaten bewege, doch es ist zu vermuten, dass dieses musikalische Zitat eine Annäherung an das ist, was ich als meine bunte Welt erlebe.

 

Der Buchhalter, dem sein Geld nichts mehr wert war

Auf der Suche nach unumstößlichen, über alles erhabenen Werten landete ich beim Geld. Ich zählte es, ich führte Listen über seine Bestände und Bewegungen. Allen Dingen maß ich einen Wert in Geld bei. Es fiel mir schwer, meine Beziehung zu Josefine in Geld zu bewerten. Deshalb beendete ich sie und ging dazu über, Frauen zu kaufen. Ich hatte einen unkalkulierbaren Posten entfernt und einen neuen geschaffen, den ich mit klar definiertem Wert in meine Geldbilanz aufnehmen konnte.

Ich kam an den Punkt, an dem ich absolut überzeugt war vom unumstößlichen, über alles erhabenen Wert des Geldes. Stolz betrachtete ich meine Bilanzen, die ich als Altare der Wahrheit bezeichnete. Mein ganzes Leben opferte ich, um bei ihnen Halt zu finden.

Es trieb mich immer weiter zum Geld, so weit, dass ich begann, es intensiv zu studieren. Bei meinen Studien stieß ich auf die Inflation, also auf das Phänomen, dass Geld nichts mehr wert ist. Es gibt also tatsächlich die Möglichkeit, dass Geld nichts mehr wert ist; eine Möglichkeit, die bisher in meinem Denken undenkbar war. Mich beschlich die Ahnung, dass Geld nur den Wert hat, den man ihm beimisst und den man glaubt, dass es hat. Ansonsten, wenn man das nicht glaubt, ist es nur aufwändig bedrucktes Papier. Anfangs sträubte ich mich, dieser Ahnung nachzugehen, doch schließlich beschlich sie mich so stark, dass der Grundwert meiner Existenz, der Wert des Geldes, wertlos wurde. Ich saß melancholisch über eine Stunde lang bewegungslos da, mit einem Zwanzig-Euro-Schein in der Hand. Ich betrachtete den Schein von allen Seiten, bis ich ihn schließlich zerriss und in den Müll warf. Eine Welt ohne Wert, in die ich nun geraten war.

Um Trost in dieser Trostlosigkeit zu finden, ging ich zu einer käuflichen Frau. Ich sagte ihr jedoch, dass ich nicht mehr an das Geld glaube und ich sie heute nicht bezahlen werde. Daraufhin verweigerte sie mir ihre Dienste. Das Geld hatte für sie nicht seinen Wert verloren, musste ich erkennen. Ich schlich von dannen, als mich wieder eine Ahnung beschlich: Es gibt wohl doch noch andere Werte als Geld, die ich aber allesamt für das Geld geopfert habe. Eine unheimliche Schlucht tat sich plötzlich vor mir auf, eine Welt ohne Geld, die ich mir bis eben nicht hatte vorstellen können. Ich fiel ins Bodenlose, das mich jedoch, zu meiner Überraschung, erstaunlich sanft in seinen Händen trug, so als warteten in diesem Bodenlosen Werte, die es für mich zu entdecken gilt.

Der tägliche Kampf gegen den Faschismus

Matjaz sagt: Ganz Europa besteht aus Faschisten. Immer wieder sagt Matjaz das. Dazwischen sagt er shit und fuck und dann sagt er wieder: Ganz Europa besteht aus Faschisten. Matjaz sagt nicht, was er unter einem Faschisten versteht. Ich will ihn fragen, was er unter einem Faschisten versteht. Aber ich traue mich nicht, weil er so in Rage ist. Shit! Fuck! Faschisten! dröhnt es an mein Ohr. Matjaz muss ein Faschist sein, denke ich. Sonst könnte sein Kopf nicht so voll sein von diesem Wort.

Ich versuche, mir in meinem Kopf Klarheit zu verschaffen: Wenn ich an einen Faschisten denke, denke ich an jemanden, der anderen Vorwürfe macht, um von sich selbst abzulenken. Ist das auch, was Matjaz unter einem Faschisten versteht? Oder meint er etwas ganz anderes? Ich weiß es nicht, weil ich ihn nicht frage, nehme also an, dass er das meint.

Matjaz beruhigt sich, aber nur ein wenig, und sagt: Ganz Europa besteht aus Faschisten. Mit Ausnahme der Deutschen, die dürfen keine Faschisten mehr sein. Weil sie die Schuld haben. Die Deutschen haben es mit den Vorwürfen an die Juden übertrieben, seitdem dürfen sie keine Faschisten mehr sein, obwohl sie gerne welche wären. Die Schuld klebt an ihnen. Stalin konnte im Windschatten der Judenvernichtung und unter dem Deckmantel des Kommunismus die Nachfolge Hitlers antreten. Seitdem besteht ganz Osteuropa aus Faschisten.

Krasser Vortrag! Was sagt Matjaz? Matjaz ist Slowene, der deutsch spricht. Er schreit es heraus: Slowenen! Faschisten! Aber auch Italiener, Spanier, Franzosen, Briten – alles Faschisten! Matjaz redet sich in Rage: Österreicher – Faschisten! Kärntner – die größten Faschisten, vor allem gegen die Slowenen! Kärntner – faschistische Arschlöcher! schreit Matjaz mit einer schrecklichen Fratze im Gesicht.

Matjaz macht eine Pause. Atmet durch. Dann sagt er: Ich bin Faschist. Matjaz klagt sich an und spricht sich schuldig. Matjaz ist Faschist gegen sich selbst. Gefangen im Selbstfaschismus. Ist Selbstfaschismus der erste Weg zur Selbsterkenntnis, oder ist er noch fataler als Fremdfaschismus?

Matjaz hört mir nicht zu als ich sage: Ich bin auch Faschist. Oft genug mache ich anderen Vorwürfe, um von mir selbst abzulenken. Täglich mache ich das. Wenn ich den Faschisten in mir bemerke, halte ich inne und sage zu ihm: Lieber Faschist! Ich weiß, dass du Angst hast, Angst vor dir selbst. Halte sie aus, diese Angst, sie wird vergehen! Es ist gut, wie du bist, genauso wie alle anderen gut sind, wie sie sind. Habe Mut zum Leben, wie es ist! Schau es an, und du wirst dich mit ihm versöhnen! Vertrau! Hier also beginnt der Kampf gegen den Faschismus: Bei mir selbst, und nirgends sonst. Alles Faschisten. Aber der einzige Faschist, den ich ändern kann, bin ich. Hoffentlich!

Matjaz hat sein Gesicht in seine Hände fallen lassen. Ich möchte Matjaz gerne umarmen. Es drängt mich dazu. Andererseits weiß ich nicht, ob Faschisten sich umarmen lassen.

#DesmondandMollyJones

Es ist unglaublich, wie bekannt die Geschichte von Desmond und Molly Jones ist, obwohl sie kaum jemand kennt. Ich will sie kurz, in all ihrer sozialkritischen Schärfe, erzählen:

Desmond betreibt einen kleinen Stand am Markt #Kapitalist. Molly singt in einer Band #Kreativ. Desmond sagt zu Molly: Du gefällst mir sehr. Molly sagt das auch zu ihm und nimmt seine Hand #RomantischeLiebe.

Desmond geht zum Juwelier und kauft einen goldenen Ring #Materialist. Molly wartet zuhause #Hausfrau, und als Desmond ihr den Ring gibt, fängt sie zu singen an #Reichtum.

Nach ein paar Jahren haben sich die beiden ein eigenes Heim gebaut #Zersiedelung. Ein paar ihrer Kinder rennen auf dem Hof herum #Übervölkerung.

Fröhlich geht es zu auf dem Markt #Kapitalismusverherrlichung. Desmond lässt sich am Stand von den Kindern helfen #Kinderarbeit. Molly bleibt zuhause und macht sich schön #ÄußereZwänge. Am Abend singt sie noch immer in der Band #Kreativ.

Die Geschichte von Desmond und Molly Jones ist nicht von mir, sondern von Paul McCartney. Als begnadeter Musiker hat er sie in ein Lied gepackt, nahm seine Gitarre und spielte sie den anderen Beatles in getragener und bedächtiger Weise vor, um ihre Bedeutung und Dramatik zu unterstreichen. John Lennon und George Harrison fanden McCartneys Vortrag furchtbar und verließen aus Protest das Studio. So viel Sozialkritik auf einmal hält kaum jemand aus! McCartney ärgerte sich maßlos und verließ ebenfalls das Studio, bestand jedoch auf der Aufnahme des Lieds.

Später kehrte Lennon alleine ins Studio zurück. Er setzte sich ans Klavier und klimperte hastig darauf herum. Nach und nach kamen die anderen auch zurück. Teil von Lennons Geklimper wurde schließlich der neue Auftakt des Lieds. McCartney, von den anderen genötigt, seine akustische Gitarre zur Seite zu legen und das Lied in höherem Tempo als von ihm vorgeschlagen zu spielen, nahm seinen Bass und rotzte ihn recht eintönig dahin. Er war frustriert von der Entstellung seiner Geschichte, aber von ihrer Wichtigkeit nach wie vor überzeugt und ließ sich auf die musikalischen Kompromisse ein. So klimperten und schepperten und alberten sich die Beatles durch den Song, bis das herauskam, was wir heute kennen:

#Obladioblada (yorubisch: Es kommt, wie es kommt).

Bei aller Sozialkritik in der Geschichte von Desmond und Molly Jones stimmt der eingeschobene Chorus optimistisch: Es kommt wie es kommt, das Leben geht weiter. Brah! #Optimismus #Freude